Frau Tsangari, benutzen Sie privat den öffentlichen Nahverkehr?
Tsangari: Ständig. Ich habe keinen Führerschein.
In Berliner Bussen und Bahnen lesen die meisten Reisenden oder tragen Kopfhörer, die wenigstens unterhalten sich miteinander. Zu welcher Gruppe gehören Sie?
Tsangari: Ich beobachte. Ich bin eine zwanghafte Beobachterin. Das habe ich schon als kleines Mädchen gemacht.
Was sagt Ihnen die Körpersprache der Menschen, die Sie beobachten?
Tsangari: Alles. Und ich bin mit den Jahren darin immer besser geworden. Ich glaube, es ist wichtig für Filmemacher, zum Vollzeit-Beobachter zu werden. Ich liebe es beispielsweise, mit dem Bus zu fahren. Das gilt in Griechenland nicht gerade als cool. Im Bus sitzen eigentlich nur Rentner, philippinische Hausmädchen und albanische Bauarbeiter. So wird eine Busreise immer auch eine Art ethnographischer Trip.
Wie unterscheiden sich beispielsweise die Körpersprachen von Ariane Labed, der Hauptdarstellerin Ihres neuen Films "Attenberg" und der Sängerin Björk?
Tsangari: Hm… Sie haben beide etwas animalisches, aber Ariane ist eher erdverbunden. Björk ist mehr wie ein Vogel, oder ein Fisch.
Mit wem von beiden war es leichter, zusammen zu arbeiten?
Tsangari: Das kann ich nicht sagen, denn mit Björk habe ich bisher nicht wirklich viel zu tun gehabt.
Sie waren für die künstlerische Leitung 2004 der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Athen verantwortlich, auf der auch Björk aufgetreten ist.
Tsangari: Das stimmt, aber für die enge Zusammenarbeit mit ihr war mein Choreograph zuständig. Ich war bei den Proben eigentlich nur dabei – und habe sie beobachtet. Denn Björk war immer schon eines meiner Idole. Ich bewundere die Anmut aber auch das Geheimnisvolle an ihrer Art sich zu bewegen.
Was Ariane angeht, sie ist eigentlich das genaue Gegenteil ihrer Rolle in "Attenberg". Während der Proben für den Film hat sich ihre Körpersprache, ihre ganze Haltung stark verändert. Das war das Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses. Wir haben uns gemeinsam Filme angeschaut: viele Western, von denen man viel über Körpersprache lernen kann und natürlich, wie ihre Rolle Marina im Film, jede Menge Naturdokumentationen von Sir David Attenborough.
Die Tierfilme bilden in Ihrem Film ein Mittel zur sexuellen Aufklärung von Marina. Wie kamen Sie darauf, in der Körpersprache von Tieren nach so etwas wie dem animalischen Kern des Menschen zu suchen?
Tsangari: Für mich war es wichtig, jede Art von Prägung loszuwerden, die in existentiellen Momenten bei den Menschen zu typischen Bewegungen führt – wenn wir mit dem Tod zu tun haben, beim Sex oder in der Pubertät. Ich habe versucht, die Liebe aus einem Kuss zu eliminieren, die Trauer aus dem Tod, Tränen aus einer Abschiedsszene. Aber ich musste den Schauspielern stattdessen etwas geben, mit dem sie spielen können. Uns Menschen vor allem als Säugetiere zu begreifen und sich daher an der Körpersprache anderer Tiere zu orientieren, schien mir dafür sehr geeignet zu sein. Es ging um Dekontextualisierung, darum, Distanz zu schaffen, und sich als Teil einer Spezies zu sehen.
Da dürften Ihnen Filmproduzenten die Tür eingerannt haben…
Tsangari: (Lacht) Zum Glück haben wir den Film selbst produziert. Es gab niemanden, der uns zensiert hätte. Die griechische Kino- und Theatertradition ist eher sentimental und hyperdramatisch, was wir getan haben, ist also so etwas wie eine instinktive Gegenreaktion. Wir wollten Emotionen erzeugen, aber nicht auf einem sentimental manipulativen Weg. Ich bin auch nicht mit dem Vorsatz gestartet: Jetzt will ich einen kalten, distanzierten Film über ein Mädchen machen, das ihre Jungfräulichkeit verliert. Es kam instinktiv dazu, bei den Proben. Ich habe geradezu allergisch reagiert, wenn etwas passierte, in das man eine zu große Bedeutung hineinprojizieren konnte. Wir haben bei den Proben den selben Dialog immer und immer wieder wiederholt, ohne Erklärungen oder irgendwelche Hintergrundgeschichten. So haben wir Neutralität erreicht. Und als wir dann am Set wirklich gedreht haben, kam die Energie trotzdem durch. Das passierte den Schauspielern ganz automatisch.
Sie bevorzugen Energie gegenüber Emotionen? Misstrauen Sie Emotionen?
Tsangari: Das klingt gut. Es gibt aber trotzdem viele Emotionen in "Attenberg". Im Publikum brechen manche am Ende des Films in Tränen aus. Und es gibt andere, die sich fühlen, als hätten sie gerade eine schwarze Komödie gesehen. Man weiß nicht recht, ob das alles nun tragisch oder komisch sein soll, ob man lachen, weinen oder einfach angepisst davon sein soll, dass man nicht gesagt bekommt, wie man sich zu fühlen hat und der Regisseur einen nicht führt. Manche gehen sehr sauer aus dem Kino.
Künstler sagen gerne, die Deutung ihres Werkes läge im Auge des Betrachters. Aber Sie gehen einen Schritt weiter, Sie befreien in gewisser Weise das Publikum von der Bevormundung.
Tsangari: Ja. Nichtmal ich selbst weiß, was mit Marina nach dem Ende des Films passieren wird. Sie nimmt das Auto und fährt weg, aber was wird sie machen? Ich habe mir diese Frage nie wirklich gestellt. Ich denke, dass es fairer ist, wenn jeder das für sich entscheidet.
Ich habe versucht, die Liebe aus einem Kuss zu eliminieren, die Trauer aus dem Tod, Tränen aus einer Abschiedsszene.
Es gibt eigentlich nur eine Szene in "Attenberg", die andeutet, dass Marina wirklich zu Emotionen fähig ist. Sie tanzt nachts im Krankenhaus, am Bett ihres Vaters – ausgerechnet zu einem kühlen Song der Elektropunkband Suicide.
Tsangari: Diese Szene ist die einzige, in der wir den Emotionen erlaubten, auszubrechen. Ihrem Vater gegenüber hatte sie immer versucht, nicht emotional auf die Dinge zu reagieren, aber hier wurde der Druck für Marina zu groß. Der Korken im Körper dieses Mädchens musste knallen. Von da an wird sicherlich ein anderer Mensch sein. Diese Szene war wie ein Initiationsritual.
Reden wir ein wenig über Ihre Karriere. Sie haben zunächst Literaturwissenschaften in Thessaloniki studiert, in New York Ihren Master in Performance Studies gemacht und schließlich in Texas Filmregie studiert. War das so geplant?
Tsangari: Nein. Ich wuchs wie ein Nerd auf, ich war sehr interessiert an der Theorie. Eigentlich wollte ich zuerst Theaterwissenschaften studieren, aber dann habe ich gemerkt, dass ich doch auch selbst auf der Bühne inszenieren wollte. Das Studium in New York war dann sehr interdisziplinär angelegt und bezog auch Theaterperformances mit ein, eigentlich alles, was der Körper so macht, in jedem erdenklichen Zusammenhang.
Das konnten Sie wahrscheinlich wunderbar mit der Obsession, Leute zu beobachten, verbinden.
Tsangari: Mehr noch: Ich konnte meine Obsession zum Beruf machen. Dieses Studium war perfekt für mich, es hat mein Denken geformt. Dort habe ich angefangen, Bewegungen wirklich zu analysieren, im Bezug auf so unterschiedliche Dinge, wie Tourismus, Essgewohnheiten, oder die Art und Weise, wie große Menschenmengen in New York eine Straße überqueren, im Vergleich zu Menschen in Jakarta, zum Beispiel.
Wie sind Sie von da aus zum Film gekommen?
Tsangari: Vor dem Studium in New York musste ich ein bisschen Geld verdienen und mein Englisch verbessern. Dafür wurde ich nach Austin in Texas geschickt, wo ich 1991 mit dem Filmregisseur Richard Linklater zusammentraf. Er hat damals "Slacker" gedreht und mich sozusagen adoptiert. Ich wurde Produktionsassistentin und bekam auch einen kleinen Part in dem Film – wie alle anderen aus der Crew auch. Ich hatte vorher keinerlei Verbindung zum Film. Ich wusste nicht, was man da macht. Aber wie Linklater mit seinen Freunden als Team zusammenarbeitete, wie sie Menschen aus ihrer Umgebung einbezogen, deren Art zu Reden als Inspiration für ihre Fiktion nutzten, das hat mich komplett angesteckt. Also bin ich nach meiner Zeit in New York nach Austin zurückgekehrt und habe dort Filmregie studiert.
Das "Slacken", also das "Herumhängen" gilt als ein typischer Ausdruck der Jugendkultur der Neunziger Jahre. Was wäre die typische Körpersprache der Gegenwart?
Tsangari: Darüber muss ich nachdenken; vielleicht kann ich das später beantworten.
Sie haben davon gesprochen, wie die Menschen in New York und Jakarta Straßen überqueren. Wo ist da der Unterschied?
Tsangari: In New York wirken die Menschen geradezu autistisch. Ja, ich würde sagen, die Körpersprache von heute ähnelt denen von Autisten. Die meisten Menschen in Industrienationen hocken doch heute den halben Tag vor irgendwelchen Bildschirmen. Also sind sie zu Hälfte anwesend und zur anderen Hälfte woanders. Wir sind schon heute wie Cyborgs, zumindest, was die Körpersprache angeht.
Das erinnert einmal mehr an Björk. In ihrem Musikvideo "All is Full of Love" haben zwei Cyborgs, also Mischwesen aus Mensch und Maschine, miteinander Sex…
Tsangari: Ja, das legendäre Video vom Regisseur Chris Cunningham. Das hatte tatsächlich einen großen Einfluss auf mich, so wie Björk auch, als menschlicher Prototyp. Sie scheint ja halb Alien, halb Tier zu sein – halb bodenständige Künstlerin, halb isländische Fee. Ich wollte immer schon mit ihr arbeiten und habe sogar einen Part für sie in einem Drehbuch für einen Science-Fiction-Film geschrieben. Dass wir heute immer wieder auf sie zurückkommen, nehme ich als gutes Omen für die Zukunft. (lacht)
Reden wir am Schluss über die Krise. Wegen ihr gibt es international zur Zeit wahrscheinlich ein größeres Interesse an der griechischen Kultur als je zuvor. In Berlin ist zum Beispiel vor kurzem die Athener Off-Theater-Gruppe Blitz zum ersten Mal in Deutschland zu sehen gewesen…
Tsangari: Oh, tatsächlich? Ich kenne Aggeliki Papoulia, eine der Gründungsmitglieder von Blitz sehr gut. Sie hat eine der Hauptrollen in Yorgos Lanthimos‘ neuen Film "Alpen" gespielt, den ich co-produziert habe.
Auch "Alpen" wird in die deutschen Kinos kommen, bereits im Juni. Müssen wir der Griechenlandkrise also dankbar sein?
Tsangari: Es sieht in der Tat so aus, als wäre Kultur das Einzige, das sich aus Griechenland zur Zeit exportieren lässt. Das hat natürlich auch einen zwiespältigen Effekt auf uns. Auf der einen Seite sorgt das für Aufmerksamkeit, aber auf der anderen Seite entsteht dann so ein Begriff wie "Die neue griechische Welle"…
… zu der Sie mit Ihren Filmen auch gezählt werden…
Tsangari: Aber was soll das bedeuten? Diese Filme stammen aus Griechenland, das ist richtig, aber ich bin nicht sicher, ob sie wirklich "neu" und schon gar nicht, ob sie Teil einer "Welle" sind. Aber schon bevor aus der Krise Griechenlands dieser überall sichtbare Tsunami wurde, haben wir den Abstieg unsrer Gesellschaft in Betrug und Misswirtschaft registriert. Man sieht das in alles schon in unseren früheren Filmen. Aber das Gute, an unserem Hang zu Anarchie und Chaos ist, dass wir als Filmemacher nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Jeder Film ist ein eigenes Tier, ein eigenes Biest. Wir sind alle sehr individuell, aber wir arbeiten trotzdem solidarisch miteinander und das ist wirklich neu für uns griechische Filmemacher. Nur miteinander ist es heute möglich, Filme zu produzieren, ohne auf staatliche Förderung zu warten, die sowieso viel zu niedrig ist. Die Krise ist wie ein Wachruf für unsere Gesellschaft. In den letzten 30 Jahren wollten wir und von einem Entwicklungsland zu einem Modernen Land im westlichen Europa entwickeln und wurden zu einer Gesellschaft von Konformisten, die auf geradezu kriminelle Weise die langfristigen Konsequenzen ihres Handelns ignorierten.
Eine letzte Frage: In dem Film "Wall Street" werden skrupellose Investmentbanker wie folgt charakterisiert: "Sie lieben die Tiere und hassen die Menschen." Wollten Sie mit "Attenberg" vielleicht auch solche Investmentbanker anregen, verantwortungsbewusster mit Menschen umzugehen, in dem Sie zeigen, dass in jedem Menschen auch ein Tier steckt?
Tsangari: (Lacht) Wow! Ich habe "Wall Street" allerdings nicht gesehen und kann Ihre Frage daher nur mit Nein beantworten. Aber sicher ist, dass es vielen Menschen leichter fällt, Mitgefühl mit Tieren zu haben, als miteinander. Wenn Menschen sich gegenseitig quälen und umbringen, ist das im Kino allgemein akzeptierte Unterhaltung. Aber sobald man auf irgendeine Art Gewalt gegen Tieren zeigt, verschlägt es dem ganzen Kino den Atem. Das ist schon seltsam.
Haben Sie ein Lieblingstier?
Tsangari: Ich habe viele. Aber ich mag Hunde ganz besonders. Und Wale.