Anna Calvi

Musik hat kein Geschlecht

Die Sängerin und Songwriterin Anna Calvi spricht im Interview über Ehrlichkeit in der Musik, Operngesang, ihr Bühnen-Outfit und die Rolle von Miley Cyrus für die Frauenbewegung.

Anna Calvi

© Roger Deckker

Anna Calvi, die Berliner Zeitung schrieb einmal, dass man Sie „nicht als singende Songschreiberin, sondern als komponierende Instrumentalistin“ begreifen sollte. Sehen Sie das ähnlich?
Anna Calvi: Ich denke, an dieser Beschreibung ist schon etwas dran. Ich versuche eine Atmosphäre zu schaffen, in der ich meine Geschichten mit meinen Texten erzählen kann. Aber ich bewege mich dabei trotzdem in gewöhnlichen Song-Strukturen. Ich würde also nicht soweit gehen, zu sagen, dass ich kein Songwriter bin.

Wie wichtig ist Ihnen denn eine Song-Struktur?
Calvi: Es gibt in allen meiner Songs eine Struktur. Manchmal kommt diese mehr und manchmal weniger stark zum Vorschein. Das hängt wahrscheinlich auch von den Hörgewohnheiten des Publikums ab.

Der Komponist Philip Glass sagte einmal hier im Interview, es gebe einerseits Künstler, die Neues erfinden und andererseits jene, die lediglich Altes neu verpacken. In welche Kategorie passt Anna Calvi?
Calvi: Ich verstehe was er meint, aber für mich spielt so eine Aufteilung keine Rolle. Für mich ist es wichtig, Musik zu schreiben, die sich für mich richtig anfühlt. Im Sinne einer Individualität scheint mir das der einzige mögliche Weg. Aus heutiger Sicht wurde doch alles schon einmal erfunden. Uns bleibt also nur noch übrig, die Dinge auf die eigene individuelle Art auszudrücken. Und man sollte ehrlich mit dem umgehen, was man fühlt.

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Ich denke schon, dass es immer noch einen gewissen Druck gibt, den ‘männlichen Blick’ zu bedienen, aber das bedeutet nicht, dass man diesem Druck nachgeben muss.

Anna Calvi

Wenn alles schon erfunden wurde, wie gelingt es Ihnen dann, etwas Unkonventionelles zu erschaffen?
Calvi: Das ist es, was ich meine: Ich nehme meine ganze Liebe für Musik und meine Inspiration, um daraus etwas zu machen, was für mich einzigartig ist. Meine Stimme ist ganz allein meine und deshalb ist auch meine Musik einmalig. Für mich funktioniert Musikmachen nur, wenn die Motivation darin besteht, ehrlich zu sein. Wenn die Motivation ist, viel Geld zu machen und einen Hit zu schreiben, dann wird das wahrscheinlich nicht in einem Rahmen passieren, in dem genügend Platz für diese Einzigartigkeit ist. Das ist meine Theorie. Ich glaube, nur durch den ehrlichen Ausdruck kann es einzigartig sein.

Bedeutet das auch, dass es mit Einzigartigkeit schwieriger ist, Geld zu verdienen, in der Musikbranche?
Calvi: Ich denke schon, dass es schwerer ist.

Sie nennen als einen Ihre Einflüsse auch Maria Callas. Betreiben Sie stimmlich für ein Konzert ähnlichen Aufwand wie es Opernsänger tun?
Calvi: Ich stecke schon eine ganze Menge Arbeit in meine Stimme. Das ist aber nicht zu vergleichen mit einem professionellen Opernsänger, der seine Stimme trainieren muss, um so singen zu können, das geschieht im Opernbereich ja auf einem ganz anderen Level als bei Pop- oder Rock‘n’Roll-Sängern. Aber die Art und Weise wie ich jede einzelne Note singe ist mir sehr wichtig, das ist mir keinesfalls gleichgültig. Insofern gibt es schon gewisse Ähnlichkeiten bei der Herangehensweise.

Ist Ihre Stimme oder die Gitarre für Sie das stärkere Instrument?
Calvi: Ich denke, beides ist für mich gewissermaßen wichtig, und das eine sollte jeweils eine Erweiterung des anderen sein.

© Roger Deckker

© Roger Deckker

Martin Gore (Depeche Mode) sagte einmal sinngemäß, einen guten Song könne man immer auf der Gitarre spielen. Was macht für Sie einen guten Song aus?
Calvi: Mir fällt dazu ein, was John Lennon einmal gesagt hat: “Just say what it is, simple English, make it rhyme and put a backbeat on it …”
Ich verstehe, was Lennon damit meint. Zu wissen, was man sagen möchte, und dies in eine klar verständliche Form zu packen, ist das Wesentliche an einem Song. Das gilt sowohl für einen einfachen Popsong als auch für eine extreme Form von Avantgarde-Musik. Wichtig ist eine klare Botschaft, die für das Publikum verständlich ist, egal ob für 15-jährige Mädchen oder Klassikhörer. Es geht vielmehr um die Absicht, deine ehrliche Absicht.

Welche Musiker fallen Ihnen spontan ein, die Ihnen ehrlich erscheinen?
Calvi: Bei Sängern höre ich das zum Beispiel bei Edith Piaf. In ihrer Stimme klingt eine gewisse Hässlichkeit mit, es ist immer ungeschönt und sie drückt sich in einer fast primitiven Art und Weise aus. Oder wenn ich Lou Reed höre, habe ich das Gefühl, dass er bestimmte Dinge seines Lebens stark verinnerlicht hat und dies in seinen Songs weiter-kommuniziert hat.
Ich denke, man kann es erkennen, wenn Musik ehrlich ist. So kommt ja letztlich auch die Verbindung zum Hörer zustande.

Angenommen Ihre Musik wäre ein Soundtrack, wie sähe der passende Film dazu aus?
Calvi: Wahrscheinlich wäre es ein Drama, eine brutale Liebesgeschichte (lacht). Mir geht es ja nicht nur um das Süße und Schöne, sondern auch um die dunklen und gefährlichen Seiten, die Gewalt.
Ich liebe Filme, die tolle Bilder zeigen. Die Filme von Wong Kar-Wai sind prächtig und wunderschön. Wenn ich Songs schreibe, eine gewisse Atmosphäre und Textur schaffe, dann ist das für mich so ähnlich, als wenn jemand diese Schönheit im Film kreiert. Der passende Film wäre also schön im filmischen Sinn.

In welchem Verhältnis steht dazu Ihr Bühnen-Outfit, das etwas streng wirkt und Sie unnahbar erscheinen lässt?
Calvi: Ich mag das Gefühl, mit einer gewissen Eleganz auf die Bühne zu gehen. Mit meiner Kleidung unterstreiche ich ein eher klassisches Erscheinungsbild. Besonders beim ersten Album gab es bei mir diesen Einfluss durch Flamenco-Kleider – weil ich will, dass die Art wie ich mich kleide, auch die Leidenschaft meiner Musik widerspiegelt.

Mit Ihrem musikalischen Werk und mit Ihrem Auftreten verkörpern Sie ein sehr starkes Frauenbild. Sind Frauen und Männer im kulturellen Bereich heutzutage schon gleichberechtigt? Oder bedienen weibliche Künstler noch immer den „male gaze“, den männlichen Blick?
Calvi: Ich denke schon, dass es immer noch einen gewissen Druck gibt, den ‚männlichen Blick‘ zu bedienen, aber das bedeutet nicht, dass man diesem Druck unbedingt nachgeben muss. Ich persönlich muss auch sagen, dass das in meiner Karriere keine Rolle gespielt hat.
Dennoch habe ich das Gefühl, dass die Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Künstlern noch sehr häufig gemacht wird. Man wird nicht einfach als Künstler und unabhängig von seinem Geschlecht wahrgenommen, sondern es findet eine ganz klare gender-spezifische Unterscheidung statt. Nach dieser Definition geht es mehr um dein Geschlecht als um dein künstlerisches Schaffen. Das empfinde ich als Ungleichgewicht.

Somit werden auch weibliche Künstler meist nur mit weiblichen Künstlern verglichen. Sie allerdings werden aufgrund Ihres Gitarrenspiels oft mit Männern wie z.B. Jimi Hendrix verglichen.
Calvi: (lächelnd) Ja, das ist doch gut. Musik hat ja kein Geschlecht. Die Idee, Künstler abhängig von ihrem Geschlecht zu beurteilen, macht überhaupt keinen Sinn.

Was denken Sie über Kolleginnen wie Miley Cyrus? Wenn das Ziel die Gleichstellung männlicher und weiblicher Künstler ist, war ihr Auftreten dafür förderlich oder kontraproduktiv?
Calvi: Ich habe das Gefühl, sie tut gleichzeitig Dinge für und gegen eine Gleichstellung und nimmt sich allerdings damit selbst jegliche Wirksamkeit. Allerdings bringt sie die Leute dazu, über diese Aspekte zu reden, ob sie es nun beabsichtigt hat oder nicht. Man diskutiert an ihrem Beispiel die Rolle der weiblichen Künstlerin und was man von ihr erwartet.
Auf der anderen Seite, wenn Miley Cyrus das Bedürfnis hat, nackt herumzulaufen und sie sich dabei wohl fühlt, dann soll sie es machen. Bei Kunst geht es doch vor allem um die Freiheit, die man hat. Wenn sie eine Performance-Künstlerin wäre und nackt herumläuft, dann würden die Leute wahrscheinlich einfach sagen: Das ist Kunst.

Und der Aspekt des „male gaze“ – bediente Cyrus mit ihrem freizügigen Auftreten im Musikvideo „Wrecking Ball“ nicht zu hundert Prozent den männlichen Blick?
Calvi: Ja, sie setzt absolut auf diese Karte. Aber gleichzeitig entstand durch ihre Aktion eine Diskussion darüber, wie falsch es ist, dass Popstars sich so präsentieren müssen. Damit unterstützt sie in gewisser Weise den feministischen Gedanken, selbst wenn sie dies gar nicht beabsichtigt hatte. (lacht)

Zum Schluss noch ein anderes Thema: Wir sprachen kürzlich mit der Songwriterin Wallis Bird, die von London nach Berlin gezogen ist. Sie beklagte, es drehe sich in London zu viel ums Geldverdienen, das Leben sei „sehr konkurrenzbestimmt“. Sie wohnen in London, können Sie diese Äußerung nachvollziehen?

Calvi: Hmm, wirklich reizvoll ist es in London nicht mehr und ich denke derzeit ernsthaft darüber nach, woanders hinzugehen. Wenn ich an meinem nächsten Album arbeite, könnte ein anderes, neues Umfeld ein stimulierender und inspirierender Einfluss sein. Aber für mich wäre die Frage des Erfolges nicht der ausschlaggebende Grund, London zu verlassen oder in London zu bleiben. Ich finde aber den Gedanken reizvoll, dass man immer dorthin geht, wo man den Freiraum hat, erfolgreich zu sein oder auch zu scheitern. Für mich ist das eher ein spielerischer Umgang mit dem eigenen Tun

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