Andreas Altmann

Zuhause muss ich mich an den Schreibtisch nageln.

Andreas Altmann über seinen romantischen Lebensstil, die Flucht vor dem Alltag und falsche Schamgefühle

Andreas Altmann

© Nathalie Bauer

Herr Altmann, wir sind hier an einem ruhigen, stillen Ort in Paris. – Wie kommt es, dass Sie hier leben?
Altmann: Weil es in Paris schön aussieht. Außerdem habe ich ja keinen Geburtsort, sondern einen Geburtsfehler: den bigotten Kraal Altötting. So wollte ich immer schon dorthin, wo es leuchtet, wo die Intelligenten leben, wo Internationalität weht, wo verschiedene Sprachen zu hören sind, wo Menschen anders aussehen als ich, wo ich etwas lernen kann, wo ich vieles nicht verstehe. Außerdem bin ich gerne Fremder. Denn dann bin ich aufgeweckter, mache weniger Fehler oder, noch besser: Ich mache neue Fehler.

Ist es für Sie der schönste Ort der Welt?
Altmann: So funktioniere ich nicht. Es ist schön hier. Gehe ich mit einer schönen Frau aus, frage ich auch nicht, ob sie die Schönste ist. Sie ist schön, basta. Gefällt mir ein Buch, dann gefällt mir dieses Buch. Paris ist sicher eine der Meisterleistungen des französischen Volks.

Sie sind Reiseschriftsteller. Wie habe ich mir Ihr Leben vorzustellen – Sie leben hier und schreiben Ihre Bücher hier? Oder schreiben Sie die unterwegs?
Altmann: Wenn ich reise, führe ich jeden Tag digital Tagebuch, in meinem Computer. Wie ein Koch: Ich nehme Ingredienzen mit, meine Gewürze. Und dann, zuhause, koche ich. Dann muss ich mich an den Schreibtisch nageln und schreiben. Aber ich schreibe nicht nur in Paris – irgendwann wird mir fad und dann fliege ich irgendwohin, in ein Hotel, und schreibe weiter. Ich mag diesen romantischen Lebensstil. Aber der Stress des Schreibens hört deshalb nicht auf, ganz egal wo.

Nun sind Sie in der ganzen Welt unterwegs, alleine und „mit leichtem Gepäck“, wie Sie einmal gesagt haben, und treffen dort Menschen. Was tun Sie, wenn Sie jemandem begegnen, dessen Sprache Sie nicht sprechen?
Altmann: Das ist ungut, aber so ist es. Oft. Also suche ich einen, der übersetzt. Denn ohne Sprache bin ich arbeitslos.

Sie reisen seit über 20 Jahren professionell. Inwieweit hat sich das Reisen in dieser Zeit verändert?
Altmann: Gewiss geht es der Welt schlecht. Mir scheint, dass die menschliche Rasse zu dumm ist, zu gierig, zu habsüchtig, zu zerstörerisch. Unsere Gier wird uns abschaffen. Die Wachstumsnarren geben den Ton an und wir Narren rennen hinterher. Ganze Landstriche, die ich noch vor drei Jahrzehnten als Natur Wunder erlebt habe, sind heute der Vorhof zur Hölle.

Das klingt nach heftiger Wohlstandskritik. Könnten Sie sich vorstellen, auf Dauer in einem Drittweltland zu leben?
Altmann: Nein, ich will nicht auf Bäumen leben! Ich finde nur dieses hemmungslose Anspruchsdenken, dieses Immer-mehr-Fressen und Wollen so krank, so unsexy. Diese vom Wohlstand gezeichneten Visagen! Wie sagte es Gandhi? „Die Welt hat genug für jeden, aber nicht genug für einen, der nicht genug bekommen kann.“ Mehr Neugier und weniger Gier, vielleicht ist das ein brauchbarer Vorschlag.

Irgendwo habe ich mal gelesen, Sie seien ein „bekennender Flüchtling“. Inwieweit halten sich Neugier und Fluchtinstinkt die Waage?
Altmann: Die brauchen sich nicht die Waage zu halten. Die spornen sich gegenseitig an: Wenn ich flüchte, nehme ich meine Neugier mit. Um vor dem Ranz des Alltags davonzurennen, vor diesem bleiernen Gefühl, alles schon gesehen zu haben: Déjà vu. Déjà écouté. Déjà senti. – Alles schon gefühlt, gehört, gesehen.

Das klingt jetzt so, als seien Sie völlig vogelfrei unterwegs. Wie sieht es da mit einem gewissen Sicherheitsbedürfnis aus – kommt das auch vor?
Altmann: Ja, natürlich! Ich bin ein Feigling. Ich bin ein Angsthase! Bin ich unsterblich? Nein. Nur habe ich noch mehr Angst vor meiner Feigheit und davor, dass ich mir hinterher Vorwürfe machen würde. Aber natürlich habe ich ein Bedürfnis nach Sicherheit, nach Überleben-Wollen. Als Reporter habe ich haarigste Situationen erlebt – aber ich kalkuliere sie vorher, ich überlege, ob es machbar ist. Keine Geschichte von mir ist mein Leben wert.

Sie sind Profi-Reisender. Koffer oder Rucksack?
Altmann: Koffer? Ich habe keinen, nur Rucksack oder Reisetasche. Und rein muss: ein Buch, ein bisschen Musik, was zum Schreiben – und mein Laptop. Ein ganz leichter, unheimlich eleganter Computer. Ansonsten gar nichts Besonderes: zwei Hosen, zwei Unterhosen, zwei Hemden, ein paar Toilettengeschichten. Unauffällig, cool, leicht.

Zitiert

Mir scheint, dass die menschliche Rasse zu dumm ist, zu gierig, zu habsüchtig, zu zerstörerisch. Unsere Gier wird uns abschaffen.

Andreas Altmann

Sie kommen irgendwohin, in ein Land, lernen Leute kennen, halten Kontakt, lernen neue Leute kennen. Wie schwierig ist es, dieses Netz aufrechtzuerhalten – oder auch wieder abzustellen?
Altmann: Aufrechterhalten kann ich es nicht. Ich habe in meinem Computer zwar ein Adressdossier mit über 380 000 Anschlägen – ich kenne also ein paar Leute auf dieser Welt –, aber viele Kontakte versanden. Weil die Leute gar keine Mittel haben, keine Kommunikationsmittel. Sie haben kein Internet, keine E-Mailadresse. Die Kontakte finden in dem Augenblick statt: Die Leute erzählen mir ihre Geschichte und ich schreibe sie auf und dann reise weiter. Ich versuche den Menschen so respektvoll wie möglich zu behandeln, aber dann heißt es: Abschied nehmen.

Fallen Ihnen Abschiede leicht?
Altmann: Nein, ich habe ja in einem Zen-Kloster gelebt. Und da habe ich das Loslassen gelernt. Ich sammle nie etwas: keine Interviews, keine Aufzeichnungen im Fernsehen, keine Souvenirs, keine Andenken, nichts. Soll ich das alles mitnehmen, aufheben? Ich will versuchen, im Moment zu leben. Jetzt. Ich habe ja alles, was ich brauche. Ich verdiene wahrscheinlich mehr Geld als ich ausgeben kann. Aber äußere Insignien brauche ich nicht, die Insignien des Protzens, nein, muss nicht sein. Deshalb gehe ich immer zum Essen, denn ich kann überhaupt nicht kochen, ich habe gar nichts zum Kochen. Und so gehe ich in ein Restaurant und bestelle. Und überall auf der Welt kommt jemand – der Wirt – und bringt mir das, was ich will. Und dieser wunderbare Akt des Tauschens – ich gebe ihm Geld und er erledigt alles andere, Geschirr einräumen, abspülen, abtrocknen, diese grauenhaften, ordinären Haushaltsgeräusche – dieser Tausch ist hinreißend.

Sie bezeichnen sich in der Tat in Ihren Büchern immer mal als „late bloomer“, als Spätblüher. Jetzt war Ihr Buch „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ ein Titel, den das Publikum so wohl nicht erwartet hätte. Einerseits für Ihre Leserschaft, die Sie als Reiseautor kannte. Andererseits für die Leute, die Sie nicht kannten – für die war alleine schon der Titel eine Provokation. Wie kam es zu dem Buch?
Altmann: Mir ist egal, was der Leser erwartet. Ich schreibe das, was ich in mir vermute. Und das so intelligent und unterhaltsam, als ich es vermag. Dieses Buch war mir seit vielen Jahren im Kopf herumgegangen. Aber ich hatte mich nicht getraut, weil ich dachte, es würde so eine Elendsjeremiade, so eine Heulsusenarie, so ein Gewinsel. Und das ist furchtbar, ganz unerträglich. Das interessiert niemanden. Der Rotz musste in das Buch. Damit der Leser versteht, dass hier ein Kind um sein Überleben kämpft. Aber nicht auf die weinerliche Art, sondern auf eine – wenn Sie wollen – „männliche“ Art.

Hat Sie der Erfolg des Buchs überrascht?
Altmann: Jeder Autor träumt natürlich von Erfolg, sonst würde er das Buch nicht schreiben. Gut, ich hatte vorher meinen Verlegern schon 13 Kinder geschenkt und eine halbe Million Bücher verkauft. Aber seltsamerweise sagten alle Leute, die das Buch vorher gelesen hatten – Profis, Freunde von mir, selber Schreiber – spontan: „Das Buch wird ein Riesenerfolg“.

Gibt es eine Fortsetzung zu dem, was Sie in Ihrem „Scheißleben“ geschrieben haben – zu Ihrer Biographie?
Altmann: Certainly not. Es gibt nichts mehr zu sagen. Das Schreiben – wie ich im Nachwort zum „Scheißleben“ erwähne – hat mich gerettet, ohne das hätten die zwanzig Jahre Therapie nicht gegriffen. Aber damit hat es sich.

Sind also die Geschichten in Ihrem neuen Buch, "Dies beschissen schöne Leben / Geschichten eines Davongekommen", nach der schriftstellerischen Verarbeitung Ihrer „Scheißjugend“ einfach autobiographische Erzählungen aus der Lebensmitte?
Altmann: Ach, die Lebensmitte, das klingt mir zu abgehoben. Es sind Geschichten aus dem Leben. Allen gemeinsam ist, das sie nach meinem „Davonkommen“ entstanden sind.

In dem Buch gibt es eine Geschichte, von der Sie sagen, bislang hätte sich kein Verleger getraut, sie zu veröffentlichen. Sie heißt "Die Vergewaltigung". Haben Sie gegenüber Ihren Lesern kein Schamgefühl?
Altmann: Nein. Man kann mir viel Dreck hinterherwerfen, aber zu den Bigotten zählt mich keiner. Wer diese Geschichte ohne dauererigierten Zeigefinger liest, wird mir, dem Autor, zustimmen. Immerhin habe ich drei Menschenleben gerettet: das der Frau, des Kindes, und meins.

Sollte sich ein Autor beim Schreiben generell nicht von Schamgefühlen bremsen lassen?
Altmann: Das sind Fragen an Kandidaten einer Schreibwerkstatt für Gutmenschen, für professionelle Heuchler. Literatur kann mit „guten Gefühlen“ nichts anfangen, sie soll von der Wirklichkeit erzählen. Von dem, was ist. Und nicht von dem, wie wir es gern hätten.

Ihre Geschichten sind auch die eines Grenzgängers. Haben Sie manchmal Angst vor sich selbst, vor dem eigenen Übermut?
Altmann: Gewiss. Dass die Leser irgendwann das Handtuch werfen und die Zumutungen nicht mehr aushalten. Jene Leser, die nach dem „guten Buch“ greifen. Aber hier greifen sie daneben. Denn hier stehen Stories „for adults only“.

6 Kommentare zu “Zuhause muss ich mich an den Schreibtisch nageln.”

  1. Dieter Schäfer |

    Lieber Andreas Altmann – in PARIS !
    Der Georg Stefan Troller hat’s einmal dergestalt zum Ausdruck gegeben:
    „Die Pariser haben sich eine Stadt geschaffen, deren Zweck es ist, das Leben zu intensivieren!“ – Wohl wahr …

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    1. Dieter Schäfer |

      … wir wissen „darum“!

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  2. Dieter Schäfer |

    In all seinen Veröffentlichungen schreibt sich Andreas Altmann – EINER der besten der Jetztzeit – so mitreißend, spannungsgeladen und gefühlsbestimmt durchweg „die Seele aus dem Leib“ …

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  3. Klaus |

    Gescheit und trotzdem verwundet und therapiebedürftig?
    Wieso sollte das nicht zusammengehen?
    Im Grunde ist das doch der Standard: viele Menschen sind im gängigen Sinne intelligent – aber emotional (hoch)geschädigt und (hoch)verweundet. Gerade auch in DE: man schaue sich den Sozialisierungsprozess – in sich selbst – ehrlich und direkt an.

    Und dann prüfe man das „human potential“, das Potenzial, welches ein Individuum hat / hätte.

    Andreas Altmann ist für mich ein vorbildlicher „Kämpfer“, der seinen „inneren Jihad“ (einen anderen gibt es m.E. nicht) akribisch und erfolgreich durchgeführt hat.

    Thumbs Up.

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  4. Annette Christine Hoch |

    Unverständlicher Kommentar.

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  5. Weiß |

    Schreiben kann er.
    Provozieren auch.
    Ob alles wat ist?- Im „Scheißleben“…
    Oder hat ers nur so empfunden.
    Und warum brauch ein gescheiter Kopf,
    zwei Jahrzehnte Psychotherapie?
    Die verrückt machen- und selbst hilflos sind?
    Wem ist zu trauen……….?

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