Andrea Würtz

Schliersee und Augsburg sind keine Einzelfälle!

In einem Seniorenheim im bayerischen Schliersee herrschten so katastrophale Zustände, dass es nach mehreren Todesfällen im Herbst 2021 geschlossen wurde. An die Öffentlichkeit gelangten die Informationen durch Whistleblowerin Andrea Würtz. Hier spricht sie über den langen Weg der Aufklärung sowie ihre Forderungen an Berufskollegen und die Politik.

Andrea Würtz

© Privat

Frau Würtz, Sie haben im Mai 2020 verheerende Missstände in einer Seniorenresidenz in Schliersee aufgedeckt, als Sie für das Gesundheitsamt Reihentestungen nach einem Corona-Ausbruch durchgeführt haben. Was haben Sie vorgefunden?

Andrea Würtz: Es ist kaum in Worte zu fassen. Die Realität, wie sie in Dokumentationen des BR-Fernsehens, dem ZDF oder von Günter Wallraff bereits dargestellt wurde, wurde bei Weitem an Grausamkeit übertroffen. Die unzähligen leeren und verzweifelten Augen in den Gesichtern von Menschen, die ein erfahrungsreiches Leben hinter sich haben, werde ich in meinem Leben nie mehr los. In meiner Schulzeit hat mich Stefan Zweigs „Schachnovelle“ sehr berührt: Langeweile und Isolation als Foltermethode. Und genau das musste ich auf sehr dramatische Weise inmitten einer der schönsten Regionen Deutschlands finden und dabei noch feststellen, dass kollektiv weggeschaut wurde. Das ist für mich im Nachhinein das Schlimmste.
Die Realität, die wir dort vorfanden, war für uns alle – die Kollegen des Medizinischen Dienstes (MD) und mich, die wir die Reihentestungen durchführten, und selbst für die Bundeswehr* – einfach unerträglich, unmenschlich, menschenverachtend, unfassbar. Gleichzeitig spüre ich diese unglaubliche Ohnmacht bis heute, nicht noch schneller geholfen haben zu können.
(* aufgrund der festgestellten Missstände in der Seniorenresidenz in Schliersee zog das Landratsamt in Miesbach eine Sanitätseinteit der Bundeswehr hinzu, um die Versorgung der Bewohner zu sichern. Anm. d. Red.)

Es sind 17 Bewohner gestorben, in 88 Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung. Was hat Sie am meisten betroffen gemacht?

Ob Mitarbeiter im Krankenhaus, Notfallsanitäter, Ärzte – alle wussten von den Missständen und haben es mit ihrem Schweigen mitgetragen. Die Gründe für diese „Allianz des Schweigens“, wie es der Pflege-Aktivist Claus Fussek nennt, wollen sich mir auch fast zwei Jahre danach nicht erschließen. Wie konnte es sein, dass selbst in Krisenstäben diese Missstände bagatellisiert wurden? Ich meine, die Grundbedürfnisse vieler Bewohner waren teilweise nicht einmal minimalst erfüllt. Es bestand eine reale Gefahr für Leib und Leben der Bewohner – auch durch Unterlassen. In einigen Fällen wurden die Menschenrechte massiv verletzt. Es gab Gewalt in der Pflege. Wie viel Verzicht auf die Erfüllung minimalster Grundbedürfnisse ist denn bitte noch akzeptabel, frage ich mich? Wer entscheidet darüber, was für einen Menschen denn noch zumutbar ist?
Rückblickend glaube ich, hat es mich mindestens genauso schwer getroffen zu erleben, wie die gesamte Talgemeinschaft in der Lage war, über diese Wahrheit einfach hinwegzusehen. Wenn ich Menschen in Schliersee danach fragte, winkten viele ab und ich hörte nur Sätze wie: „Ach ja, meine Tante ist da schon vor 15 Jahren verdurstet!“ oder „Wenn du deinen Opa schneller loswerden willst, geht das am besten in Schliersee“. Aber auch die Aussage der Heimaufsicht hat mich zutiefst erschrocken: „Wenn du mal ein paar Jahre hier bist, dann hast du auch gelernt, dass du an so mancher Misere nichts ändern kannst.“

Warum haben die Mitarbeiter der Seniorenresidenz die Missstände nicht selbst gemeldet? Sie sind doch rechtlich und berufsethisch verpflichtet zu handeln.

Angst, Überforderung, Resignation – das haben Sie mir gegenüber geäußert. Ich bin auf ein unglaubliches Maß an Abstumpfung gestoßen. Die Missstände wurden erst durch Corona auf mehreren Ebenen und auch für Außenstehende transparent und waren eben nicht mehr zu „übersehen“.
Dabei müssen Pflegefachpersonen in der Tat „Fürsprecher der pflegebedürftigen Menschen“ sein. Wir sollten auch einen viel offeneren Dialog über ethisch richtiges Verhalten in unserer Praxiskultur führen. Es muss ein Grundsatz sein, dass man als verantwortungsbewusste Pflegefachkraft verpflichtet ist, Missstände umgehend zu melden. Was ich aber erlebt habe ist einerseits eine Atmosphäre der Angst, im Sinne von „Ich darf nichts sagen, weil der Heimleiter bei den Begehungen immer dabei ist“; andererseits habe ich Pflegekräfte sehen müssen, die sich noch dafür feiern ließen, dass sie die Überprüfung bzw. Kontrolle, der – durch Pflegefehler entstandenen – Wunden bei einer Bewohnerin in der Zeit einer Begehung „umgehen“ konnten, indem sie diese kurzfristig ins Krankenhaus einweisen ließen. In solchen Momenten schäme ich mich tatsächlich für unseren Berufsstand. Zu solchem Verhalten gibt es eigentlich nichts mehr zu sagen.

Zitiert

Wir haben es hier mit einem Kollektivversagen zu tun.

Andrea Würtz

Warum haben Sie die Missstände in Schliersee erst anonym gemeldet?

Es war eher eine Verzweiflungstat, da ich zuvor alle anderen gangbaren Wege beschritten hatte. Das bestehende System hatte aber versagt, und die von der Politik so oft erwähnten und besonders zu schützenden „vulnerablen“ Gruppen konnten weder geschützt, noch deren desaströse Lage verbessert werden. Ich wusste, alleine konnte ich das nicht ändern. Es hat mich tief erschüttert zu realisieren, dass all meine Dokumentationen und Berichte am Ende nicht ausgereicht haben sollen, dieses Heim umgehend zu schließen.
Zudem wäre es möglich gewesen, den Job zu verlieren oder von Kollegen schräg angeschaut zu werden.

Was hatten Sie zuvor erlebt, wenn Sie in der Pflege etwas ändern wollten? Sie haben ja in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet.

Oft habe ich Erschütterndes erlebt. Eine Kollegin meinte: „Schreib nur deine Überlastungsanzeige. Du wirst schon sehen, was du davon hast.“ Manche Kollegen relativierten die Missstände, gingen miteinander in Konkurrenz und sagten: „Na, wenn das deine Kollegin gestern mit 52 Bewohnern geschafft hat, dann kannst Du das wohl auch.“ Das sind für mich alles Formen der Resignation.
Solche Resignation ist weit verbreitet. Manche drückten sie direkt aus: „Ich arbeite jetzt nur noch Teilzeit, da muss ich dann das Elend nicht so oft sehen.“ Oder: „Ich werde nach meiner Ausbildung auf keinen Fall in diesem Beruf arbeiten und habe mich schon zum Studium angemeldet.“ Die Liste solcher Äußerungen ist lang. Gleichzeitig aber „frisieren“ wir vor den MDK-Prüfungen die Akten, machen die Dokumentation „sauber“, wenn ein Besuch der Heimaufsicht ansteht. Wir haken Pflegeleistungen ab, die wir als Fachkraft nicht oder nicht selbst durchgeführt haben. Damit unterstützen wir diese Missstände noch, anstatt einfach die Wahrheit zu sagen.

Das heißt, der Berufsstand zeigt sich widersprüchlich?

Genau. Es geht nicht darum, die „gebeutelte“ Pflege noch mehr in den „Senkel zu stellen“. Die Bedingungen sind zweifelsohne teilweise unmenschlich für uns. Natürlich haben wir Frust! Schlimmer aber ist der Schaden, den die Bewohner und Patienten dadurch erleiden, dass wir Pflegekräfte, dort wo es notwendig wäre, nicht geschlossen gegen Missstände aufstehen!

Erst Ende September 2021 wurde die Seniorenresidenz in Schliersee geschlossen. Hat Sie das nicht frustriert?

Mich hat am meisten frustriert, dass ich trotz Einhaltung der Dienstwege nichts gegen diese Missstände unternehmen und auch nicht ausreichend Gehör finden konnte.

Warum hat man Ihnen nicht geglaubt?

Durch den Corona-Ausbruch in der Seniorenresidenz – so schlimm das auch sicher war – und die durch das Gesundheitsamt veranlassten Reihentestungen hatten wir im Vergleich zu den anlassbezogenen oder turnusmäßigen Überprüfungen der Heimaufsicht den klaren Vorteil, hinter jede Tür schauen und jeden Bewohner sehen zu können – und das auch noch in regelmäßigen Abständen. Durch die Pandemie waren alle Mitarbeiter über jedes Maß belastet und in permanentem Einsatz. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass ich unter Einhaltung des Dienstweges immer sämtliche Informationen über die Seniorenresidenz an alle relevanten Stellen weitergegeben habe. Warum die Entscheidungen von den Behörden anders getroffen wurden, als ich es mir gewünscht hätte, entzieht sich meiner Kenntnis.
Schon im Mai 2020 vertraten einige Personen aus unterschiedlichen Bereichen, die an der Hilfe im Rahmen der Corona-Pandemie beteiligt waren, die klare Meinung, dass es das einzig Richtige sein würde, die Einrichtung möglichst schnell zu evakuieren. Andere sagten, die bisherige Lage „reiche noch nicht für eine Heimschließung“ und „es seien Bemühungen seitens des Trägers erkennbar“. Ich wusste damals, irgendwann würden die Missstände in die Katastrophe führen. Die Entscheidung über Verantwortlichkeiten muss die Staatsanwaltschaft klären, und da das Verfahren noch nicht begonnen hat, ist es schwierig etwas dazu zu sagen.

Und es kam dann auch tatsächlich zu einer Katastrophe: Eine Bewohnerin starb durch einen „tragischen Gewaltakt“, wie es in der Todesanzeige hieß. Was war da passiert?

Eine Bewohnerin wurde Anfang August 2020 von einem anderen dementen Bewohner vergewaltigt und so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag. Das hätte sicherlich verhindert werden können, hätte man frühzeitig gehandelt. Aber auch nach diesem „bedauerlichen Einzelfall“, wie man das nannte, wurde das Heim zunächst nicht geschlossen.

Was passierte danach? Wurden weitere Kontrollen angesetzt oder Maßnahmen ergriffen, um die Situation der Bewohner zu verbessern?

Bei den entscheidenden Begehungen ging es oftmals darum, ob „noch immer“ Gefahr für Leib und Leben bestehe oder eben „ein Bemühen des Trägers zur Verbesserung“ schon erkennbar sei. Eine größere Begehung war für die Zeit nach dem Abzug der Bundeswehr angekündigt worden. Der Träger wusste also Bescheid und hatte vorab die Zeit, die er brauchte. Die zum Abschied von der Bundeswehr dagelassenen Blumen in den Zimmern der Bewohner wurden bei der Begehung als „wirklich schön“ vermerkt, und ich weiß auch noch, wie mir das durch Mark und Bein ging. Zuvor hatte es noch nicht einmal notwendige Lagerungshilfsmittel oder adäquate Rollstühle für einige Bewohner gegeben. Da musste ich richtig schwer schlucken.
Die Missstände wurden zwar erfasst und viele Protokolle geschrieben, viel in Sitzungen abgewogen, das Landratsamt erstattete richtigerweise Anzeige und aktivierte aus dem Pflegepool Bayern dringend benötigte Pflegekräfte, die aber auch den Bedarf in keinem Fall decken konnten.

Warum gewährte die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände (ARGE) z. B. dem MDK nicht die entsprechenden Handlungskompetenzen, um gegen die Missstände vorzugehen?

Wir haben es hier mit einem Kollektivversagen zu tun. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum bei belegbaren „Gefahren für Leib und Leben der Bewohner“ keine schnelleren Entscheidungen ermöglicht werden können. Es wäre überhaupt ein Leichtes, diese Handlungskompetenz stärker in den Heimaufsichten und im MDK zu verankern. Stattdessen werden Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. Es wird abgewogen. Es folgen eine vorübergehende Entrüstungswelle in der Öffentlichkeit und viele anonyme Hinweise von Pflegekräften, die solche Zustände auch anderswo erleben. Und mehr passiert nicht. Der MDK dokumentiert alles bestens, am Ende wird aber verwaltet und nach einer gewissen Zeit eine erneute Prüfung angeordnet.

Im Frühjahr 2022 wurde ein weiteres Pflegeheim des italienischen Betreibers – diesmal in Augsburg – geschlossen. Sind auch strukturelle Rahmenbedingungen mitverantwortlich für die Missstände?

Allein in Bayern gibt es 173 amtlich dokumentierte Heime, die „negativ“ aufgefallen sind. Schliersee und Augsburg sind keine bedauerlichen Einzelfälle!
Lassen Sie die Aussage im Landtag einmal sacken: 41 Kontrollen in Schliersee im Zeitraum von circa 60 Monaten – alle mit Mängeln. Und im Ergebnis teilt man mit, das Landratsamt habe richtig gehandelt und eben fleißig weiterkontrolliert. Und wer bitte trägt am Ende den Schaden? Es sind die Bewohner und eben nicht die gestressten Heimleiter, die sich darüber beschweren, dass sie ständig überprüft werden.
Entscheider, die die Möglichkeiten gehabt hätten, haben sich ihrer persönlichen Resignation und der ihrer Kollegen hingegeben und in gewohnter Manier weiter Missstände angemahnt, die Leitung ermahnt, sie erneut beraten und mit Bußgeldverfahren belegt, obwohl diese auch schon in der Vergangenheit kaum Nutzen gebracht haben. Die Bedingungen sind für – sagen wir mal – „kreative“ Träger natürlich optimal, um die Lücken im System auszunutzen. Ein echter Teufelskreis!

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) hat nach den Schließungen der beiden Seniorenheime im Februar 2022 einen Fünf-Punkte-Plan auf den Weg gebracht. Dazu gehören die Einrichtung einer sogenannten „Pflege-SOS-Anlaufstelle“ zur anonymen Meldung von Missständen, schnelle Sofortmaßnahmen bei Mängeln und eine Expertenrunde zur Pflegequalität. Sind wir damit auf dem richtigen Weg?

Es geht jetzt darum, wirklich langfristig etwas in Bewegung zu bringen und zu verändern. Das sehe ich hier nur bedingt. Wir brauchen eine gründliche Aufarbeitung des Geschehenen – aber bitte nicht nur juristisch und politisch, sondern auch gesellschaftlich und vor allem in unserem eigenen Berufsstand.
Es wäre hilfreich, besonders gut arbeitende Einrichtungen in einer Top-Liste zu veröffentlichen und die Kernpunkte herauszuarbeiten, warum diese Einrichtungen gut arbeiten können. Auch Gewerbe- und Heimaufsicht (in Bayern FQA) und der MDK sollten mit besseren und effizienteren Kontrollmechanismen und Handlungskompetenzen ausgestattet werden.

Und Holetscheks Plan, in Bayern eine Hotline für Whistleblower wie Sie einzurichten – stößt das auf Ihre Zustimmung?

Es braucht eine übergeordnete Stelle für Whistleblower auf Bundesebene. Und dort dürfen keine Verwaltungskräfte arbeiten. Pflegefachkräfte, Rechtsanwälte für Arbeitsrecht, Menschenrechtler und Psychologen sollten dort die Ansprechpartner sein, um die Brisanz eines dort vorgebrachten Missstandes auch einordnen zu können und dem Whistleblower umgehend die Unterstützung zukommen zu lassen, die tatsächlich notwendig ist. Diese Stelle sollte auch Kontrollen durchführen und Sofortmaßnahmen einleiten können.
Ich persönlich habe in den vergangenen Jahren leider keine Unterstützung vorgefunden. Was wir jetzt vor allem brauchen, ist ein Schulterschluss innerhalb des Berufsstandes, unterstützt von den Berufsverbänden in der Pflege. Es kann nicht sein – und so habe ich es leider erfahren –, dass Whistleblower mehr oder weniger von den Berufsverbänden „übersehen“ werden und sie sich auch nicht mit einem einzigen Satz und mit klarer Haltung hinter den Whistleblower und gegen die von ihm angezeigten Missstände stellen.

Was wäre Ihr Fünf-Punkte-Plan?

1. Es braucht unbedingt Anpassungen bei der Heimaufsicht: Sie muss personell stärker und auch anders aufgestellt werden sowie über dem Landratsamt angesiedelt sein. Der Wechsel der Teams – wie beim MDK – könnte zu einem differenzierteren Blick bei der Begutachtung führen. Dann sollten die Hürden bei anlassbezogenen Überprüfungen nach Eingang der Beschwerde reduziert werden, um eine schnellere Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Zudem sollte die Heimaufsicht stärker mit erfahrenen Pflegefachkräften ausgestattet sein, die Beschwerden besser nach Dringlichkeit einstufen können. Und natürlich braucht es eine Anpassung der bisher definierten Handlungskompetenzen.

2. Es braucht eine stärkere Kontrolle im Bereich der Privatisierung von Heimen. Es darf nicht mehr zugelassen werden, dass Konzerne nach Feststellung von Missständen, durch Maßnahmen wie „Trägerwechsel“, „Wechsel der Pflegedienstleitungen“ usw. die Aufklärung hinauszögern und sanktionslos so weitermachen können wie bisher.

3. Wir brauchen eine echte Auseinandersetzung mit dem demografischen Wandel und der Frage, wie wir in Deutschland mit dem Thema Pflegebedürftigkeit umgehen wollen.

4. Wir benötigen eine grundlegende Pflegereform und nicht nur einen „kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Pflegefinanzierung muss unter stärkerer Berücksichtigung der pflegenden Angehörigen neu organisiert werden.

5. Whistleblower müssen mehr Stärkung und Schutz erfahren. Dafür braucht es nicht nur ein entsprechendes Gesetz, sondern auch die Schaffung einer übergeordneten, unabhängigen Ombudsstelle, an die sich Whistleblower – ob Pflegekräfte, Bewohner oder Angehörige – wenden können.

Was genau sollte sich bei den Heimkontrollen ändern?

Es würde aus meiner Erfahrung schon viel helfen, wenn – so wie im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes – wirklich „hinter jede Tür“ geschaut werden könnte; auch bei anlassbezogenen Überprüfungen. Von einer angekündigten Überprüfung bis zur Aufforderung einer schriftlichen Stellungnahme vergeht viel zu viel Zeit. Würde sich eine Überprüfung über einen längeren Zeitraum erstrecken, wäre es nicht mehr ganz so einfach, eine Situation im Heim vorzutäuschen, die nicht den tatsächlichen Alltag widerspiegelt.
Würde sich der MDK bei ambulanten Pflegediensten z. B. nicht 24 Stunden vorher ankündigen, wäre es nicht möglich, Dokumente und Akten zu „frisieren“, und die Realität würde klarer zum Vorschein kommen. Ob Pflegepläne und Qualitätsmanagement tatsächlich mit Leben gefüllt sind, kann so manche Überprüfung derzeit überhaupt nicht verifizieren. So handelt es sich in der Dokumentation viel zu häufig um das Vorspielen falscher Tatsachen, und das muss sich umgehend ändern.

Welche Maßnahmen müssen auf Bundesebene ergriffen werden?

Es fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Der Föderalismus schafft viele Spielräume für die Konzerne. Jedes Bundesland und jeder Landkreis kocht da ein eigenes Süppchen, und natürlich spielt auch die Unterbesetzung der Ämter eine Rolle. Hätte die Heimaufsicht übergeordnete Funktionen und würde zum Beispiel in wechselnden Teams agieren, könnte das viele Vorteile gegenüber der verbreiteten „Betriebsblindheit“ bringen.
Es geht nicht darum, alle Pflegeheimbetreiber unter Generalverdacht zu stellen. Wenn aber, wie im Fall Schliersee, über den italienischen Pflegeheimbetreiber „Sereni Orizzonti“, sogar noch nachzulesen ist, dass in Heimen in Italien ebenfalls schwere Verstöße festgestellt worden sind, dann kann es doch nicht sein, dass dieser Konzern in Deutschland nicht stärker kontrolliert wird! Da muss doch umgehend gehandelt werden! Im Rahmen der Digitalisierung brauchen wir eben auch eine stärkere Vernetzung zwischen den Heimaufsichten benachbarter Landkreise und den Bundesländern.
Wichtig aber ist mir auch zu betonen, dass nicht die Politik allein dieses Systemversagen verursacht hat. Sie könnte aber die Rahmenbedingungen für die derzeitigen Kontrollmechanismen ändern. Sie sollte dafür sorgen, dass sowohl die Fälle in Schliersee als auch in Augsburg parteiübergreifend und aufrichtig aufgearbeitet werden.
Doch nicht nur für jene Menschen, die in Schliersee gelitten haben und gestorben sind, ist es wichtig Veränderungen voranzutreiben. Denn was ist mit all jenen Bewohnern, die aufgrund des derzeitigen, übergeordneten Systemversagens gerade in diesem Moment Schaden erleiden?

Was ist Ihr Appell an Ihre Berufskollegen?

Wir müssen in erster Linie die für eine gute Pflege notwendigen Bedingungen definieren, Forderungen stellen, diese Bedingungen gemeinsam und in die Zukunft gerichtet definieren und eben nicht stets relativieren, entschuldigen, bagatellisieren und schließlich resignieren und sagen, dass wir das nicht schaffen können, weil uns die politische und gesellschaftliche Unterstützung fehlt! Zudem müssen wir uns wieder an unsere ethischen Grundsätze erinnern und uns gemeinsam unserer Verantwortung bewusst werden! Die alleinige Forderung nach mehr Personal und mehr Geld löst das Problem nicht und auch nicht zu glauben, dass die Politik das Problem für uns lösen wird. Gegenseitige Schuldzuweisungen werden den „leeren Arbeitsmarkt“ nicht wieder füllen, und auch das „Pflege-Budget“, mit dem Gelder für zusätzliches Pflegepersonal von den Krankenkassen bereitgestellt werden, wird uns nicht retten.
Es geht um die vier ethischen Grundprinzipien in unserem Berufscodex: Respekt vor der Autonomie des Patienten, Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit. Jeder sollte sich fragen, ob er oder sie noch sicherstellen kann, dass die anvertrauten Menschen eine ihren individuellen Bedürfnissen angemessene Pflege erhalten? Oder ist es vielmehr eine „Triage light“ und „Schadensbegrenzung“?

Welche Lehren haben Sie für sich selbst aus „Schliersee“ gezogen?

Ich kann nur mit aller Vehemenz dazu einladen, aus der Anonymität herauszutreten. Es war absolut richtig, so zu handeln. Nur gemeinsam können wir etwas verändern. Je klarer und eindeutiger unser Berufsstand aufsteht, desto eher wäre auch ein gesellschaftlicher und politischer Ruck in Gang zu setzen.
Nach so vielen Jahren der Wut und Verzweiflung, in denen ich als Pflegefachkraft in unterschiedlichen Bereichen gegen Missstände angekämpft habe, war Schliersee für mich der letzte Stoß, den ich gebraucht habe, um mir tatsächlich selbst einzugestehen, dass ich nur dann etwas ändern kann, wenn ich in den echten Widerstand gehe. Aus diesem Grund ist es auch nur eine logische Konsequenz, dass ich meinen Beruf, den ich so geliebt habe und zu dem ich mich berufen gefühlt habe, derzeit nicht mehr ausüben kann. Ich kann erst dann wieder in der Pflege arbeiten, wenn sich etwas grundlegend verändert hat.

3 Kommentare zu “Schliersee und Augsburg sind keine Einzelfälle!”

  1. alfred pirker |

    Das ist ein Aspekt des demokratischen Versagens. Es gibt eine weitere Institution, die mit jährlichen zweistelligen Milliarden gefördert wird, obwohl sie nur zu ihrem Nutzen und Vorteil agiert. Trotz Aufforderung der zuständigen Minister geschieht absolut nichts. Senden Sie mit die E-Mail-Adressen und ich werden euch den Inhalt der Aufforderung bekannt geben.

    Ökonom, Politologe, Systemanalytiker

    Alfred Pirker

    Alfred Pirker

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  2. Regina Brejora |

    Sehr geehrte Frau Würtz,

    haben Sie schon über einen eigenen Podcast nachgedacht?
    Dieser sollte mit Tipps und Ratschlägen versehen Angehörige und Pflegefachkräfte ermutigen und unterstützen, eine Veränderung zu erzwingen.

    Sie könnten Ihre ehemaligen Kollegen ermutigen, Ihrem Beispiel zu folgen.
    Angehörige könnten ebenso unterstützt und ermutigt werden, genau hinzusehen und begleitet (von Ihnen) einzugreifen, wenn nötig. Bestenfalls vorab solche Heime rechtzeitig zu meiden.
    Durch diesen Podcast, eine Checkliste und mit Begehung von ausgewiesenen Fachkräften an Ihrer Seite kompetent aufzutreten und die beste Einrichtung auszuwählen. Über diesen „kompetenten Angehörigenblick“ müsste ein nachhaltiger Druck ausgeübt werden.

    Ich würde mich sehr freuen, von Ihnen zu hören.

    Viele Grüße und DANKE für Ihren mutigen Dienst am Nächsten!

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  3. Räbiger |

    Danke Fau Würtz, Sie bestätigen nur was seit 20 Jahren Insidern bekannt ist. Solange sich nur einzelne trauen, werden diese an die Wand gestellt. Doch warum nicht die Demokratie in den Einrichtungen stärken. In jeder Einrichtung werden alle zwei Jahre Heimbeiräte nach Landesrecht gewählt. Keiner sagt den eigentlichen Grund warum die Einrichtungsträger demokratisch wählen lassen. Sie brauchen die Unterschrift zur neuen Entgeltverhandlung. Norbert Blüm war auch Gewerkschafter und Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, er rettete die Mitwirkung in § 85 Abs. 3 Satz 2 lezter Halbsatz im Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI). Warum sprichte keiner mit dem freigewählten Gremium, warum lässt sich keiner ins Gremium wählen? Demokratie lebte vom mitmachen. Näheres siehe „Der Bewohnerbeirat“ https://unser-quartier.de/oberhausen

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