Andreas Steinhöfel

Niemand traut sich mehr, ruhig zu erzählen.

Mit „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ ist eines der erfolgreichsten Kinderbücher der letzten Jahre verfilmt worden. Autor Andreas Steinhöfel spricht im Interview über Sehgewohnheiten, "Hängemöpse" und wie Kinder mit Gewaltdarstellungen und Pornografie konfroniert werden.

Andreas Steinhöfel

© Carlsen Verlag

Herr Steinhöfel, Sie haben einmal gesagt, wenn ein Buch von Ihnen verfilmt wird, dann sei das „wie ein Sechser im Lotto“. Was freut Sie am meisten, wenn eines Ihrer Bücher verfilmt wird?
Andreas Steinhöfel: Ein Sechser im Lotto ist es, wenn etwas verfilmt wird, der nächste Sechser ist es, wenn der Film dann auch noch gut ist. Als Autor fragst du dich ja immer, ob sie den Geist des Buches treffen. Und das hat hier, bei „Rico, Oskar und die Tieferschatten“, einfach super funktioniert, da bin ich extrem happy.

Woran zeigt sich das?
Steinhöfel: Der Film ist dicht am Buch. Das ist kein Qualitätsmerkmal per se, aber es funktioniert gut. Die haben sich nicht irgendwelchen Mist dazu ausgedacht. Vor allem sind sie emotional an den Figuren geblieben. Das macht mir am meisten Spaß, dass ich die Figuren wiedererkenne. Die „Rico, Oscar…“-Bücher leben ja davon, dass es eine Krimigeschichte gibt, die erstmal in den Hintergrund tritt. Mir geht es mehr um die Gefühle zwischen den Figuren, den Kindern und Erwachsenen, zwischen den Kindern untereinander. Diese emotionalen Bezüge hat die Regisseurin Neele Leana Vollmar hergestellt. Das ist ein großes Glück.

Sie meinen, das kommt selten vor?
Steinhöfel: Wenn du einen Film machst, inzwischen ist es beim Fernsehen auch so, dann musst du erstmal zehn Minuten auf die Action-Kacke hauen. Das muss hier flutschen, dort Bumm-Bumm machen, damit der Zuschauer überhaupt bei der Stange bleibt. Das geht mir zunehmend auf die Nerven, dass niemand sich mehr traut, ruhig zu erzählen und der Geschichte und den Beziehungen zwischen den Figuren vertraut. Ich gucke ja im Leben auch nicht dauernd, ob irgendwo ein Auto gegen die Wand fährt und sage dann: „Oh, jetzt fühl ich mich aber lebendig.“ Das ist ja völliger Aberwitz, zu denken, der Filmzuschauer brauche das.

Zitiert

Wenn du einen Film machst, dann musst du erstmal zehn Minuten auf die Action-Kacke hauen.

Andreas Steinhöfel

Würden Sie generell sagen, dass sich Bücher besser eignen, die Innensicht und die Gefühlswelt einer Figur zu schildern?
Steinhöfel: Das weiß ich nicht. Es gibt viele Filme, die das können. Aber das ist dann nicht das große Action-Kino, dann man muss Ingmar Bergman gucken oder „La Strada“ von Fellini. Da ist man auch ganz tief in den Emotionen der Figuren drin. Film kann richtig viel mit den ihm eigenen Mitteln. Wenn du Glück hast packt ein Film fünf Minuten Erzählzeit in ein einziges Bild.

Plakat Rico, Oskar, TieferschattenWelche filmischen Mittel in „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ sind Ihnen aufgefallen?
Steinhöfel: Die Farbdramaturgie, mit welcher der Film die emotionale Komplexität deutlich macht. Das hab ich erst beim dritten oder vierten Anschauen gerafft. Da ist ein Raum grün, einer orange, einer rosa. Und je nachdem, wie die Figuren charakterisiert sind, hängt da ein Mobile im Bild, oder es sind alle Farben drin, ein paar Kartons stehen herum, die sind dann bunt, oder nur rot, woanders nur blau. Das ist clevere Arbeit.

Werden Sie von Eltern eigentlich hin und wieder dafür kritisiert, dass Sie Ausdrücke wie „Hängemöpse“ verwenden?
Steinhöfel: Selten. Gott sei Dank! Das kommt vor, aber wo ist deren Problem? Die meisten Kinder auf dieser Welt, nicht nur in unserem Kulturkreis, haben schon mal Brüste gesehen und sogar im Gesicht hängen gehabt, man glaubt es kaum. Das sind so Sachen, die nehme ich nicht ernst. Ich würde das eher ernst nehmen, wenn von erwachsener Seite Einwände kommen, wie viel du einem Kind an Inhalten zumuten darfst. Aber nicht ein paar Brüste.

In jener Szene betrachtet sich Ricos Mutter vor dem Spiegel und stellt fest, dass sie „Hängemöpse“ hat. Ihre Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. Wie wird da mit so einer Szene umgegangen?
Steinhöfel: Ich war mal bei einem Übersetzerseminar, zwölf Sprachen waren dabei, und da wird ja zensiert bis hinten gegen. Nicht nur im Kinderbuch. In dem Fall sind die Brüste ganz oft rausgenommen worden. Dann steht sie halt nur vor dem Spiegel und schaut sich an.

Und da haben Sie auch kein Vetorecht?
Steinhöfel: Nein, überhaupt nicht. Ich würde es ja auch meistens gar nicht mitkriegen, weil ich die Sprachen in der Regel gar nicht verstehe.

Ricos Mutter arbeitet in einer Bar. Sie haben in einem Interview erzählt, dass Sie überlegt haben, ob Sie nicht auch eine Prostituierte sein könnte. Warum haben Sie sich letztlich für die Barfrau entschieden?
Steinhöfel: Es wäre mir an sich nicht mal zu viel gewesen. Ich kenne vom Taxifahren früher viele Prostituierte mit Kindern. Und die Kinder wussten auch sehr genau, was ihre Mama arbeitet. Aber in einem Kinderbuch müsste ich dann zu viel erklären und das hätte ein voyeuristisches Potenzial, das ich nicht bedienen möchte. Die Mama im Nachtclub arbeiten zu lassen, das kam mir entgegen.

Warum?
Steinhöfel: Mir geht es bei den Büchern und bei der Rico-Figur auch darum, Position in der Diskussion um Bildungsferne zu beziehen. Wir neigen da zum Schwarzweiß- und zum Schubladendenken, nachdem jeder Haushalt, der bildungsfern ist, der von Hartz 4 lebt, erstmal lauter kleine „Kevins“ und damit Problemkinder schafft. Mir geht das wahnsinnig auf den Zeiger. Dieses Bild wollte ich ein bisschen gerade rücken. Es gibt massenweise Leute, die in prekären Verhältnissen leben, die ungebildet sind, aber absolut liebevoll mit ihren Kindern umgehen. Liebevoller als irgendwelche Psychos aus einem Bildungsbürger-Haushalt, wo die Kinder dann mit 20 in der ersten Analyse sitzen für die nächsten fünf Jahre.

Es gibt im Buch die Formulierung, dass Rico „ein bisschen behindert“ ist. Das kommt im Film so nicht vor. Wurde das im Vorfeld thematisiert?
Steinhöfel: Nein, ich glaub nicht. Im Film ist ja einmal ein wunderschönes „Spasti“ zu hören, als die Mädels zu ihrem Wohnmobil gehen: „Ey Spasti, du stehst vor unserem WoMo“, was ich total geil finde. Das wegzulassen wäre auch genau die Form von politischer Korrektheit, die falsch ist, denn Kinder benutzen nun mal Wörter wie „Spasti“, „du bist voll behindert“ und „du kleine Schwuchtel“. Da habe ich als Autor dann auch kein Problem mit und benutze diese Begriffe natürlich auch. Ich will die Kinder ja ernst nehmen. Natürlich kann ich zeigen, wie sich ein Kind fühlt, zu dem du dauernd „Spasti“ sagst, und das tu ich ja auch. Aber erstmal wird das Wort eben auch einfach so genutzt, wie es genutzt wird.

Im Internet haben Kinder heute leichten Zugang zu Gewaltdarstellungen und Pornografie. Müssen sich Kinderbücher daran anpassen?
Steinhöfel: Da gibt es bestimmt Verlage, die sagen würden: Ja. Und ich würde mal sagen… Also, ich habe meinen ersten Porno gesehen, als ich elf war, weil ein Nachbarjunge entsprechendes Material hatte. Das hatte er seinem Papa aus dem Schrank geklaut. Heute kriegst du es halt auf Klick. Der Umgang damit ist aber gleich: Wenn es dich überfordert, schaltest du ab – und wenn es dich anmacht, guckst du es dir wieder an. So einfach ist das. Ich würde nie einen Freibrief für irgendwas ausstellen und finde auch, dass du als Erwachsener heute viel mehr in der Pflicht bist, auf deine Gören aufzupassen. Schrecklich finde ich allerdings, dass sie deswegen den Kindern immer mehr Sturzhelme aufsetzen, in allen möglichen Lebensbereichen.

Sie meinen, es ist wichtiger, Kindern den Umgang mit Gefahren beizubringen, als sie in scheinbarer Sicherheit zu wiegen?
Steinhöfel: Ich glaube an so etwas wie Selbstheilungskräfte in Kindern und ich glaube auch wirklich, dass Kinder, wenn sie überfordert sind, dicht machen. Was immer gegeben sein muss, ist: Ein verantwortungsvoller Anlaufpartner für Kinder, wo sie diese Überforderung äußern können. Sonst kommt es eventuell dazu, dass die Kiddies versuchen, irgendwelche wilden, bekloppten Sexualpraktiken nachzustellen, weil der Pornofilm als solcher eben den regulären Beischlaf nicht zeigt, der ist ja meistens nicht so spektakulär.

Wenn Sie sagen, Sie haben mit elf den ersten Porno gesehen, was wäre eine sinnvolle Altersgrenze für den legalen Konsum von Pornografie?
Steinhöfel: Ich sage nicht, dass elf das richtige Alter ist. Ich denke, es gibt ein Alter, wo es sich von selbst reguliert. Kinder fangen dann an, sich für Sexualität zu interessieren, wenn sie in die Pubertät kommen und der Körper sich verändert. Alles vorher ist Überforderung. Das normale Kind, dem es gut geht, guckt da einfach nicht hin. Das sagt: „Was ist das denn für ein Quatsch, das brauche ich nicht. Ich gucke lieber weiter Biene Maja.“

Also wären wir beim Alter von 15, 16 Jahren.
Steinhöfel: Ja, wo immer das dann ansetzt, von mir aus auch mit 12 oder 13.
Aber nicht, dass das jetzt missverstanden wird: Ich mag diese grundsätzliche Zugänglichkeit von Inhalten nicht. Und da ist Pornografie für mich noch hinten an, ich finde Gewaltdarstellungen viel schlimmer. Dass da Wettbewerbe auf den Schulhöfen laufen von wegen „Wer hat das geilste Video?“ Da werden irgendeinem die Zähne eingeschlagen, „Alter, guck mal, wie’s kracht.“ Das ist nicht gut, das ist überhaupt nicht gut. Da muss man extrem aufpassen. Ich denke allerdings, die Dinge, die wir da auf die Welt losgelassen haben, wird man nicht mehr los. Das ist wie eine Seuche.

Aber wie gehen Sie als Autor damit um, das Kinder heute anders aufwachsen?
Steinhöfel: Ich habe jetzt ein neues Buch gemacht, „Anders“ heißt es, das kommt im Herbst heraus. Da geht es erstens um Überbehütung und zweitens um genau dieses Thema, wie man gewissen Inhalten heutzutage ausgesetzt ist. Wenn ich fair bleiben wollte, müsste ich das auf 100 verschiedene Weisen thematisieren und das schaffe ich gar nicht. Weil eben nicht alle Menschen gleich sind. Du kannst nicht sagen: Pornografie und Gewaltdarstellungen sind per se für Kinder schädlich, weil jedes Kind anders damit umgeht. Ich weiß nur, dass es Inhalte gibt, die würde ich nicht zeigen wollen, vor denen würde ich auch meine Kinder schützen, wenn ich welche hätte und ich wäre extrem angepisst, wenn ich sehen würde, dass andere Menschen sie ihnen zugänglich machen.

Da sprechen Sie jetzt weniger als Autor, sondern als Bürger…
Steinhöfel: Und da sehe ich auch, dass es staatlicherseits, also dort, wohin ich als Erwachsener per demokratischer Wahl meine Verantwortung mit hin delegiere, dass es denen am Arsch vorbeigeht, weil man damit echt Kohle machen kann. Das ist so etwa wie mit dem Rauchen. Wenn der Staat nicht so viel daran verdienen würde, wäre das längst komplett verboten. Und so wird in mancherlei Hinsicht auch mit der Kindheit umgegangen. Guck dir mal die ganzen Bildungsexperimente an: Wir machen mal acht Jahre Gymnasium. Ach nee, wir machen wieder neun Jahre. Wir machen mal Inklusion, da haben wir eigentlich kein Geld für, aber jetzt haben wir es angefangen, also machen wir mal weiter. Einer muss es immer ausbaden und das sind nicht die Politiker, die diese Sachen initiieren. Das sind die Kinder und deren Eltern.

Um noch einmal auf die Szene mit Ricos Mutter zurück zu kommen. Sie steht vor dem Spiegel und stellt fest, dass sie sich ihre „Hängemöpse“ neu machen lassen will, weil sie ihr „Betriebskapital“ sind. Könnte das nicht negativ auf junge Mädchen wirken, wenn man das so unhinterfragt stehen lässt?
Steinhöfel: Ich bin kein Psychologe, ich weiß es nicht. Ich weiß, dass mir das als Kind überhaupt nichts ausgemacht hätte, ich hätte mich totgelacht. Ich weiß nur, dass es genügend Kontrollinstanzen gibt, die abwägen, ob das okay ist, bevor so ein Buch auf den Markt kommt.

Auch bei Ihnen?
Steinhöfel: Natürlich. Im Verlag sitzen Leute, die da draufgucken und die gegebenenfalls sagen: Das geht nicht. Man muss allerdings aufpassen, im Moment gibt es so eine kleine Welle in der Jugendliteratur, wo extrem gewalttätige Sachen auftauchen. Mir hat vor zwei, drei Jahren mal ein Verleger gesagt: „Ich bin inzwischen bereit, aus schierer Verzweiflung alles auf den Markt zu bringen, was durch unser Grundgesetz nicht ausdrücklich verboten ist.“ Da war ich geschockt. Die machen alles, was Verkaufspotenzial hat. Und wenn ich jetzt Jugendbücher schreibe, die gemacht sind, wie die Film-Reihe „Saw“, die ich mehr unter Gewaltpornografie einordnen würde, dann machen die das. Da denke ich, wenn du dem entgegenwirken willst, dann musst du die Systemfrage stellen.

Sie meinen, man müsste dann den Kapitalismus in Frage stellen?
Steinhöfel: Ja, absolut. Oder von mir aus wäre das auch eine Frage von Demokratie oder Diktatur. Das sind ganz schwierige Entscheidungen, dagegen sind die Brüste der Mama im Spiegel absolute Nebenkriegsschauplätze. Am Schluss musst du dich immer fragen: Möchte ich in einer Gesellschaft leben, in der das gezeigt werden darf oder nicht? Oder, wenn es gezeigt wird, qui bono? Wer profitiert davon?

In welcher Gesellschaft möchten Sie leben?
Steinhöfel: Ich plädiere dafür, dass innerhalb bestimmter Grenzen, die ich mir als Autor selber stecke, ganz viele Dinge machbar sind. Ich möchte schon in einer Welt leben, die nicht sofort Kopf steht, wenn eine Mutter mit nackten Brüsten vorm Spiegel steht. Ich würde aber selber Amok laufen oder auf der Matte stehen, wenn die Mutter vorm Spiegel steht und sich vor den Augen des Kindes die Pulsadern öffnet, um es jetzt krass zu machen. Das sind die Grenzen, wo ich mich als Autor frage: Wo ist deine Verantwortung? Ich muss immer dafür sorgen, dass das Kind, das das liest, auch vom Text wieder aufgefangen wird. Es ist ein Unterschied, ob Ricos Mama ihm die nackten Brüste zeigt, oder ob es die Nachbarin wäre. So platt das jetzt auch klingt.

Eine letzte Frage: Sie haben einmal gesagt, dass viele deutsche Autoren sich zu sehr bemühen, literarisch wertvoll zu sein. Will das nicht jeder?
Steinhöfel: Nein, gar nicht. Entweder du bist „literarisch wertvoll“, oder du bist es nicht. Das ist ja leider die Krux der deutschen Nachkriegsliteratur, dass man dachte: Wenn ich aus drei Hauptsätzen einen Hauptsatz mit zwei Nebensätzen mache, oder vielleicht noch zwei hintendran kleistere, dann geht das mehr so Richtung Literatur. Das ist natürlich Schwachsinn! Aber so ein kopflastiger Scheiß wurde ganz viel gemacht. Und wenn du das runterbrichst auf das, was da eigentlich ausgesagt wird, dann steht da nichts anderes drin als bei der Kitschautorin Hedwig Courts-Mahler. Es gibt einen sehr schönen Satz bei Umberto Eco im „Foucaultschen Pendel“: „Ich kann die Wahrheit der Welt in der „Missa Solemnis“ ausbreiten, oder ich kann es im Groschenroman schreiben. Aber am Schluss kommt es immer auf dasselbe raus. Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich?“ Es ist natürlich eine Frage, wie viel Vergnügen das beim Lesen bereitet. Schöne Sprache ist was Tolles.

Und welchen Anspruch haben Sie an Ihr Schreiben?
Steinhöfel: Ich versuche, Unterhaltung mit Anspruch zu paaren. Dass es immer doppelbödig ist, wie die „Rico“-Geschichten. Du kannst sie als Actiongeschichten mögen, aber unten drunter kannst du noch mehr finden.

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