Almila Bagriacik und Sherry Hormann

Eine Jeanne d’Arc der Berliner Hinterhöfe

Im Jahr 2005 wurde die Berlinerin Hatun Sürücü von ihrem Bruder erschossen, weil sie vermeintlich die Familienehre verletzt hatte. In dem Film "Nur eine Frau" erzählt Regisseurin Sherry Hormann nun Sürücüs Geschichte. Hauptdarstellerin Almila Bagriacik und Hormann sprechen im Interview über die besondere Perspektive ihres Films, Dreharbeiten „unter dem Radar“ und warum sie den Begriff „Ehrenmord“ ablehnen.

Almila Bagriacik und Sherry Hormann

Die 1960 in den USA geborene Sherry Hormann gehört zu den renommiertesten Regisseurinnen des deutschen Films. Neben TV-Krimis wie „Bella Block“ und Komödien wie „Irren ist männlich“ zählen die Adaption der Autobiografien von Waris Dirie und Natascha Kampusch, „Wüstenblume“ und „3096 Tage“, zu ihren bekanntesten Arbeiten. Nun erzählt sie in „Nur eine Frau“ erneut eine wahre Geschichte, die der 2005 vom eigenen Bruder erschossenen Berlinerin Hatun Sürücü. Sie wird gespielt von Almila Bagriacik. Die 1990 in Ankara geborene Schauspielerin ist in Berlin aufgewachsen. Sie sorgte u.a. in der Mini-Serie „4 Blocks“ für Aufsehen und ist seit 2017 als Kommissarin im Kieler Tatort zu sehen.  „Nur eine Frau“ läuft seit dem 9. Mai in den Kinos.

Almila Bagriacik, im Februar 2005 waren Sie 16 Jahre alt. Wie haben Sie von dem Mord an Hatun Sürücü erfahren?

Bagriacik: Meine Eltern arbeiteten damals beide als Journalisten. Sie haben immer von ihren Erlebnissen zuhause berichtet und mich darüber aufgeklärt, was alles in der Welt passiert. Sie waren der Meinung, dass ich das alles wissen muss.

Wie haben Sie reagiert?

Bagriacik: Als ich von dem Mord an Hatun Sürücü erfahren habe, hat es mich total erschüttert und ich habe abgeblockt und gesagt: Ich bin nicht so wie die. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich war damals noch damit beschäftigt zu beweisen, dass es auch andere Ausländer gibt, dass es auch Türken gibt, die liberal sind, die gutes Deutsch sprechen können, und, und, und. Aus dieser Reaktion heraus habe ich dieses Thema tatsächlich nicht an mich herangelassen.

Wann hat sich Ihre Haltung geändert?

Bagriacik: Einige Jahre später habe ich nochmal aufgemacht und mich damit auseinandergesetzt. Man soll dieses Thema nicht totschweigen, nur weil man selbst so einer Tradition nicht folgt. Keiner will hier alle in einen Topf schmeißen. Es geht in erster Linie um das Leben dieser Frau, das man ihr kaltblütig weggenommen hat. Und das mitten in Berlin.

Zitiert

Wir erzählen kein Opfer, es ging nicht um betuliche Betroffenheit.

Almila Bagriacik und Sherry Hormann

Sherry Hormann, wie haben Sie im Februar 2005 von dem Mord an Hatun Sürücü erfahren?

Hormann: Ich war tatsächlich an einem Ort, an dem wir jetzt auch gedreht haben, auf der Skalitzer Straße in Berlin Kreuzberg, mit dem Auto. Ich erfuhr es aus dem Radio. Ich schaute raus auf die Straße und dachte: Wer von euch? Das hat mich sehr aufgebracht und mich hat enorm geärgert, dass damals immer von einem „Fall“ gesprochen wurde und nicht von einem Menschen, oder einer Frau. Ich musste auch an ihr Kind denken: Was ist jetzt mit dem? Ich war vor kurzem erst nach Berlin gezogen und dachte: Wo lebe ich hier eigentlich?

Die TV-Journalistin und Produzentin Sandra Maischberger hat Ihnen schließlich angeboten, das Leben von Hatun Sürücü zu verfilmen. Wie war Ihre erste Reaktion?

Hormann: Ich habe gesagt: Da gibt’s schon einen Film drüber. Sie sagte: Ja, aber ist das ein Grund nicht nochmal einen Film zu drehen?

Sie meinen „Die Fremde“ von Feo Aladağ aus dem Jahr 2010, der zum Teil von Sürücüs Geschichte inspiriert war?

Hormann: Genau. Das ist ein wunderbarer Film. Ich brauchte mehrere Anläufe um zu überlegen: Was kann der richtige Ansatz sein, um heute so einen Film zu machen?

Die Antwort gibt jetzt ihr Film. In „Nur eine Frau“ lassen Sie Hatun Sürücü selbst aus der Rückschau ihre Geschichte erzählen, konsequent aus der Ich-Perspektive.

Hormann: Genau. Es ging darum, dieser Frau eine Stimme zu geben.

Bagriacik: Wenn jemand stirbt, hat jeder eine Meinung über diese Person. Es gibt etliche Dokus, in denen Hatuns Familie zu Wort kommt. Aber sie selbst kann nichts mehr zu ihrem Leben sagen. Es wird nur noch über sie gesprochen. Deswegen fand ich es so besonders, dass wir ihr diese Voice-Over-Stimme gegeben haben, dass sie wirklich ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, ihre Geschichte erzählen kann.

Die Namen der sonstigen Beteiligten wurden für den Film geändert, Hatun Sürücüs Name nicht. Zumeist wird ihr Rufname Aynur verwandt. Grenzt es nicht an gewagte Spekulation, einer Verstorbenen Worte in den Mund zu legen?

Hormann: Nicht in unserem Fall.

Bagriacik: Wir haben ihre Sichtweise ja nicht frei erfunden. Sie ist durch lange Gespräche belegt, die u.a. mit Aynurs Freundin geführt wurden. Ergänzend wurde mit ihrem damaligem Freund, mit ihrem Ausbilder, mit Mitarbeitern des Jugendamtes und der Anwältin der Kronzeugin gesprochen. All das hat uns die Möglichkeit gegeben, Aynurs subjektive Sicht auf die Dinge einzunehmen.

Hormann: Das Drehbuch von Florian Oeller hält sich streng an die Gerichtsunterlagen. Zudem erlaubt uns diese Erzählperspektive eine andere Frechheit. Wir erzählen ja kein Opfer, es ging nicht um betuliche Betroffenheit, in die man auch ganz schnell abrutschen kann, in der Inszenierung und im Schnitt. Wir erzählen eine Kriegerin, eine Jeanne d’Arc der Berliner Hinterhöfe, die sagt: Was immer ihr mir antut, ich suche mir einen neuen Weg!

Der Film verwendet unter anderem auch private Fotos und Videoaufnahmen der echten Aynur…

Hormann: Ja, diese real existierenden Aufnahmen vermengen sich nahtlos mit inszenierten Szenen zu einem „dokumentarischen Spielfilm“. Mich hat seit geraumer Zeit gereizt, eine Inszenierung zu finden, die dem Dokumentarischen sehr nahekommt. Hier ging es darum, sich einzufühlen in diese junge Frau, als wäre man mittendrin in ihrer Geschichte.

Bagriacik: Zugleich wird der Film durch seine verschiedenen Mittel auch nicht so melodramatisch und schwer. Es ist wie episches Theater. Ich glaube, auf diese Weise so ein Thema zu erzählen funktioniert sehr gut. Man kann dadurch die Menschen leichter erreichen.

Almila Bagriacik als Aynur in "Nur eine Frau" © Mathias Bothor

Almila Bagriacik als Aynur in „Nur eine Frau“ © Mathias Bothor

Almila, Sie sprechen im Film den Voice-Over-Text als Aynur auffallend nüchtern, geradezu sachlich. Wie ist Ihnen das gelungen?

Bagriacik: Dafür haben wir drei Anläufe gebraucht. Einmal vor dem Dreh, einmal während des Drehs und dann haben wir tatsächlich erst nach dem Filmschnitt die richtige Art und Weise gefunden. Für mich persönlich war es sehr schwer, meine eigene Meinung, meine eigene Trauer, Wut, mein Mitleid wegzupacken und einzusperren, dieser Figur ganz pur zu begegnen und mich ihr anzunehmen. Es unkommentiert zu lassen war für mich das Schwerste, sowohl beim Spielen als auch beim Voice Over. Das habe ich dank Sherry geschafft. (lacht)

Man könnte sich vorstellen, dass es Ihnen gerade nach Ihren Erfahrungen bei den Dreharbeiten schwerer fiel, die eigenen Gefühle außen vor zu lassen. Warum war dem nicht so?

Bagriacik: Weil ich da schon alles gesehen und, ich sage das mal vorsichtig, am eigenen Leib „erfahren“ hatte. Die Zeit, die zwischen den Dreharbeiten und den Aufnahmen des Voice-Overs verging, hat mir dann auch nochmal geholfen, Abstand zu gewinnen. Ich lag auf derselben Straße wie Aynur damals und als man das Leichentuch über mich zog fragte ich mich: „Was jetzt? Was kommt als nächstes?“ und der Drang ihre Geschichte zu erzählen und das Wort für Wort, wurde größer.

Hormann: Almila ist beim Drehen wirklich sehr in diese Figur eingestiegen. Es gab Momente, in denen ich erschrocken bin, wo ich dachte, ihre Rolle und ihr eigenes Empfinden sind jetzt fast wie eine Einheit. Es waren sehr intensive Dreharbeiten, zumal sie auch unter dem Radar stattfanden.

Was bedeutet „unter dem Radar“?

Hormann: Es wusste keiner, dass wir drehen. Das war uns sehr wichtig. Es gibt eben eine große Sensibilität bei dem Thema, zumal wir an den ganzen Originalschauplätzen gedreht haben, etwa am Kottbusser Tor. Da will man einfach in Ruhe arbeiten und zum Beispiel auch keine Presse an das Set einladen.

Bagriacik: Bei Geschichten über wahre Begebenheiten sollte man immer unterm Radar drehen. So war das auch bei der NSU-Trilogie.

Sie haben in der ARD-Produktion „Mitten in Deutschland“ Semiya Şimşek, die Tochter des ersten Mordopfers der NSU gespielt.

Bagriacik: Genau. Sobald man es mit einer wahren Geschichte zu tun hat, ist es das Beste, sich auf das Quellenmaterial zu fokussieren, eine gemeinsame Sprache zu finden und sich nach Außen hin einfach abzuschotten.

Gegenüber den Anwohnern dürfte es allerdings schwer gewesen sein, zu verheimlichen, welchen Film Sie gerade drehen.

Hormann: Ja, wir haben auch in dem Wohnblock in Berlin Tempelhof gedreht, wo Aynur gelebt hat. Ersteinmal haben wir niemandem erzählt, was wir machen. Aber jeder wusste es schon, das war ganz verrückt. Da stand plötzlich eine junge Mutter vor mir und es stellte sich heraus: Sie war ganz eng mit Aynur befreundet. Oder im Zeitungsladen gegenüber hieß es: Ich kannte sie gut. Meine Tochter und sie waren befreundet. Darüber Informationen zu bekommen, bedeutete mir viel. Zum Beispiel ging Almila in einer ganz normalen Szene die Straße entlang und auf einmal bestätigen ganz viele: Ja, genauso ist sie gegangen, voller Lebensfreude. Diesen Begriff haben ganz viele eng mit ihr verknüpft.

Als ich zum ersten Mal eine Ankündigung von „Nur eine Frau“ las, dachte ich spontan: Warum macht das eine deutsche Produzentin, ein deutscher Drehbuchautor und eine deutsche Regisseurin ohne Migrationshintergrund? Können Sie solche Bedenken verstehen?

Bagriacik: Ganz am Anfang, als ich zum Casting für dieses Projekt ging, war ich sehr vorsichtig. Ich habe mich gefragt, ob ich die psychische Belastung, diese Rolle zu spielen auf mich nehmen würde. Und klar, ich habe mir auch die Frage gestellt: Wer dreht diesen Film? Sherry Hormann? Okay. „Wüstenblume“ fand ich fantastisch. Ihren Film über Natascha Kampusch außergewöhnlich. Aber was will sie erzählen? Ich welche Richtung soll das Ganze gehen. Gucken wir jetzt von oben auf die Familie herunter oder erzählen wir die Geschichte einer Frau? Beim Casting wurde mir aber sehr schnell klar, welchen Drive Sherry dem Film geben möchte und dass sie das Ganze viel sensibler beobachtet, als ich es mir hätte vorstellen können.

Wäre es nicht wünschenswert gewesen, dass so ein Film aus der türkischen, oder deutsch-türkischen Filmszene heraus initiiert wird?

Bagriacik: Dieses Thema geht uns alle etwas an, es ist in Berlin passiert. Sandra [Maischberger] hat auch mal ganz schön gesagt „Ich bin Hatun. Sie ist meine Nachbarin, eine Frau in meiner Gesellschaft.“ Das finde ich schön, dass man sich hier auf Augenhöhe begegnet und dass diese Nähe so echt und spürbar ist. Es ist ja keine Geschichte aus der Sicht von Deutschen. Wir erzählen die Geschichte von Hatun Sürücü, aus ihrer Perspektive.

Hormann: Ich verstehe die Frage eigentlich gar nicht. Die habe ich so oft schon gestellt bekommen. In Afrika bin ich mit Steinen beworfen worden, weil ich weiß bin und mir anmaße, einen Film über Genitalverstümmelung zu machen.

Sie meinen „Wüstenblume“, ihre Verfilmung des autobiografischen Romans von Waris Dirie. Sind Ihnen jetzt ähnliche Vorbehalte auch in Kreuzberg begegnet?

Hormann: Ich musste vor den Dreharbeiten am Kottbusser Tor bei unserer türkischen Security vorstellig werden. Und die erste Frage war: Wo ist das Problem, Frau Hormann? Warum wollen Sie diesen Film machen? Schauen Sie sich an, sie sind eine Frau und deutsch. Ich habe gesagt: Es ist noch schlimmer, ich habe sogar einen amerikanischen Pass!

Regisseurin Hormann © Matthias Bothor

Regisseurin Hormann © Matthias Bothor

Sie wurden in den USA geboren, leben aber seit Ihrem 7. Lebensjahr in Deutschland.

Hormann: So ist es. Aber warum spielt das eine Rolle? Es geht doch um einen Menschen! Es geht doch darum, verstehen zu wollen, aus der Distanz heraus, was ist in Aynurs Familie schiefgelaufen? Schlussendlich geht es um eine Mutter, die auf offener Straße erschossen wird, von ihrem Bruder, den sie mit großgezogen hat. Und zurück bleibt ein fünfjähriges Kind. Ich bin selbst Mutter. Da könnte ich auch sagen: Eine Mutter kann ich besser inszenieren, als ein männlicher Regisseur. Aber nein, ich kann als Frau auch einen Film über einen Mann machen.

Bagriacik: Ja!

Hormann: Ich finde diese Entwicklung schon interessant, auf welche Weise mittlerweile eingefordert wird, dass alles authentisch sein muss…

Sie meinen, Authentizität ist eher eine Frage der Arbeitsweise, weniger der eigenen Biografie?

Hormann: Als wir die ersten Proben gemacht haben, kamen alle Schauspieler zusammen und ich habe gesagt: Passt auf, ich hab‘ keine Ahnung. Erklärt mir doch mal: Wie würdet ihr miteinander umgehen? Zum Beispiel gibt es eine Szene in der Wohnung der Familie, die Eltern sitzen in der Küche am Frühstückstisch. Rauand Taleb, der den jüngsten Bruder Nuri spielt, geht über den Flur ins Bad. Ich wollte, dass er grüßt: Guten Morgen! Wie auf Kommando schauen mich alle an und sagen: Bei uns sagt man nicht: Guten Morgen! – Wenn du Dinge nicht weißt, ist es doch das Tollste, wenn du so ein Regulativ hast. Alle Schauspieler haben irrsinnig viel mit eingebracht. Ich hoffe, dass damit diese Frage beantwortet ist.

Sie haben erwähnt, dass Ihre türkische Security Ihnen zu Beginn skeptisch gegenüberstand. Hat sich diese Einstellung im Laufe des Films geändert?

Hormann: Ja, total. Am letzten Tag hat mir einer ihrer ältesten eine Baumrinde geschenkt, mit einem Satz drauf, den ich zunächst nicht verstanden habe, weil er auf Türkisch war. Aber da stand: In Liebe, Danke! Das hat mich total gerührt. Sie haben mitbekommen, wie wir mit dem Thema umgehen, wie sehr wir uns damit auseinandersetzen. Ich hatte den Head of Security auch gleich am Anfang gefragt: Okay, wir sind hier am Kottbusser Tor. In welche Cafés ist Aynur gegangen? Gleich die erste Einstellung des Films, diese lange Fahrt auf der Straße, da sieht man all die Cafés wo sie ein und ausgegangen ist. Es geht doch nicht darum, eine Meinung zu haben. Vor und hinter der Kamera ging es uns darum, zu erforschen, diese schwierige Reise gemeinsam anzutreten.

Eine der Herausforderungen an dieser Reise sind die Sprachen, die in dem Film gesprochen werden. In einer Szene, in der die 16jährigen Aynur von ihrer Mutter ihr Brautkleid angezogen bekommt, wird zunächst Türkisch gesprochen. Dann kommentiert Aynur auf Deutsch…

Bagriacik: Sie sagt: „Ah, habe ich vergessen. Ihr versteht uns ja nicht, weder unsere Sprache, noch unsere Kultur. Das eine kann man ändern…“

In diesem Moment ändert sich für einen Moment die Sprache der beiden und die Mutter erklärt ihrer Tochter auf Deutsch, welche Regeln sie als Braut zu beachten hat. Der Satz zuvor klingt allerdings niederschmetternd. Ist es für Außenstehende unmöglich, die Kultur von Aynurs Familie zu verstehen?

Bagriacik: Nein, so ist das nicht gemeint. Ich sage ja nicht: Ihr werdet diese Kultur nie verstehen…

Hormann: Deswegen schauen wir uns ja diesen Film jetzt gemeinsam an.

Bagriacik: Genau, den Rest könnt ihr beobachten. Aynur versucht dann ja, die spezielle Kultur dieser Familie zu erklären. Tatsächlich wünschen wir uns ja eine Symbiose der Kulturen.

Hormann: Meinst du eine Symbiose oder ein Miteinander?

Bagriacik: Ein Miteinander. Symbiose wäre ja eher ein Ineinanderfließen.

Hormann: Ich würde sagen, wir wünschen uns die Akzeptanz und ein Miteinander von Kulturen. Das schließt aber auch extreme fanatische Auswüchse aus.

Bagriacik: Ja, auf jeden Fall.

Das heißt ein Akzeptanz der kurdisch-sunnitischen Kultur von Aynurs Familie ist möglich, auch wenn man ihr archaisches Verständnis von „Familienehre“ ablehnt?

Hormannn: Ja, es geht für mich nicht so sehr um diesen kurdisch-sunnitischen Hintergrund. Für mich ist jede Form von Extremismus unerklärlich, seien es religiöse Überzeugungen oder neonazistischer Fanatismus. Jede Form der Rechthaberei finde ich wirklich schwierig.

Bagriacik: Seien es Vegetarier, die einem verbieten Fleisch zu essen…

Hormann: Nichtraucher, die einem sagen: Du kriegst Krebs… (zu Bagriacik) Hab ich dir noch nicht gesagt, dass ich jetzt Veganerin bin?

Bagriacik: Damit hab ich kein Problem, solange du mich Fleisch essen lässt. (lacht) Jeder für sich und alle miteinander.

„Nur eine Frau“ zeichnet sich auch dadurch aus, dass er den Schmerz, den Aynurs Familie durch ihre vermeintliche Entehrung empfindet, durchaus ernst nimmt.

Hormann: Die Frage war natürlich: Wie erzählt man so eine Mutter, wie erzählt man solche Brüder? Am Anfang hatte ich nur Wut. Und dann denkst du plötzlich: Ne, warte mal Sherry. Die haben auch ihre Gründe, du darfst nicht urteilen. Das hat mich teilweise schier zerrissen.

Mussten Sie für sich da eine Brücke bauen und sich fragen: Wie würde ich reagieren, wenn ich am empfindlichsten Punkt meines Selbstwertes, meines Stolzes, meiner Ehre getroffen werde?

Hormann: Ich denke eher, dass man verschiedene Ehrbegriffe unterscheiden sollte. Es gibt eine innere Ehre und eine erlernte, oder eine von der Gesellschaft aufoktroyierte Ehre. Wir sehen in unserem Film Aynurs Brüder Nuri und Tarik boxen. Sie haben Spaß und lachen. Danach gehen sie zusammen in diese salafistische Moschee und werden indoktriniert. Sehe ich den kleinen boxenden Nuri denke ich: Ja toll, wie der sich austobt. Sehe ich ihn in der Moschee, denke ich: Geh‘ doch bitte da raus. Hörst Du eigentlich, was Dir gerade in den Kopf eingesetzt wird?

Ein gesundes Ehrgefühl ist nicht abhängig von dem Verhalten anderer Menschen?

Hormann: Nuris Ehrgeiz, ein guter Boxer zu werden kommt aus seinem Innern. Seine äußere Ehre sagt ihm, was man tut und was nicht. In unserem Sprachgebrauch gibt es zwei Begriffe, die ich wirklich ablehne: „Ehrenmord“ und „Parallelgesellschaft.“ Das ist schon so festgelegt. Was ist das für eine Ehre, zu morden? Gar keine! Aber es ist dein inneres Gefühl, das dich eventuell anfangen lässt, von außen an dich herangetragenen Dinge zu hinterfragen. Wie zum Beispiel diesen Satz, den Sinan, einer der Brüder, in dem Film sagt: Wenn ein Mann seine Frau liebt, hat er das Recht, sie zu schlagen.“ Das ist eine völlig gebräuchliche Redewendung in vielen türkischen Familien.

Bagriacik: Genau. Man sagt: Er liebt sie und er schlägt sie auch. Tatsächlich gibt es das Wort „Ehrenmord“ im ostanatolischen Bereich nicht, dort heißt es „töre cinayeti“, „Familienmord“. Der Begriff „Ehrenmord“ wurde hier diesen Morden zugewiesen.

Hormann: Aus purer Hilflosigkeit, weil wir ja angeblich nichts damit zu tun haben.

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit Ihrem Film? Was sollte er bewirken?

Bagriacik: Ich wünsche mir, dass vor allem die muslimische Community ihre Barriere vor solchen Filmen aufmacht, dass man sich diesen Film wirklich ansieht und auch erkennt, was so ein spezieller Ehrbegriff mit einem machen kann. Ich finde gut, dass dieser Film wirklich sensibel hergestellt wurde, dass er ganz klar differenziert: Auf der einen Seite gibt es die Moschee, in die Aynurs Vater zum Beten hingeht. Dort ist es hell, schön und sauber. Und doch sieht man, wie er dort von der Gesellschaft ausgegrenzt wird. Auf der anderen Seite gibt es den salafistischen Vereinsraum, wo die Brüder hingehen.

Hormann: Die Moschee von Aynurs Vater in Neukölln gehört nicht zu denen, wo sehr extreme Lehren gepredigt werden. Es ist sehr wichtig, das zu trennen. Diese Moschee war auch die einzige, in der wir drehen durften und wo man auch wusste, was wir drehen. Die sind sehr offen mit uns umgegangen und haben uns sehr unterstützt. Es gibt auch sehr viele Friedensprediger, die versuchen, die Menschen aus diesen extremistischen Kreisen herauszuholen und ich würde mir wünschen, dass sie mehr an die Öffentlichkeit gehen und mehr Jugendliche von der Straße aufsammeln. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass Frauen, die in ähnlichen Situationen sind wie Aynur, erfahren, dass sie nicht alleine sind.

Laut einer Erhebung des Berliner Senats gab es im Jahr 2017 etwa 500 versuchte Zwangsheiraten, 200 von ihnen sind nicht zustande gekommen.

Bagriacik: Dazu „Nein“ zu sagen, das traut man sich eben erst, wenn man sieht, ein anderer hat das auch gemacht. Der oder die hat auch protestiert. Es gibt auch ganz viele Männer, die darunter leiden, die auch zwangsverheiratet werden, das darf man nicht vergessen. Wie kann man einem Menschen vorschreiben, wen er sein Leben lang lieben soll? Und mit ihm zusammen sein soll? Aber ich bin kein Feind von Traditionen. Es gibt auch echt schöne Traditionen.

Zum Beispiel?

Bagriacik: In den türkischen Familien ist es zum Beispiel oft so, dass man auf jeden Fall immer zusammen zu Abend isst. Egal was man sonst so vorhat, das Abendessen isst man immer zusammen, um zu gucken, wer hat welche Probleme, wer ist in welchem Kopf drin, wie kann man helfen? Am Esstisch kannst du halt herausfinden, was deine Tochter oder dein Sohn gerade denken. Oder diese Art von Respekt, die man voreinander hat, das ist eine schöne Tradition. Meine Lehrer haben mir angeboten, sie zu duzen, nachdem ich 18 wurde. Ich konnte das nicht. Die sind weiter als ich, die bringen mir etwas bei, sind meine Meister. Vielleicht ist das traditionell, aber ich mag diese Form des Respektes. Ich habe sie erst beim Film abgelegt, so dass ich Menschen wie Sherry Hormann dann duzen konnte (lacht). Und das hat natürlich auch geholfen, besser arbeiten zu können.

Frau Hormann, welches Verhältnis haben Sie zu familiären Traditionen?

Hormann: Naja, wir sind ja mittlerweile bei Patchworkfamilien angelangt. Mich fasziniert vielmehr, dass das, was Almila erzählt, das beste Fundament für Diskussionen wäre. Aber innerhalb einer Familie ist ja auch immer die Frage, ob man als Kind alles erzählt, was im eigenen Kopf los ist. Was du schilderst, klingt schon eher nach einer rosa Blase.

Bagriacik: Ja, das stimmt. Aber es geht auch nicht nur darum, was man sagt. Als Eltern spürt man ja oft auch ohne Worte, was mit den Kindern los ist. Es geht darum, das Gespür füreinander nicht zu verlieren. Tatsächlich haben solche Jugendliche, wie die Kinder in Aynurs Familie, keine Angst vor der Polizei. Sie haben Angst vor ihren Eltern. Sie sagen: Ja, sperrt mich ein. Hauptsache, ihr sagt meinen Eltern nichts!

Das heißt, Familie funktioniert dort als Kontrollinstanz?

Hormann: Jaja, absolut. Aber wenn ich das von den gemeinsamen Abendessen höre, verstehe ich auch, warum in türkischen Läden immer so viel eingekauft wird (beide lachen). Ich wünsche mir jedenfalls, dass es wieder mehr ein miteinander Reden, ein offenes Diskutieren gibt, nicht nur das einfache Vertreten von Meinungen. Und ich habe einen ganz persönlichen Wunsch. Ich wünsche mir, dass Aynurs Sohn Can diesen Film sieht..

Ist er in der Arbeit an dem Film überhaupt nicht involviert gewesen?

Hormann: Nein, ganz und gar nicht. Er lebt in der Anonymität. Keiner weiß wo und ich glaube, das ist auch gut so. Genauso lebt die Kronzeugin, die frühere Freundin von Aynurs jüngstem Bruder, mit ihrer großartigen Mutter immer noch in der Anonymität. Ich habe Gespräche mit ihrer Anwältin geführt. Sie sind vor Gericht gegangen, lebten im Zeugenschutzprogramm und haben dafür alles aufgegeben. Nach dem Prozess hatten sie erstmal nichts. Sie sind Flaschensammeln gegangen. Soviel zu unserem deutschen Rechtsstaat.

Zum Schluss noch eine Frage zu einer visuell besonders auffälligen Filmszene: Aynur sitzt weinend in ihrem Badezimmer, von Sonnenlicht beschienen, zwischen einem grünen Duschvorhang und einem roten Handtuch. Das bildet exakt den Aufbau der kurdischen Nationalflagge ab. War das als politisches Bekenntnis gemeint?

Hormann: Das muss unser Unterbewusstsein gewesen sein. Das ist eine Einstellung an der wir richtig lange herumgedoktert haben. Die Bildsprache unserer Kamerafrau Judith Kaufmann ist immer sehr ins Detail gehend, sehr genau. Tatsächlich war es aber ein grünes Badezimmer und ich mochte einfach die Kombination der Farben. Aber Rauand Taleb ist Kurde. Aram Arami, der Tarik spielt, auch. Sie können sich also vorstellen, dass wir über das Thema am Set viel gesprochen haben. Aber in dieser spezifischen Einstellung war ich eigentlich nur fokussiert auf ein gutes Bild. (lacht)

Bagriacik: Ich muss auch ehrlich sagen, dass dieses Thema in unserer Generation kaum noch eine Rolle spielt. Das sind Kriege, die wir nicht geführt haben. Das geht Ihnen wahrscheinlich genauso mit dem Nationalsozialismus. Noch dazu muss ich als Schauspielerin immer empathiefähig sein. Erst vor kurzem habe ich in einem Kinofilm eine kurdische Bundeswehrsoldatin gespielt. Ich bin Türkin, ich bin in Ankara geboren, trotzdem ist das Kurden-Thema für mich kein No-go-Thema. Das Tolle an Berlin ist ja: Immer wenn ich Geburtstag hatte, haben Israelis mit Palästinensern und Russen, zusammen mit Arabern und Kurden am Tisch zusammen gefeiert. Und unsere Nationalität ist dann kein Migrationsvordergrund mehr, sondern wirklich ein Hintergrund. In erster Linie sind wir dann einfach Menschen, die zusammen sind.

Hormann: Kannst du mir das Lokal verraten, wo ihr Euch da trefft?

Bagriacik: Das ist am Wittenbergplatz, da habe ich auch meinen 16. Geburtstag zum Finale der Fußball-EM gefeiert. Da sind wir alle zusammengekommen. Gespielt haben Portugal und Frankreich. Wir alle hatte Flaggen im Gesicht, aber von Deutschland (lacht). Das war in dem Moment tatsächlich unsere Nationalität.

Wird es eine türkische Fassung von „Nur eine Frau“ geben?

Bagriacik: In der Türkei gucken alle die Filme mit Untertiteln. Von daher bleiben sie immer in der Originalsprache. Es würde dem Film auch schaden, wenn man ihn synchronisiert.

Hormann: Es wird ganz bestimmt einen Kinostart in der Türkei geben.

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