Annett, der Song „Saboteur“ von deinem aktuellen Doppelalbum „Kleine große Liebe“ endet in einem ungewöhnlich langen Instrumental-Stück. Wie kam es dazu?
Annett Louisan: Der Part kommt von meinem Produzenten Michael Geldreich. Er hat in den letzten Jahren sehr unterschiedliche Sachen gemacht, was spannend ist. Ich hatte diesmal insgesamt 20 Songs und Michael war genau der Richtige, der die Lieder ’nach hause produzieren‘ konnte.
Er hat bereits sehr erfolgreich Musiker wie Cro, Mark Forster oder Felix Jaehn produziert. Ist er für dich mehr Künstler oder Handwerker?
Louisan: Sicher gibt es auch Auftragsproduzenten, aber Michael ist für mich mehr Künstler. Ich habe auch gemerkt, dass dieses Album für ihn ein Herzens-Projekt ist, wofür er brennt. Deshalb hat das so gut funktioniert. Er hat französische Wurzeln, sein Vater kommt aus dem Elsass und er spricht fließend französisch. Das Frankophone in meiner Musik hat er sofort verstanden und umsetzen können.
In „Saboteur“ beschreibst du den Drang, funktionierende Dinge zu sabotieren. Gibt es so einen Drang auch in deinem Leben?
Louisan: Ich habe einen starken Saboteur in mir. Der geht zwar nicht so weit, dass ich mein komplettes Leben zerstöre. Aber es gibt eben diese Momente, in denen das Gras auf der anderen Seite grüner ist und man genau das Gegenteil von dem will, was man gerade hat. Das ist auch menschlich. Das Leben ist ambivalent und wir Menschen sind es auch. In den letzten Jahren habe ich gelernt, diese Ambivalenzen in mir anzunehmen und auszuhalten. Diese Erfahrung, dass ich mindestens zwei Seiten habe, hat mich auch zu vielen Liedern auf diesem Doppelalbum inspiriert.
Wann hast du dein Leben denn zum letzten Mal sabotiert?
Louisan: Im Moment versuche ich wieder mit dem Rauchen aufzuhören. Das heißt, ich habe schon aufgehört, dann wieder geraucht als ich anfing am Album zu arbeiten… – das ist ein ewiger Kampf.
Hat dir niemand vom Rauchen abgeraten, wegen deiner Stimme?
Louisan: Das war komischerweise nie ein Thema. Ich denke auch, dass meine Stimme ein bisschen Schmutz gut vertragen kann.
Generell ist meine Gesundheit natürlich ein Thema, heute viel mehr als früher, weil ich jetzt eine Tochter habe. Diese Sorge um mich selbst, der Gedanke, dass ich meine Tochter nicht aufwachsen sehen kann, weil mir irgendetwas zustößt, das ist etwas Neues für mich.
Es ist schon schwierig genug, sich einmal zu erfinden.
Mit „Two Shades of Torsten“ taucht auf diesem Album wieder eine Figur von deinem zweiten Album auf…
Louisan: Ja, ich dachte mir, Torsten Schmidt hat ein Comeback verdient. Die Leute fragen sich ja nach 15 Jahren, was aus dem eigentlich geworden ist. Außerdem mag ich rote Fäden, sprich wenn Dinge wieder wieder auftauchen, Instrumente, Menschen…
Und dieser Torsten ist eine Art Markus Mustermann?
Louisan: Genau. Ich persönlich kenne allerdings niemand, der genau so heißt – sonst hätte ich diesen Namen ja nicht verwendet. Trotzdem steckt in dem Song natürlich auch eine Wahrheit, denn ohne die Wahrheit könnte ich nicht berühren, ohne sie könnte ich Menschen nicht zum Lachen oder Weinen bringen. Die Wahrheit ist manchmal auch hart, aber ohne sie geht es nicht.
Namentlich wird sich aber auf deinen Alben niemand wiedererkennen.
Louisan: Nein. Ich mache keine Witze auf Kosten anderer. Da bevorzuge ich den feinen Humor. Ich bewundere Menschen, die das beherrschen. Hape Kerkeling zum Beispiel mit seinen vielen Alter Egos und Figuren: die sind irgendwie real, man weiß in etwa, wer gemeint ist – aber eben nicht zu 100 Prozent.
Deine Stimme und deine Art zu singen hat sich über die Jahre wenig verändert. Oder?
Louisan: Was sich bei mir verändert hat, ist, dass ich heute viel öfter in einem ‚Take‘ aufnehme, also ohne zu schneiden. Ich weiß heute mehr, wie ich ein Lied in den Kasten bringe, wie ich erzählen möchte.
Was meine Stimme betrifft: Ich finde es wunderbar, so ein Markenzeichen zu haben. Meine Gesangs-Stimme ist ja sehr nah an meiner Sprechstimme, das ist mein Rezept, wie ich Menschen zum Zuhören bringe. Das funktioniert auch mit der deutschen Sprache sehr gut, weil wir so viele Konsonanten und so wenig Vokale haben.
Und stilistische Veränderungen?
Louisan: Ich würde sagen, dass ich mich auf der „Großen Liebe“ ein bisschen dem Pop angenähert habe. Das ist eine Art Hommage an die Musik meiner Kindheit, an den Pop der 80er, mit dem ich aufgewachsen bin. Da habe ich auch stimmlich ein bisschen experimentiert, zum Beispiel mit Vocoder-Sound.
Hattest du denn im Lauf deiner Karriere schon mal das Bedürfnis, den Stil komplett umzuschmeißen?
Louisan: Ich probiere schon sehr viel aus. In den letzten fünf Jahren habe ich mit vielen verschiedenen interessanten Leuten gearbeitet. Mit Tobias Kuhn zum Beispiel, der viel für die Toten Hosen geschrieben hat. Mit ihm habe ich auch großenteils die „Berlin-Sessions“ für die Fanbox aufgenommen. Da ist meine Stimme rockiger, so ein bisschen in Richtung Cardigans.
Aber den Stil komplett umschmeißen? Da wäre die Frage: Warum? Ich finde es schon schwierig genug, sich einmal zu erfinden. Vielleicht ist es auch ein Glück, sich einmal gefunden zu haben. Ich kenne nicht viele Leute in der Popgeschichte, die sich zig mal neu erfunden haben. Damit meine ich jetzt nicht Madonna und ihre vielen Outfits, sondern Leute, die sich weit von dem entfernt haben, was sie ausmacht. Neulich habe ich das bei einem Abendessen Freunde von mir gefragt – denen ist auch kaum jemand eingefallen, der sich komplett gewandelt hätte. Das muss einen Grund haben. Vielleicht hat es etwas mit Authentizität zu tun.
Über „Belmondo“ hast du auf Facebook geschrieben, dass ihr den Song zu fünft geschrieben habt. Wie muss man sich das vorstellen?
Louisan: Das Album „Große Liebe“ habe ich – bis auf das Samy Deluxe-Cover „Herz Gebrochen“ – mit Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Daniel Faust geschrieben. Und Anika Decker war ein Gast als wir „Belmondo“ geschrieben haben. Getextet habe ich hauptsächlich mit Peter und Ulf, zu dritt fand ich das spannend. Ich habe bisher nur ganz selten alleine geschrieben, genau zwei Texte, auf meinem fünften Album.
Warum nicht häufiger?
Louisan: Weil ich wahnsinnig selbstkritisch bin, weil ich mich fast schon zerfleische, wenn ich alleine bin. Das Schreiben ist für mich harte Arbeit, manchmal auch eine Qual. Da ist es angenehm, im Team zu arbeiten, wenn ich jemandem den Ball zuwerfen kann, der sagt: Ja! Wenn ich beim Schreiben alleine wäre, würde ich das nicht hören. Ich brauche dieses Feedback. Und es ist eine Möglichkeit, die Verantwortung zu teilen, nicht alles alleine tragen zu müssen. Wobei ich in den letzten Jahren die Direktion beim Schreiben immer mehr in die Hand genommen habe, da ist einfach ein Reifeprozess passiert. Ich kenne Annett Louisan eben am allerbesten, ich habe die meisten Erfahrungen mit ihr. Gleichzeitig ist es toll und inspirierend, dazu diesen Blick von außen zu bekommen. Denn der eigene subjektive Blick ist nicht immer vollkommen.
Welche Rolle spielt es, dass die Songwriter in deinem Team Männer sind?
Louisan: Ich schreibe gerne mit Männern. Es ist spannend, das auf den Kopf zu stellen, wie Frauen sind, wie Frauen denken, wie Männer sind, diese Vorstellungen durcheinander zu würfeln und die Leute zu verwirren. Das hat bei mir immer schon gut funktioniert.
Wobei du zu Beginn deiner Karriere mitunter harte Kritik einstecken musstest. Zu deinem Debütalbum schrieb damals ein Kritiker von jetzt.de/Süddeutsche Zeitung: „Annett Louisan bedient jedes simple Lolita-, Frauen- und Sängerinnenklischee. Sie spaziert als lebender Beleg für „Sex sells“ durch ihre Musikvideos, haucht Belanglosigkeiten ins Mikrophon und repräsentiert kaum mehr als das, was Labelbosse in flauen Zeiten für den Minimalkonsens in Sachen „erotische Männerfantasie“ halten.“ Wie blickst du, mit dem Abstand von 15 Jahren, auf so eine Kritik?
Louisan: Puh, wenn ich so wäre, wie es der Journalist da beschrieben hat, dann hätte ich in der heutigen „MeToo“-Zeit auf jeden Fall ein Problem. (lacht)
Früher habe ich mir so eine Kritik echt zu Herzen genommen, das mache ich heute aber nicht mehr. Jetzt sehe ich das mit Humor. Ich bin da auch durch eine harte Schule gegangen. Du musst dir vorstellen: In den ersten Jahren, wenn ich Promotion gemacht habe, hatte ich immer das Gefühl, ich ziehe in den Krieg.
Warum?
Louisan: In den Interviews hatte ich oft das Gefühl, durchleuchtet zu werden, nach dem Motto „jetzt haben wir sie“. Eigentlich mag ich Kontroversen, aber am Anfang habe ich mich doch sehr angegriffen gefühlt. Weil ich immer wieder beweisen musste, dass ich kein Dummchen bin. Da hab ich es echt schwer gehabt, als „blonde kleine Lolita“.
Berührte diese Kritik denn einen wahren Kern oder hat der Rezensent die Sängerin Annett Louisan damals völlig falsch verstanden?
Louisan: Ich würde das akzeptieren. Man kann es so schreiben, man kann es so empfinden, das ist vollkommen legitim. Aber das war ja nur ein Teil von mir. Ich habe mit dem Lolita-Image gespielt, bewusst und auch unbewusst. Nur habe ich die Außenwirkung davon nicht in dem Maße bedacht. Hinterher war ich mir meiner Außenwirkung viel bewusster. Das war eine sehr lehrreiche Zeit für mich. Ich habe mir ein dickeres Fell zugelegt und ich habe unheimlich viel über mich und über Menschen gelernt. Einige Sachen würde ich heute anders machen – aber nur mit dem Wissen, das ich jetzt habe. Insofern möchte ich diese Erfahrung auch nicht missen.
Du hast 2013 und 2018 auf deinem Facebook- bzw. Instagram-Profil Gedichte von Erich Kästner geteilt. Welche Dichter inspirieren dich?
Louisan: Neben Kästner auch Goethe immer mal wieder. Ich bin mittlerweile ein Querleser geworden und schlage ein Buch auf, wenn ich Inspiration brauche. David Foster Wallace finde ich auch sehr spannend.
Ein Gesangsvorbild von dir ist Hildegard Knef. Gibt es auch unter heutigen Sängerinnen welche, die dich inspirieren?
Louisan: Ich finde Lana Del Rey beachtlich und toll. Die hat sich einmal erfunden, und sie zieht ihren Stil durch. Sie hat einen hohen Wiedererkennungswert. Klar, man kann sich fragen: Wie viel Lana Del Rey-Platten brauche ich eigentlich? Ich habe mich das auch selbst gefragt: Wie viele Annett Louisan-Platten braucht ein Mensch?
Zu welchem Schluss bist du gekommen?
Louisan: Man braucht jede verdammte Platte! (lacht) Es sind ja immer wieder neue Geschichten. Außerdem merke ich, wie ich mich entwickele, wie manche Themen für mich weniger wichtig und andere wichtiger werden. Es kommt so viel dazu, wenn man älter wird. Ich kann jetzt auch einen schweren Stoff anpacken, ihn aber so charmant verpacken, dass er nicht zu schwer erscheint.
Ich bin auch wahnsinnig dankbar, dass ich überhaupt als Künstlerin älter werden darf. In dieser schnelllebigen Zeit hat man ja oft das Gefühl: Sobald das Scheinwerferlicht an ist, muss alles ganz schnell gehen und kaum ist es aus, trittst du wieder ab. Lange Künstlerkarrieren wie von David Bowie oder Madonna – ich weiß nicht, ob so etwas in 20, 30 Jahren noch möglich ist.
Wo du gerade schwere Stoffe erwähnst: Das Kästner-Gedicht, das du im Sommer 2018 geteilt hast, war „Die andere Möglichkeit“, dazu hast du ein durchgestrichenes Hakenkreuz gepostet. Würdest du so einen Text auch singen?
Louisan: Ja. Absolut. Rassismus und Diskriminierung ist ein wichtiges Thema, das mich bewegt und mir Bauchschmerzen bereitet. Ich widme mich dem aber anders als ein Singer-Songwriter. Ich mache eher Politik im Kleinen. Zum Beispiel gibt es in meinem Song „Wir sind verwandt“ einen Onkel Heinz, der einen Judenwitz macht. Das ist nur ein Nebensatz, es geschieht beiläufig und der Hörer kann damit anfangen, was er möchte. Aber das ist eher meine Art, das zu erzählen, innerhalb einer Familie, in einer kleinen Gruppe von Menschen. Da drücke ich meine Ängste aus, meine Sorgen, meine Zukunftsvisionen.
Zum Abschluss hätte ich noch ein paar kurze politische Fragen: Sollte der Frauentag am 08. März nach Berliner Vorbild nun auch in Hamburg gesetzlicher Feiertag werden?
Louisan: Ach, ich weiß nicht… Aber ich sage jetzt einfach mal Ja. Auf jeden Fall gilt: Jeder Tag ist Frauentag.
Wie weit sind wir bei der Gleichberechtigung in Deutschland, auf einer Skala von 1-10?
Louisan: Bei 7. Da gibt es jedenfalls noch Einiges zu tun.
Brauchen wir eine gendergerechte Sprache?
Louisan: Ich finde man darf Einiges schon so stehen lassen, weil es das Ganze wahnsinnig schwierig macht. Gendersternchen muss man nicht unbedingt haben. Gleichzeitig denke ich, dass wir mit unserer Sprache anders umgehen können, man darf gerne von „Astronauten und Astronautinnen“ sprechen.
Gibt es mit mehr Frauen in der Politik auch mehr Frieden?
Loisan: Ob das wirklich so ist, kann ich nicht sagen. Ich habe aber neulich einen schönen Spruch gelesen: Frauen mangelt es an einer gehörigen Portion Größenwahn.
Sollte der „Echo“-Nachfolger an die erfolgreichsten oder die besten Musiker vergeben werden?
Louisan: Es sollte eine Mischung sein. Ich finde man kann den kommerziellen Erfolg nicht ganz außer Acht lassen.
Dafür gibt es doch Goldene Schallplatten…
Louisan: Richtig. Aber zu sagen, ein Künstler ist unkommerziell solange er nicht erfolgreich ist, und mit dem Erfolg wird er plötzlich ‚kommerziell’… Dem Erfolg so etwas Negatives anzuhängen, finde ich schwierig. Also: Es sollte eine Jury geben, es sollte eine Mischung sein – und beim „Echo“ war es zu wenig Mischung.
Aktuelle Tourdaten von Annett Louisan:
13.11. Bremen
15.11. Kiel
17.11. Köln
18.11. Saarbrücken
19.11. Zürich
21.11. Hannover
22.11. Bochum
23.03.2020 Hamburg
24.03.2020 Lübeck
25.03.2020 Flensburg
27.03.2020 Düsseldorf
28.03.2020 Mannheim
29.03.2020 Balingen
31.03.2020 Basel
01.04.2020 Bern
02.04.2020 Ulm
03.04.2020 Linz
05.04.2020 Trier
07.04.2020 Wuppertal
09.04.2020 Cottbus