Andrea Bocelli, als wir mit Eros Ramazzotti über die Regierungskrise in Italien sprachen, sagte er, Berlusconi sei ein guter Präsident, jedoch nur für einen Fußball-Club…
Andrea Bocelli: Ich mag es nicht besonders, wenn solche Kommentare abgegeben werden. Um einen Präsidenten beurteilen zu können, müsste man auch die Fähigkeit haben, selber Präsident zu sein. Genauso wie jemand, der einen Sänger beurteilt, auch selber singen können sollte. Deswegen fühle ich mich auch nicht in der Lage, ein pauschales politisches Urteil abzugeben.
Werden Politiker also generell zu hart kritisiert?
Bocelli: Man ist immer sehr schnell dabei, andere zu verurteilen, bevor man sich Gedanken gemacht hat, wie man selbst an deren Stelle handeln würde. Es heißt aber nicht umsonst: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Ein Parlament ist immer der Spiegel jener, die es gewählt haben. Wer nicht zufrieden mit dem Parlament ist, sollte sich erstmal Gedanken über sich selbst machen, über sein Leben und die eigenen Werte. Solange die Leute sich von unten nicht ändern, wird sich auch die Regierung von oben nicht ändern.
Ist Musik in der Lage, die Menschen zu ändern?
Bocelli: Zunächst einmal ist Musik ein herausragendes Instrument, um den Leuten eine gewisse Unbeschwertheit zu verschaffen und das ist keine zweitrangige Angelegenheit. Musik hat auch durchaus eine Reihe von Aspekten, denen man therapeutische Wirkung zuschreiben kann, sofern man mit ihr nicht Missbrauch betreibt.
Sie haben einmal vor dem italienischen Parlament gesungen. Könnte Musik auch auf die Politik therapeutisch wirken?
Bocelli: Das ist ein sehr kühner Gedanke. Nicht mal das gemeinsame Singen der Nationalhymne dürfte reichen, um Politiker in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Obwohl sie dafür ja eigentlich gedacht ist.
Ihr aktuelles Album heißt „Passione“. Wie definieren Sie „Leidenschaft“?
Bocelli: Ich sage meinen Kindern immer, Leidenschaft ist das Feuer, das das Leben entfacht. Ohne Leidenschaft geht gar nichts, dann steht man nur in der Ecke.
Ihr ältester Sohn ist gerade 18 geworden. Beobachten Sie Unterschiede in Ihrer eigenen Leidenschaft und der Leidenschaft der Jugend?
Bocelli: Nein, ich würde sagen, Leidenschaft ist Leidenschaft. Ohne Leidenschaft gibt es nur Kälte und Kälte hat immer auch etwas mit dem Tod zu tun.
Sie singen mit „Love Me Tender“ auch einen der softeren Hits von Elvis Presley…
Bocelli: Das gehört eben auch zur Leidenschaft: Dieser Song drückt sehr zärtlich aus, wie es ist, Liebe zu geben und zu empfangen.
Elvis stand in seiner Karriere einerseits für Unmoral, gleichzeitig hat er aber auch Gospel-Platten aufgenommen. Ist so ein Widerspruch für Sie als Katholik nachvollziehbar?
Bocelli: In den Liedern, die ich bisher von Elvis gesungen habe, „Love me tender“ und „Can’t Help Falling in Love“ gibt es eigentlich nichts Amoralisches. Sonst hätte ich sie nicht gesungen.
Die Arrangements und Rhythmen auf „Passione“ sind stark von lateinamerikanischer Musik geprägt. Wie kam es dazu?
Bocelli: Schon mein Album „Amore“ war vor ein paar Jahren lateinamerikanisch geprägt und sehr erfolgreich. Und mit dem neuen Album habe ich versucht, eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen, da auch Aufnahmen in portugiesischer und spanischer Sprache vorhanden sind.
Lateinamerikanische Musik ist in Deutschland nicht zuletzt in den Tanzschulen sehr präsent. Haben Sie in Ihrer Schulzeit auch Tanzunterricht genommen?
Bocelli: Nein, nein. Ich bin ein ganz schlechter Tänzer. Ich war immer auf der anderen Seite, auf der Seite derer, die Musik machen, damit die anderen tanzen können. Aber schon als Teenager habe ich festgestellt, dass es leichter ist, als Musiker ein Mädchen abzuschleppen, als wenn man es zum Tanzen auffordert.
Zu Ihren Duettpartnerinnen auf „Passione“ zählen auch Nelly Furtado und Jennifer Lopez, die einen ganz anderen Produktionsprozess gewohnt sein dürften. Zum Beispiel wird deren Gesang häufig mit Autotune nachträglich bearbeitet. Wie ging das mit Ihnen zusammen?
Bocelli: Dass die beiden aus der Popmusik kommen, hat sich auf die Lieder, die wir gesungen haben ja nicht wirklich ausgewirkt. Wenn man zusammen singt, spielt so ein Kontext ja erstmal keine Rolle. Dann muss man einfach der Phantasie freien Lauf lassen, seinem musikalischen Instinkt folgen. Ich muss mich mit forttragen lassen, von dem, was die Kollegin in dem Moment vermittelt.
Ein Parlament ist immer der Spiegel jener, die es gewählt haben. Solange die Leute sich von unten nicht ändern, wird sich auch die Regierung von oben nicht ändern.
Wie kam es zu diesen Duetten?
Bocelli: Das war die Idee von meinem Produzenten David Foster, der schon mit beiden gearbeitet hatte und mit beiden befreundet ist. Er hat sie gefragt, sie haben ja gesagt. Ich habe mich darüber sehr gefreut, vor allem, weil zum Beispiel unsere Version von „Quizás, quizás, quizás“ weit davon abweicht, was Jennifer Lopez sonst so macht. Sie hat dem Stück eine große Frische und viel Gefühl gegeben.
Waren Sie mit ihr zusammen im Studio?
Bocelli: Nein, in dem Fall haben wir in der Tat nicht nur getrennt voneinander aufgenommen, sondern waren auch an weit voneinander entfernten Orten. Aber das macht keinen Unterschied, weil man seinen Gesang eigentlich immer separat aufnimmt.
Sie singen sogar ein Duett mit der 1963 verstorbenen Édith Piaf. In einem Lied von Herman van Veen heißt es „Meine Mutter stellte den Staubsauger ab, denn im Radio sang Edith Piaf“. Haben Sie auf ähnliche Weise Piafs Musik kennengelernt?
Bocelli: Ich selbst habe noch nie einen Staubsauger benutzt. (Lacht) Aber die außergewöhnliche Stimme von Edith Piaf hat mich schon immer stark beeindruckt. Sie ist ganz gewiss eine der größten französischen Sängerinnen und nicht zuletzt auch eine der größten Popsängerinnen aller Zeiten.
Édith Piaf hat Zeit Ihres Lebens unter extremem Lampenfieber gelitten. Von Ihnen erzählt man sich ähnliches.
Bocelli: Das ist so und wird sich wohl nie ändern. Ich habe den Willen und die Absicht, meine Arbeit möglichst gut zu machen und gleichzeitig hat man doch das Gefühl, dass man nichtmal in die Nähe dessen kommt, was man erreichen möchte. Ich hatte immer ein Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber den großen Erwartungen, die auf mich zukamen.
Während Sie von einem großen Publikum verehrt werden, liest man hin und wieder auch kritische Rezensionen. Wie gehen Sie damit um?
Bocelli: Einstein hat mal gesagt: Große Geister haben stets heftige Gegnerschaft in den Mittelmäßigen gefunden. (lacht) Man könnte das auch umformulieren und sagen: Alle großen Stimmen sind stets von kleinen Federn kritisiert worden. Letztlich sollte man sich auf die Fakten konzentrieren. Geschrieben wird alles, und auch das Gegenteil davon. Es gibt auch viele Kollegen, Dirigenten, Konzertmeister, die mich meine ganze Karriere hindurch sehr unterstützt haben. Gerade in der klassischen Musik war es immer schon so, dass sämtliche Protagonisten, auch Maria Callas zum Beispiel, großer Kritik ausgesetzt waren.
Aber um etwas näher auf Ihre Frage einzugehen: die Kritik gehört natürlich zum Showgeschäft. Sie verkennt jedoch meistens die schwierigen Umstände unseres Berufes. Man ist als Künstler eben ständig auf Reisen. Man schläft häufig in Hotels, man hat es immer wieder mit einem anderen Klima zu tun. Von heute auf morgen ändert sich der Zustand der Stimme. Das bedeutet große Anstrengungen, mit denen man auch erstmal klar kommen muss. Wenn einer meiner Söhne zu mir käme und sagen würde: Ich will auch als Musiker arbeiten, würde ich ihm sagen: Fällt dir nichts anderes ein? Wenn er es dann immer noch will, würde ich ihn aber auch unterstützen.
Sie sind Ehrenpräsident eines besonderen Theaters, des Teatro del Silenzio, in der Nähe ihres Heimatdorfes Lajatico. Dieses „Theater der Stille“ wird nur einmal im Jahr für ein großes Klassikfestival bespielt. Das ist einerseits eine sehr poetische Idee, andererseits klingt es nach geradezu verschwenderischer Dekadenz…
Bocelli: Nun, das Teatro del Silenzio ist auf jeden Fall eine außergewöhnliche Idee. Sie wurde von zwei Architekten aus Lajatico entwickelt, einer von ihnen ist mein Bruder. Sie geht darauf zurück, was Goethe „In der Idee leben“ nannte. Das heißt, es geht darum, als möglich zu betrachten, was auf den ersten Blick eigentlich unmöglich erscheint. Mir erschien es zunächst auch unmöglich, dort, mitten im Nichts ein Theater entstehen zu lassen. Ich war wirklich erstaunt, als dann über 10.000 Menschen aus der ganzen Welt zu dem Festival kamen.
Und im Rest des Jahres kann das leere Theater besuchen?
Bocelli: Ja genau. Das mache ich selbst auch manchmal. Wenn die Zeit es erlaubt, reite ich dorthin und höre auf die Stille.
Andrea Bocelli, vielen Dank für das Gespräch.
Bocelli: (Auf Deutsch) Fertig!
Sie kennen wahrscheinlich den Ausspruch „Ich habe fertig“ Ihres Landsmannes Giovanni Trapattoni…
Bocelli: Oh ja, Trapattoni. Er ist nicht nur ein guter Trainer, er war auch ein sehr guter Spieler, für den AC Mailand und den Varese FC. Jetzt trainiert er ja die Mannschaften Irlands und des Vatikans.
Sein Wutausbruch damals als Trainer beim FC Bayern hat in Deutschland unsere Vorstellung von italienischem Temperament sehr geprägt…
Bocelli: Was genau stellen Sie sich denn da vor?
Nun, Trapattoni wirkte leidenschaftlich, machte große Gesten, wurde laut und aufbrausend.
Bocelli: Ach so. Das mag sein. Aber ich bin auch Italiener – und mein Temperament ist das nicht.
[Das Interview entstand im Februar 2013]