Frau Hendel, das Wort „Vaterlandsverräter“ kommt in Ihrem Film über den Schriftsteller Paul Gratzik nicht vor. Warum dieser Titel?
Annekatrin Hendel: Es ist ein zwiespältiger Titel für einen Film über einen Mann von tiefer Zerrissenheit. Den Film nenne ich so, um die Zuschauer anzuregen darüber nachzudenken, was und wer für ihn der oder die Vaterlandsverräter sind in Bezug auf jüngste deutsch deutsche Geschichte.
Warum haben Sie den Film gemacht?
Hendel: Meine Generation ist mitten in das System DDR hineingeboren, zu dessen Geschichte ich mich verhalten will und die ich nicht wie eine ungeliebte Erbschaft ausschlagen kann. Mich interessiert in allen meinen Filmen das Absurde an unserer Geschichte. Paul Gratzik kenne ich seit 1988. Seine imposante Gestalt, seine Sprache und seine Geschichten haben mich seit dem fasziniert. Als diese Bakunin-Figur auch noch ganz unverblümt preisgab, dass er ein ehemaliger Stasimann ist, war ich platt, denn das machte damals niemand. Obwohl ich ihn später immer wieder getroffen habe und er immer offen auf meine Fragen antwortete, blieb er mir doch ein großes Rätsel.
Wie haben Sie sich damals zur Staatssicherheit verhalten?
Hendel: Für mich, als junge Erwachsene in der DDR, hat das Thema keine Rolle gespielt. Ich bin in der DDR nach dem Mauerbau groß geworden und habe dieses Land in den Grenzen akzeptiert wie es war, ich kannte es gar nicht anders. Ich habe die mauer nicht als gegen mich gerichtet empfunden und mich frei bewegt. Das hat mir jegliches berufliches Fortkommen versaut und ich landete statt im Hörsaal in der Produktion am Fließband. Das hat mich verärgert, meinen Widerstandsgeist geprägt, aber nicht geängstigt oder eingeschüchtert. Natürlich gab es extrem dramatische Fälle, aber die Filme dazu gibt es ja heute auch. Die Wahrnehmung des Staatssicherheitsdienstes als allmächtigen Geheimdienstriesen, wie sie mir heute in den Medien präsentiert wird, ist mir zu einseitig.
Was stört Sie an dieser Wahrnehmung?
Hendel: Es gab schreckliche Vorfälle von Unterdrückung und Überwachung in der DDR, aber von heute aus betrachtet, erscheint mir vieles, was die IM an Informationen massenweise Tag für Tag mit großem Aufwand zusammengetragen haben, noch sinnloser und abwegiger, als das, was ich damals nur ahnen konnte. In der Reflektion von heute aus, also in Zeiten des elektronischen Verrats: Google Street View, Facebook und Twitter, mit all den Personensuchmaschinen bis hin zu Wikileaks und Openleaks, von der Arbeit der Geheimdienste ganz zu schweigen, ist diese Art von IM, wie es Paul Gratzik war, gar nicht mehr nötig: Wer sind die Freunde, die Kontakte, Interessen, was hat man vor, was gefällt, was nicht? Das waren ja, zumindest in der Kulturszene, die Themen, die ein IM auszuloten hatte und das sind Dinge, die heute viele Menschen freiwillig, weltweit und unwideruflich von sich und ihren Nächsten preisgeben.
Welches Bild setzen Sie in Ihrem Film dagegen?
Hendel: Was in so einem Täter vorgegangen ist und wie das aussah, wenn die sich in einer konspirativen Wohnung getroffen haben, was so eine Tätigkeit im Privatleben für Konsequenzen hat – das sind alles Fragen, die noch kein Film in dieser Intimität gestellt hat, soweit ich weiß. Ich finde eben auch die Perspektive eines ehemaligen IM und die seiner Wegbegleiter für uns interessant, zumal ich der Meinung bin, dass sich der Mensch an sich nicht ändert. Leute, die damals IM waren, gibt es heute auch. Jemand, der immer ein Außenseiter war wie Paul Gratzik, der ist es auch jetzt. Nur die Verhältnisse verändern sich immer mal.
Gibt es da wirklich keinen Unterschied?
Hendel: Für mich ist unsere Freiheit bestimmte Dinge tun zu können oder eben nicht, heute auch eingeschränkt, anders eingeschränkt. Man muss heute auch entscheiden sich entweder anzupassen oder nicht. Sich vereinnahmen zu lassen oder nicht. Heute gibt es auch Prämissen, die ein Fortkommen ermöglichen und eben auch Grenzen.
Welche Grenzen?
Hendel: Heute hängt immer alles mit Geld zusammen.
Die Inhalte von Gestern sollen keine Filme von Gestern sein. Ich betrachte die Stoffe immer von heute aus und verknüpfe sie mit neuen frischen Elementen.
Der Anpassungsdruck ist der gleiche?
Hendel: In den jeweiligen Strukturen ja, man zahlt immer einen Preis. Und Paul Gratzik hat für das, was er tat, wie er sagt, auch „bitter bezahlt“.
Was waren seine Motive?
Hendel: Ob Paul Gratzik als böser hundsgemeiner Spitzel angetreten ist, ob es ihm um seine Karriere ging oder ob er als begeisterter DDR- Bürger für den Erhalt „seines“ Staates kämpfen wollte, das hinterfragt mein Film. Schließlich ist die Wertung in Gut und Böse oder Opfer und Täter auch immer eine Frage der jeweiligen gesellschaftlichen Verabredung im Zusammenspiel mit persönlicher Verantwortung. 1961 kurz nach dem Mauerbau hat Paul Gratzik sich da vereinnahmen lassen. Seinen Auftraggebern ging es, wie ich den Akten entnehmen konnte, hauptsächlich darum, dass sie seine widerspenstige Person in den Griff bekommen. Was der Führungsoffizier sagt: „Wir wollten, dass Paul Gratzik mit seiner stets kritischen Haltung nicht republikflüchtig oder zum Dissidenten wird….“ Es ist einfacher, wenn man mit jemandem arbeitet, als wenn man ihn nur überwachen lässt, was ja der Staatssicherheitsdienst bei Paul Gratzik immer gemacht hat. Und das ist ein Beispiel des Absurden für mich. Es ist interessant, dass die IMs eben nicht nur die spitzelnden Verräterchen aus der dritten, vierten Reihe mit dem grauen Anorak waren, sondern– ich spreche von den Kulturschaffenden – oft die Protagonisten, die Stars der jeweiligen Szene, die von der Staatssicherheit gewonnen wurden, Charismaten, wie Paul Gratzik einer ist.
In dem Film kann man viel lachen, vor allem wegen Paul Gratziks trockenem Humor. Passen Sie in dieser Hinsicht gut zusammen?
Hendel: Mich interessieren gesellschaftlich relevante Themen, aber im Kino soll der Zuschauer auch unterhalten werden und da ist dieser Protagonist ein Geschenk für den Film. Wenn man so will, ist „Vaterlandsverräter“ ein komischer Film über eine unkomische Lage.
Im Presseheft zu „Vaterlandsverräter“ steht, Filmemacher aus Ostdeutschland hätten etwas Unverwechselbares in die deutsche Filmlandschaft einzubringen. Was ist das?
Hendel: Das ist nicht generell gemeint, sondern das betrifft meine Arbeit als Produzentin von Spiel- und Dokumentarfilmen. Hier geht es einerseits um teilweise noch im Osten erworbenes Wissen, handwerkliche Dinge, die Art der Schauspielkunst, die sich eben aus meinem und unseren künstlerischen und biografischen Background speisen. Es geht mir aber immer auch um eine Lebensart in den Geschichten und das Miteinander in der Arbeit an den Filmen selbst. Ich finde die Filme der „Neuen Berliner Schule“ in all ihrer Kälte wunderbar, aber solch einen Film zu machen, ist mir mit meiner Biografie nicht möglich. Ich bin im Osten mit viel Wärme und Leidenschaft groß geworden, wo Karriere und Geld keine große Rolle spielten.
Die Inhalte von Gestern sollen keine Filme von Gestern sein. Ich betrachte die Stoffe immer von heute aus und verknüpfe sie mit neuen frischen Elementen. In „Vaterlandsverräter“ greife ich auf andere ästhetische Mittel zurück, als auf die immer gleichen DDR- Archiv-Ausschnitte. Leif Heanzo hat für diesen Film die Bilder der Erinnerung in gemalten Tableaus mit einer großen inneren Wahrhaftigkeit gezeichnet. In meinen Filmen wird immer die Sehnsucht nach Wärme und Leidenschaft gefeiert. Ein Thema aus einer anderen Ecke zu betrachten, zu berühren, das Komische im Dramatischen aufzuspüren, letztlich zu überraschen, das ist mein Antrieb Filme zu machen. Und da gibt es noch eine ganze Menge Filme, die da kommen werden.
Welche sind das?
Hendel: Jetzt plane ich einen Dokumentarfilm über Hiddensee, „Die Metropole am Meer“. Für mich ist es eine ganz besondere Insel, mit großer, kontroverser Geschichte, einmalig in Deutschland. Dann will ich einen Spielfilm machen über eine Ost-West-Liebe nach der Wende, Thema: Die Mauer im Bett. Einen Film über „Flake“ den Keyboarder von Rammstein habe ich fertig gestellt. Es ist ein Film über einen Punk aus dem Osten, der heute in der weltberühmtesten deutschsprachigen Band spielt.
Was treibt Sie an als Regisseurin und Produzentin?
Hendel: Es gibt Filmstoffe in der deutschen Filmlandschaft, die ich vermisse, die ich selbst sehen will und da möchte ich Lücken schließen. Der deutsche Film ist für mich immer noch das, was er im Ursprung war: düster, apokalyptisch gesellschaftskritisch, zwischen Verbrecher- und Heimatfilm, dramatisch und komisch zugleich.
Was ist das, was Sie vermissen? Sie sagten vorhin, die Filme der Neuen Berliner Schule gefallen Ihnen nicht so.
Hendel: Doch, ich sehe die sehr gerne. Das sind ganz wichtige Filme, sehr wahrhaftige Sichtweisen auf unsere Welt. Aber ich persönlich staune dann über die Darstellung der Menschen, die durchaus realistisch ist. Wenn ich zum Beispiel den Film „Montag kommen die Fenster“ sehe… Da hat eine junge Frau ein Einfamilienhaus, einen tollen Mann, ein Kind, alles ist prima und Montag sollen die Fenster kommen. Aber sie muss unbedingt ausbrechen, Mann und Kind verlassen und in ein Hotel ziehen. Das ist ein Film über Leute, denen es eigentlich gut geht. Filme über junge unzufriedene degenerierte Bundesbürger, die keine soziale Not haben. Sehr interessant. Ich finde diese Filme sehr wichtig und authentisch. Weil es augenscheinlich ein gesellschaftliches Problem ist, wenn man keine Probleme hat. Wenn ich einen Mann, ein Haus und ein Kind habe, bin ich einfach nur glücklich. Ich würde dann einen sehr langweiligen Film machen über drei unglaublich glückliche Menschen, die sich auf ihre Fenster freuen und froh sind, dass sie was zu fressen haben und eine Krankenversicherung.
Hat diese Bewertung auch mit Ihrer Herkunft aus der DDR zu tun?
Hendel: Meine Sicht hängt vielleicht damit zusammen, dass wir zwar seit über 20 Jahren in der „echten“ Welt sind, wir aber die erste Hälfte meines Lebens unter der Käseglocke DDR lebten, die uns zwar eingeschlossen, aber auch unglaublich geschützt hat. Es gab eine fast unüberwindliche Grenze, aber auch eine ganz, ganz große Freiheit, nämlich die Freiheit sorglos leben zu können ohne jemals Angst zu haben, dass man unter der Brücke landet. Es gab eine bestimmte Art von Druck, aber es gab auch eine ganz bestimmte Art von Druck nicht und das war Existenzangst. Ich vermisse nicht die DDR, aber diese Freiheit vermisse ich. Obwohl ich weiß, dass diese Freiheit eine Illusion war, dass unsere Welt so nicht funktioniert… Aber Film ist ja auch Illusion.
„wie haben sie sich zur Stasi verhalten ?“
ich begreife diese komische Antwort überhaupt nicht. Sie haben sich frei gefühlt und sich damit jegliches berufliches Fortkommen versaut?
Das kann man, muß man aber nicht verstehen!
Toll!
Bin begeistert, sie sprechen mir aus der Seele. Genau so sehe ich die verflossene Zeit auch. Mit diesen teilweise nostalgischen Gefühlen. Der tatsächlichen Geborgenheit, in dem Verflossenen Staat im selben Land. Das habe ich den Leuten von Horch und Guck offt genug gesagt. Nur die durften bis zur „Wende“, (scheiß Wort) einseitige Denkweisen öffentlich machen. Was die wircklich dachten, wer weiß das schon.
Freundlichst Ronald Wendt 38723 Seesen Neustädter Str.1