Herr Malikian, können Sie sich erinnern, wie Sie sich gefühlt haben, als Sie mit 15 den Libanon verlassen haben, um in Hannover ein Studium zu beginnen?
Ara Malikian: Wenn ich heute daran zurück denke, frage ich mich auch manchmal, wie ich das geschafft habe, alleine in einem Land zu leben, wo ich niemanden kannte, auch die Kultur nicht kannte. Das war schon eine mutige Entscheidung meiner Eltern, mich nach Deutschland zu schicken.
Als ich ankam, war eigentlich alles komisch für mich: Die Reaktion der Leute auf mich, meine Reaktion auf sie – ich wusste nichts darüber, wie ich mich verhalten soll. Um dem zu entgehen habe ich mich oft zurückgezogen und Geige geübt, zwölf bis 14 Stunden am Tag.
Wie kam es zu Ihrem Studium in Hannover?
Malikian: Ramy Shevelov, ein dortiger Geigenprofessor, hatte mich gehört und wollte mich in seine Klasse aufnehmen. Doch noch vor meiner Ankunft in Hannover ist er verstorben und die Hochschule hatte seine Stelle noch nicht wieder besetzt. Dann hieß es plötzlich: Wir können dich nicht aufnehmen. Das war problematisch, denn die Konsequenz wäre gewesen, dass ich meine Aufenthaltsgenehmigung verliere.
Wie haben Sie das Problem gelöst?
Malikian: Mit einem Trick. Man hat mir geraten, dass ich so tun sollte, als sei ich krank. Es gab eine Untersuchung, es hieß meine Mandeln seien nicht in Ordnung – und so konnte ich nicht in den Libanon zurückgeschickt werden. Ich musste auf eine Operation warten, weshalb mein Visum immer wieder um einen Monat verlängert wurde, so lange, bis der neue Professor kam, ich ihm vorspielte und er mich aufnahm.
Die Klassik-Welt ist nicht meine Welt.
Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie ganz klassisch Werke von Bach, Vivaldi oder Ysaÿe gespielt bzw. aufgenommen. Wie erfolgreich waren Sie mit diesem Repertoire?
Malikian: Bis zu einem gewissen Punkt war ich damit schon erfolgreich. Als Junge war es mein Traum, klassischer Geiger zu sein, so wie meine Idole, wie Gidon Kremer, Jascha Heifetz oder Nathan Milstein. Aber nach einer Weile habe ich gemerkt, dass die Klassik-Welt nicht meine Welt ist. Ich wurde nicht ernst genommen, es fühlte sich nicht richtig an.
Womit fühlten Sie sich nicht wohl?
Malikian: Zum Beispiel mit dem Konzept, etwas auf eine bestimmte Weise spielen zu müssen. Ich habe nie verstanden, wenn es hieß: Man spielt Bach nicht so, oder man spielt Mozart nicht so. Warum soll es da nur den einen Weg geben? Warum können wir ihn nicht so spielen, wie wir wollen, ohne dafür gleich als Kriminelle behandelt zu werden? Auch wenn du Sachen falsch machst, auch wenn du Fehler machst, denke ich, sollte man diese wundervollen Kunstwerke nehmen und personalisieren können.
+++ Tourdaten: 28.03. Berlin, 29.03. Köln,
01.04. Bielefeld, 02.04. Hannover, 03.04. Hamburg,
04.04. Neu Isenburg, 06.04. Zürich +++
Was meinen Sie damit?
Malikian: Es so interpretieren wie du fühlst, aber ohne den Respekt vor dem Komponisten zu verlieren. Ich habe jahrelang meine Persönlichkeit versteckt, um das zu machen, was von mir verlangt wurde. Ich habe Violinkonzerte von Tschaikowsky oder Sibelius gespielt, das Publikum applaudierte, aber ich war nicht überzeugt davon. Ich habe nicht das gespielt, was ich wollte, sondern das, was ich sollte. Das hat mich frustriert.
Und hinzu kam: Wenn du nicht einer der ganz großen Top-Geiger bist, dann ist alles sehr flüchtig, in einem Jahr wirst du gefeiert, im nächsten Jahr wird ein anderer Newcomer rumgereicht…
Wie haben Sie weitergemacht?
Malikian: Ich habe eine Stelle als Konzertmeister angenommen, im Orchester der Madrider Oper. Nach einer Weile hat mich auch das gelangweilt und mir war klar, dass ich mich komplett neu orientieren muss. Ich habe angefangen zu komponieren, meine eigenen Stücke und Arrangements zu spielen, mit Theater-, Tanz- und Zirkusensembles gearbeitet. Ich habe die Geige so gespielt, wie es mir Spaß gemacht hat. Und nach einer Weile merkte ich, dass dadurch auch das Publikum mehr Spaß hatte. Mein Spiel hat sich Stück für Stück verändert und irgendwann bin ich bei mir angekommen.
Angeblich waren Sie ein ruhiges, scheues Kind. Heute wirbeln Sie geradezu über die Bühne…
Malikian: Privat bin ich bis heute eher schüchtern, überhaupt nicht extrovertiert. Aber auf der Bühne verändere ich mich komplett. Ich weiß nicht, ob es an der Musik liegt, am Publikum, oder an der Konzertsituation insgesamt. Ich kann auch nicht genau sagen, was davon nun mein ‚wirkliches Ich‘ ist, das auf der Bühne oder das im normalen Alltag. Es gab mal eine Zeit, wo ich privat versucht habe, nicht so schüchtern zu sein. Weil das in der Gesellschaft ja eher verpönt ist, Schüchternheit gilt nicht als glamourös, stattdessen sollst du lustig sein. Heute denke ich mir: Ich bin wie ich bin, ganz einfach.
Zuerst wurden Sie von Ihrem Vater auf der Geige klassisch unterrichtet…
Malikian: Ja, mein Vater war immer begeistert von klassischer Musik, richtig fanatisch. Und das war toll, denn er hat mir die Liebe zu dieser Musik vermittelt, zu den großen Komponisten. Dank ihm kenne ich all das klassische Repertoire, was ein großer Schatz ist.
Was war seine Meinung zu Ihren späteren, wenig klassischen Interpretationen?
Malikian: Ehrlich gesagt: Die habe ich vor ihm geheim gehalten. Ich habe ihm davon nichts erzählt. Eins der ersten Projekte, bei dem ich meinen Stil änderte, war eine Show, in der ich klassische Musik mit Humor verbunden habe. Die war sehr erfolgreich, wir waren damit auf der ganzen Welt unterwegs. Aber ich habe es meinem Vater nicht gesagt.
So etwas ließ sich geheim halten?
Malikian: Ja. Ich habe zu der Zeit auch noch andere Konzerte gehabt, wo ich ganz normal zum Beispiel Tschaikowsky gespielt habe. Da habe ich meinen Vater dann eingeladen.
Als ich mit dem begann, was ich heute mache, war er allerdings schon gestorben. Ich hätte mir gewünscht, dass er sieht, wie ich heute spiele. Er hätte es vielleicht nicht verstanden, aber ich denke, er wäre stolz auf mich gewesen.
Ihre Konzerte sind eine wilde Mischung aus Folk, Rock, Tango und Pop. Würden Sie auch noch ein komplettes Violinkonzert aufführen?
Malikian: Wenn mich ein Veranstalter darum bittet, ja. Aber wenn ich entscheiden könnte: Ich würde es nur spielen, wenn ich weiß, dass das Publikum es hören will. Manchmal vermisse ich es tatsächlich, ein komplettes Violinkonzert zu spielen.
Wie wäre es zum Beispiel mit dem kaum bekannten Konzert des Spaniers Tomás Bretón, das Sie 2006 aufgenommen haben?
Malikian: Das Breton-Konzert ist ein gutes Beispiel dafür wie die Klassik-Welt funktioniert. Es ist ein wunderbares Konzert, Breton hat es für Pablo de Sarasate komponiert. Doch es wird in Spanien kaum aufgeführt, weil das Orchestermanuskript des Konzerts verschollen ist, davon ist nur eine Klavierfassung erhalten geblieben. Der Orchesterpart wurde später von einem anderen Komponisten hinzugefügt – und aus diesem Grund will das Konzert niemand aufführen, was ich dumm finde.
Und bei Ihnen passt so etwas nicht mehr ins Programm?
Malikian: Ich denke, dass das breite Publikum von mir heute etwas Anderes erwartet. Wenn ich jetzt anfange, vor 4000 Leuten ein Concerto mit drei Sätzen zu spielen – ich denke, die werden sich das nicht anhören.
Wie ist es mit Ihnen, hören Sie sich heute noch ein 90-minütiges Sinfoniekonzert an?
Malikian: Klar, ich kann mir zum Beispiel eine Mahler-Sinfonie anhören, weil ich es mag. Bei so einem Werk musst du aber auch wissen, worum es geht. Ich kenne Mahler, weil ich ihn gespielt habe, aber für das breite Publikum ist es glaube ich nicht so einfach, sich anderthalb Stunden hinzusetzen und so eine Sinfonie anzuhören.
Oder würden Sie heute ein Metallica-Konzert einem Philharmonie-Besuch vorziehen?
Malikian: Kommt drauf an, was in der Philharmonie gespielt wird. Wahrscheinlich würde ich eher zu Metallica gehen.
Sie leben heute in Spanien, haben Sie auch einen spanischen Pass?
Malikian: Ja, Gott sei Dank. Das war immer ein Problem, wenn ich um die Welt reiste und dann meinen libanesischen Pass zeigte.
Man darf zum Beispiel nicht nach Israel einreisen.
Malikian: Genau. Aber selbst als ich auf einer Tour mit spanischem Pass nach Israel gereist bin, hatte ich noch Probleme, als sie bei der Passkontrolle gesehen haben, dass ich in Beirut geboren bin.
Das West-Eastern Divan Orchestra ist auch von dieser Problematik betroffen. Es setzt sich für Versöhnung im Nahostkonflikt ein, kann aber weder in Israel noch im Libanon spielen, weil die Orchestermusiker zum Teil aus diesen Ländern stammen.
Malikian: Ich kenne das Orchester natürlich. Es ist ein tolles Beispiel, das zeigt, wie Musik und Kultur verbindet. Generell denke ich, dass Kunst und Kultur der einzige Weg ist, dass wir Menschen und gegenseitig verstehen. Denn die erste Bedingung, um Kunst zu schaffen, ist Respekt. Du musst Meinungen und Unterschiede respektieren können, den Glauben der anderen respektieren. Wenn man sich für sein Leben ein Beispiel daran nimmt, wie Kunst gemacht wird… Musik hat zwar nicht die Kraft, einen Krieg zu stoppen, aber ich denke, wenn du einen Zugang zu Musik hast, eine Empfindsamkeit für Kunst, dann fängst du nicht an, Menschen zu töten. Kunst kann deinen Verstand verändern. Wenn ich die Schönheit der Kunst kennenlerne, dann komme ich nicht auf den Gedanken, einen Menschen zu töten.