Anna Melikian

In Moskau leben die Leute in einer Stadt, aber auf verschiedenen Planeten.

Regisseurin Anna Melikian über ihren Film „Rusalka“, reiche Moskauer, die russische Filmlandschaft und die Bedeutung von Märchen

Anna Melikian

© Berlinale

Frau Melikian, in Ihrem Film „Rusalka“, den Sie auf der 58. Berlinale vorgestellt haben, gibt es reiche Moskauer, die sich Grundstücke auf dem Mond kaufen, zu Hause ein Teleskop stehen haben…
Melikian: Und dabei sieht man über Moskau gar keine Sterne – ich weiß nicht, wo diese Leute hinschauen.

Aber es gibt in Moskau Geschäfte voll mit Fernrohren und Teleskopen.
Melikian: Weil es in Russland viele reiche Leute gibt. Und wenn die Geburtstag haben und man ihnen etwas schenken will, tja, was dann? Schlips oder Socken kann man denen ja nicht schenken. Also fangen die Leute an, sich außergewöhnliche Sachen auszudenken, weil irgendwas muss man ja schenken. Und im Moment gibt es in Moskau viele Geschäfte, wo es viele unnütze aber dafür sehr teure Sachen gibt. Dazu gehören auch diese Teleskope.
Und dass sich die Leute in meinem Film Stücke vom Mond schenken – das ist gerade auch sehr im Trend: ein Papier zu schenken, auf dem steht, „Ihnen gehört ein Stück Mond“ … Das ist absolut offiziell.

In Ihrem Film klingt es mitunter so, als würden manche Leute Grundstücke auf dem Mond kaufen, für den Fall, dass es ihnen auf russischem Boden zu gefährlich wird.
Melikian: Das ist natürlich ein Witz im Film. Das ist bei den reichen Russen mehr so eine Laune: Wenn du schon alles hast, dann willst du irgendwas Ausgefallenes. Also kaufen die Leute ein Stück vom Mond.
Was unter den Reichen im Moment auch sehr angesagt sind, sind die „Igri“ (dt. „Spiele“): sie verkleiden sich wie Obdachlose und bekommen dann Aufgaben wie: Wer schafft, es kostenlos bis zum Bahnhof zu fahren? So was wird von Agenturen für Reiche organisiert. Den Leuten ist langweilig und sie denken sich verschiedene Spiele für den Nervenkitzel aus. Weil es ist einfach langweilig ist, reich zu sein.

Was war denn das Ausgefallenste für Sie, wo jemand eine große Summe für einen kleinen Gegenstand ausgegeben hat?
Melikian: Also, wenn man zum Beispiel ins GUM geht (bekanntes Kaufhaus in Moskau am Roten Platz) und sieht, was Damenschuhe kosten können – also, ich fände es absolut unsinnig, für Schuhe 20.000 Dollar auszugeben. Aber solche Dinge gibt es sehr viele..

Ist Russland ein gutes Land für Kinoregisseure?
Melikian: Ich denke, ja. Weil Russland ist ein Land der unerwarteten Ereignisse, der Überraschungen. Ein Land, das für einen denkenden, einen beobachtenden Menschen sehr interessant sein kann. Und was ist denn ein Regisseur? Er erzählt ja nicht einfach nur eine Geschichte, sondern er gibt weiter, was er sieht. Und in dieser Hinsicht ist Russland interessant, es passiert viel, es wird nicht langweilig. Vor allem nicht in Moskau. Das ist ein großes Megapolis, du kannst in der Stadt hier jede beliebige Geschichte finden. Angenommen Sie lassen fünf Regisseure in diese Stadt: jeder wird Ihnen einen komplett anderen Film drehen. Jeder sieht seine Stadt, seine Geschichte – es gibt einfach verschiedene Planeten in Moskau.

Und Stichwort Film-Finanzierung?
Melikian: Für Kino ist Geld da. Wenn du ein gutes Drehbuch hast und schon eine Arbeit, mit der du unter Beweis stellst, dass du Regisseur bist, dann ist es im Prinzip kein Problem, einen Kinofilm zu drehen. Es ist nicht schwer, dafür Geld zu finden.

Und wer gibt dieses Geld?
Melikian: Es gibt eine große Anzahl Produktionsfirmen, die wissen, wo sie ihr Geld herbekommen. Es gibt die Regierung, es gibt private Investitionen… Es gibt heute ein großes Interesse, weil man bei uns mit Kino inzwischen Geld verdienen kann. Vielleicht nicht mit Filmen wie meinen, aber mit den Kassenschlagern, Massenfilmen…

…wie zum Beispiel „Wächter des Tages“…
Melikian: …oder „Ironya Sudbi 2“ der schon 50 Millionen eingespielt hat. Und jetzt gibt es russische Parodien auf bekannte russische Filme, so ähnlich wie die etwas stumpfsinnigen amerikanischen Komödien. Das machen die Leute vom „Comedy Club“ aus dem russischen Fernsehen, deren letzter Film hat bei uns alle Rekorde gebrochen.

Aber auch Ihre Filme haben eine Chance…
Melikian: Ja, allerdings eher auf DVD. Ins Kino gehen die Leute vor allem für Popcorn-Filme. Aber diejenigen, die feinsinniges, kluges, europäisches Kino mögen, die schauen sich das lieber zu Hause auf ihrem großen Plasma-Bildschirm an.

Kann man in Moskau überall drehen?
Melikian: Ja, ich denke schon. Es gibt bestimmte Prozeduren die man mitmachen muss, viele Papiere müssen unterschrieben werden, man muss zu einer Vielzahl von Behörden, weswegen die Vorbereitungsphase eines solchen Films oft zwei bis drei Monate dauern kann. Und dann, wenn du in der Stadt filmst, ist die Polizei immer an deiner Seite, kümmert sich um die Absperrungen…

Wenn Sie eine Genehmigung einholen müssen, schauen sich die Leute den Inhalt Ihres Drehbuchs an?
Melikian: Das bezweifle ich. Einige bitten darum, denen geben wir es natürlich auch. Aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass irgendein Polizist ein Drehbuch von mir liest.

Ihr Film ist locker an Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ angelehnt. Wie wichtig sind heute Märchen in Russland?
Melikian: In Russland sind Märchen immer wichtig, weil die Russen in ihrer Natur etwas Romantisches und Kindisches haben, ich glaube, Märchen werden bei uns immer populär sein.
Ich hatte aber nicht von vornherein den Wunsch, das Märchen von Andersen zu verfilmen. Ich dachte nur irgendwann beim Schreiben des Drehbuches: „Hm, dieses Sujet kommt doch auch in diesem Märchen vor.“ Und ab da fiel es mir leichter, dem ganzen eine Form zu geben. Am Anfang waren das nur irgendwelche Einzelteile, mir war nicht klar, was ich damit mache. Aber als ich verstanden habe, dass das „Die kleine Meerjungfrau“ ist, verband sich all das von selbst, wie an einer Kette. Und zu den Produzenten, die ein Happy-End wollten, sagte ich: „Nein, das ist Andersen, bei dem gibt es keine Happy-End. Da kann ich gar nichts dafür.“
Und warum die Märchen im Kino wichtig sind: die Leute bei uns haben mittlerweile die Filme satt, wo nur gekämpft und geschossen wird. Sie wollen viel mehr einfache, menschliche Geschichten. Sie wollen weinen, Liebesfilme anschauen zum Beispiel.

Und wie steht es um Dokumentarfilme? Ist es heute nicht schwer, in Russland Dokumentarfilme zu drehen?
Melikian: Nein. Gerade in Russland werden sehr viele, sehr gute Dokumentarfilme gedreht. Das war schon immer so. Auch in Zeiten, wo es beim Drehen von Spielfilmen Probleme gab, hat die russische Dokumentarfilm-Schule zu den besten der Welt gehört und auf allen Dokumentarfilm-Festivals gewonnen …

Zitiert

Mir erschien es so, als wäre das Kreml-Drehbuch schon lange geschrieben, alle Helden schon aufgestellt und dass es nur Zeitverschwendung wäre, zur Wahl zu gehen.

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Was für einen Film würden Sie da als aktuelles Beispiel nennen?
Melikian: Den Film „Mats“ (dt. „Mutter“) von Pavel Kostomarov, einer unserer besten jungen Dokumentarfilmer. Alle Filme, die er in letzter Zeit gedreht hat waren sehr stark. Einen Dokumentarfilm zu drehen ist auch nicht schwer, du kannst dir eine Digitalkamera nehmen, heute hat jeder zweite so eine Kamera… Das kostet alles nicht so viel, wie einen Spielfilm zu drehen.

Welche Gedanken haben Sie zur Zukunft Russlands?
Melikian: Ich weiß nicht, wie Russland dann aussehen wird. Weil die Unvorhersagbarkeit so groß ist. Jetzt haben wir Wahlen und angeblich wissen die Leute schon alles, wer Präsident wird, wie es weitergeht. Aber die russische Geschichte zeigt, dass in Russland nichts so vorhersehbar ist…

Was die Bedeutung der Mittelklasse in Russland anbelangt…
Melikian: Die Mittelklasse ist bei uns noch eine sehr schmale, wie in vielen Ländern, die noch nicht so weit entwickelt sind. Es gibt unglaublich reiche und unglaublich arme Menschen. Und natürlich regt einen das sehr auf. In Moskau leben die Leute in einer Stadt, aber auf verschiedenen Planeten. Das zu beobachten kann interessant sein, aber für die Entwicklung des Landes ist das natürlich schlecht. Wir brauchen eine Mittelklasse. Sie entwickelt sich, aber bislang ist sie sehr klein.

Der Schriftsteller Wladimir Sorokin beschreibt in seinem Buch „Der Tag des Opritschnik“, wie Russland sich 2027 mit einer großen Mauer vom Westen abgeschottet hat…
Melikian: Ich denke, so etwas ist heute nicht mehr möglich. Eine Wiederholung dessen, wie das Land Jahrzehnte lang geschlossen war – mir scheint das unmöglich. Schließlich gibt es schon das Internet, welches die Leute befreit hat. Der Russe ist schon in die Welt entschlüpft, die Grenzen kann man nicht mehr schließen. Es existiert bereits eine direkte Verbindung zur Welt und ich denke nicht, dass man die mit einer großen Mauer unterbrechen kann. Es ist schon eine zu freie Generation herangewachsen, eine Generation, die anders ist als wir oder unsere Eltern und Großeltern zu Sowjetzeiten.

Welche Rolle spielen Filme bei der Entwicklung Russlands?
Melikian: Ich denke, wie in jedem beliebigen großen Land wird es das immer geben, dass die Regierung Filme bestellt, mit einer bestimmten Thematik…

Pardon, aber bei uns gibt es das so nicht.
Melikian: Das mag sein, aber bei uns gibt es solche Filme. Doch gleichzeitig wird es auch immer Filme geben, die man sozusagen auf eigene Bestellung macht, auf Wunsch des eigenen Herzens… Russland ist ein großes Land, beides hat hier seine Berechtigung.

Spielen Filme bei der Demokratisierung eine Rolle?
Melikian: Ja, ich denke Kino spielt da eine Rolle, weil das Kino immer das Leben im aktuellen Moment reflektiert. Die Ereignisse, die geschehen, reflektiert das Kino wie ein Spiegel.

Wenn die russische Regierung nun bei Ihnen einen Film „bestellt“ – würden Sie den drehen?
Melikian: Ich denke, ich bin nicht der passende Kandidat dafür. Ich drehe ausschließlich Filme für die ich selbst das Drehbuch schreibe. Ich glaube, ich bin für die Regierung nicht interessant, das ist sehr unwahrscheinlich. Ich beschäftige mich mit meinen Dingen, meinen Problemen, meinem Geist und ich versuche, mir Fragen zu stellen und mit Hilfe eines Films darauf Antworten zu finden.

Aber wenn man Sie plötzlich doch beauftragen möchte?
Melikian: Ich denke nicht, dass ich das könnte. Nicht weil ich es kategorisch ablehne, sondern ich bin einfach nicht fähig dazu. Ich kann es nicht und es wäre für mich auch nicht interessant.

Die Berlinale ist bekanntlich ein sehr politisches Festival – was war Ihre letzte politische Handlung?
Melikian: Ich bin ein so sehr unpolitischer Mensch. Vielleicht bin für politische Handlungen auch noch zu jung…

Sie sind auch nicht wählen gegangen?
Melikian: Nein, bin ich nicht. Ich beschäftige mich sowieso kaum mit Politik.

Glauben Sie, wenn Sie wählen gehen würden, könnten Sie etwas ändern?
Melikian: Ich denke nicht, deswegen bin ich auch nicht gegangen. Aber vielleicht habe ich Unrecht, vielleicht sollte man in der Tat wählen gehen.
Mir erschien es so, als wäre das Kreml-Drehbuch schon lange geschrieben, alle Helden schon aufgestellt und dass es daher nur Zeitverschwendung wäre, zur Wahl zu gehen. Besser verwende ich die Zeit für mein Kind zu Hause, das ist wohl insgesamt hilfreicher.

Und das Drehbuch für Russland ist schon festgelegt wie bei einem Film?
Melikian: In Russland ist nicht klar was passieren wird. Aber nichts desto trotz kann das Drehbuch schon geschrieben sein. Nur bedeutet das nichts, weil es ein zu sehr unvorhersehbares Land ist. Das ist wie bei beim Filme-Drehen: Du gehst mit dem Drehbuch raus zum Drehort – aber auf einmal ist dein Hauptdarsteller betrunken. Und schon verläuft alles ganz anders, weil es konkrete Ereignisse gibt, Unvorhersehbarkeiten, auf die du vorher nicht gekommen wärst.

Was würden Sie sagen, unterscheidet heute das russische Kino vom Rest der Filmwelt?
Melikian: Das ist schwer zu sagen. Es gibt bestimmte Tendenzen. Und im Moment zeigt sich, dass sich das russische Kino vom Action-Kino in Richtung europäisches Kino bewegt hat. Es gibt auf einmal sehr viele, sehr einfache, menschliche Geschichten. Das gab es vor zwei Jahren zum Beispiel noch nicht. Da wollten alle nur überraschen, alle wollten Attraktionen und Effekte – dem sind die Leute inzwischen müde geworden und sie haben angefangen, normale europäische Filme zu drehen.
Was das russische Kino heute auszeichnet? Hm, vielleicht eine Art Ausweglosigkeit. Und das Fehlen eines Happy-End.

Das Interview entstand im Februar 2008.

Anna Melikian wurde in Baku (Aserbaidschan) geboren und wuchs in Jerewan auf. 1994 zog sie nach Moskau, wo sie bis Film studierte, in der Klasse von Sergei Solowjow. Ihr Studium schloss sie 2002 ab. Zwischenzeitlich arbeitete sie auch in Deutschland mehr

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