Herr Petermann, die US-amerikanische Schriftstellerin Pearl S. Buck hat einmal gesagt: „Kinder, die man nicht liebt, werden Erwachsene, die nicht lieben.“ Was fällt Ihnen zu diesem Zitat ein?
Petermann: Das würde ja bedeuten, dass derjenige, der ungeliebt ist oder war, später nie Empathie für seine Mitmenschen empfinden kann, also immer ein ichbezogenes Wesen bleibt. Ich weiß nicht, ob man das so pauschalisieren kann. Sicherlich trifft das auf einige Menschen zu, aber bei weitem nicht auf alle.
Wenn man Ihr Buch „Auf der Spur des Bösen“ liest, bekommt man jedoch das Gefühl, dass viele Täter Ihre Taten durch negative Erfahrungen in der Kindheit und Jugend rechtfertigen wollen. Die Mutter wäre zu dominant gewesen oder sie wären von anderen Kindern gehänselt worden…
Petermann: Ich weiß gar nicht ob das wirklich immer ein Rechtfertigungsversuch ist. Wenn wir das Beispiel des Serienmörders aus dem Buch nehmen, denke ich, dass er nicht allein der dominanten Mutter die Schuld gibt. Er ist ja von vielen Menschen zurückgewiesen worden. Er ist allgemein immer ein Außenseiter gewesen und hat dann versucht seine Isolation zu kompensieren, indem er sich vorgestellt hat, wie er sich an den Menschen rächen könnte, zunächst noch in Gedanken und dann später auch durch seine Taten. Also sicherlich wird es schon so sein, dass Menschen, die nicht anerkannt sind, keine Zuneigung bekommen, sich zurückgesetzt fühlen, das zu kompensieren versuchen, manchmal eben auch durch Gewalt.
Welche Rolle spielt die Sozialisation bei der Entwicklung eines Menschen?
Petermann: Die Sozialisation eines Menschen ist ganz entscheidend und prägend. Menschen, denen nicht beigebracht wird, denen nicht vorgelebt wird, wie das Miteinander sein sollte, wie man Zuneigung und Liebe ausdrückt, aber auch in welchem Rahmen man Verärgerung zeigt, die werden es in ihrem späteren Leben schwerer haben als sozialisierte. Und sie können diese Werte dann natürlich auch ihren eigenen Kindern viel schwerer vorleben.
Ein Kind ist also immer auch ein Produkt seiner Umwelt und seiner Erziehung?
Petermann: Ja, es hat von Geburt an bestimmte Anlagen, aber wird durch die Erziehung, die Schule, das Umfeld im Laufe seines Lebens natürlich beeinflusst.
Wenn Sie sagen, „bestimmte Anlagen“, gibt es dann auch das angeborene Böse?
Petermann: Dass Menschen von Grund auf schlecht sind, vermag ich eigentlich nicht zu glauben. Ich könnte jetzt ja auch die Theorie aufstellen, dass der Mensch von Geburt an gut ist und das Böse sich erst nach und nach einstellt. Beide Theorien sind mir zu absolut und will ich so auch gar nicht glauben. Das erinnert mich auch an die Theorien des italienischen Arztes Cesare Lombroso zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der die These aufstellte, es gäbe den geborenen Verbrecher. Das glaube ich nicht. Es werden ja auch Menschen zu Tätern, die viele Jahre normenkonform gelebt haben, und bei denen dann bestimmte Umstände dazu geführt haben, dass sie zu Verbrechern, zu „Mördern“ wurden. Das ist besonders oft bei Beziehungstaten, also Intimiziden, der Fall.
Im Bezug auf Intimizide zitieren Sie in Ihrem Buch einen Psychiater, der einmal zu Ihnen gesagt hat: „Solche Taten können jeden von uns treffen. Und auch ich kann für mich nicht ausschließen, dass ich im Affekt, in höchster Erregung, meine Partnerin töten könnte“ Hat er Recht?
Petermann: Ich glaube, immer dann wenn Gefühle wie Wut und Aggression oder auch Liebe eine Rolle spielen, und sie eruptiv zum Vorschein kommen, kann es zu eigentlich ungewollten Gewalthandlungen kommen.
Und das auch wirklich bei jedem?
Petermann: Ja, solche Tötungsdelikte ziehen sich durch die ganze Gesellschaft. Auch wenn in meinem Buch eher Beispiele aus dem sogenannten Prekariat zu finden sind, letztendlich geht es durch alle Gesellschaftsschichten. Das Töten ist dem Menschen immanent. Es ist Teil unseres Lebens, unseres Seins. Es gehört zu unserem Leben dazu.
Kann man also doch sagen, dass das Böse im Menschen enthalten ist?
Petermann: Also, ich glaube definitiv nicht, dass ausschließlich das Böse angeboren, vererbt und in den Genen verankert ist. Sondern ich denke, dass der Mensch Anteile des Bösen wie des Guten in sich trägt, er also stets dem Wechselspiel zwischen Gut und Böse ausgesetzt ist – vielleicht ähnlich wie Ebbe und Flut.
Doch warum bleibt der eine gut während der andere zum Bösen wird?
Petermann: Ich meine, dass es ein Konglomerat, also quasi ein Schmelztiegel von Sozialisation oder eben fehlender Sozialisation, dem Schaffen von Werten und dem Achten und Anerkennen des Anderen, Lebensumständen, situativen Momenten, Gefühlen wie Wut, Hass, Ärger, Enttäuschung, Verzweiflung, Liebe und der Auseinandersetzung mit sich selbst ist. Inwieweit kann ich mich in bedrängenden Situationen beherrschen und meinen spontanen Gefühlen eben keinen freien Lauf lassen? Mich entscheiden, etwas ganz Anderes zu tun als ich eigentlich in dem Moment möchte und somit nicht dem Bösen zu erliegen. Natürlich ist hier die Frage des "freien Willens" zu berücksichtigen. Inwieweit war die agierende Person in der Lage, das Unrecht seines Handelns einzusehen? Zum Glück ist das nicht meine Aufgabe dieses bei einem Menschen zu beurteilen, der getötet hat. Diese Frage könnte ich nicht beantworten.
Jeder Mensch kennt Situationen, in denen er schon mal die Beherrschung verloren hat und ausgerastet ist. Was passiert da im Menschen wenn die Emotionen hochkochen?
Petermann: Es wird sicherlich zu viel Adrenalin produziert, Steuerungsmechanismen werden ausgeschaltet. Der Mensch folgt einfach nur seinem Gefühl, dem Wunsch eruptiv zu handeln – in blinder Wut einfach drauf los zu schlagen. Nach diesem Ausbruch setzt normalerweise recht schnell wieder der Verstand ein, es wird einem bewusst, was man getan hat. Häufig habe ich bei diesen Menschen erlebt, dass sie anschließend die Tat wieder „zurücknehmen“ wollten und hofften, sie könnten die Zeit zurückdrehen.
Ist es so auch zu erklären, das bestimme Täter nach der Tat ihr Opfer waschen, es zudecken, die Tat quasi optisch ungeschehen machen wollen?
Petermann: Ja. Ich vergleiche solche Handlungen immer mit der Reaktion einer Mutter, der die Hand ausgerutscht ist. Wenn ihr bewusst wird, was sie da gerade getan hat, nimmt sie ihr Kind schützend in den Arm, tröstet und versucht es und sich selbst zu beruhigen. Ich denke dieses Verhalten können wir auf Menschen übertragen, die getötet haben, und es vielleicht gar nicht wollten. Dann versorgen sie die Wunden oder legen zum Beispiel sakrale Gegenstände zur Leiche. Ich habe mal einen Fall bearbeitet, da hat eine Frau ihren 37-jährigen Sohn getötet, der schwer krank war. Sie befürchtete, sie würde nicht mehr lange leben und er müsse dann ins Heim. Dieses Schicksal wollte sie ihm ersparen. Sie hat ihn mit Schlaftabletten bewusstlos gemacht und ihn anschließend erdrosselt. Nach der Tat hat sie seine Wunde verbunden und ihm die Gegenstände, die ihm lieb waren, ins Bett gelegt. Sie wollte damit ihre Zuneigung ausdrücken und ihn gleichzeitig ins Leben zurückholen, aber das ging ja nicht mehr.
Inwiefern sieht man so einen Fall als Ermittler anders an als einen kaltblütigen Mord?
Petermann: Solche Fälle sind schon sehr speziell und ungewöhnlich. Mich machen sie sehr betroffen. Der Schutzschild ist dann wirkungslos. Bei anderen Morden ist das Opfer meist viel anonymer. Aber eben durch diesen versuchten Akt der Wiedergutmachung kann ich ja sehen, in welcher Beziehung Opfer und Täter zueinander standen. Das geht mir schon nahe, obwohl ich das gar nicht zulassen möchte.
Viele Taten, die Sie in Ihrem Buch erwähnen, würde man umgangssprachlich als „grausam“ oder „krank“ bezeichnen. Gehen Sie auch mit solchen Begriffen um oder blenden Sie das völlig aus?
Petermann: Ich versuche Wörter wie „grausam“, „brutal“ oder „krank“ bei meiner Arbeit – und natürlich auch in den Fallbeschreibungen des Buches – nicht zu verwenden. Weil das gleich eine Wertung wäre, die mir nicht zusteht. Ich bin ja eigentlich nur dazu da, herauszufinden, was geschehen ist und was das Motiv für die Tat gewesen sein könnte. Diese Aufgabe kann ich nur unvoreingenommen erfüllen.
…was eine Wertung ausschließt.
Petermann: Ja, das Bewerten steht mir nicht zu, denn dann könnten subjektive Einflüsse mich vom wahren Tatgeschehen und den dahinter stehenden Motiven ablenken. Wenn ich mit dem Täter spreche und gleich sein Verhalten einschätze, ist das eine missliche Situation. Denn auch ein Täter oder mutmaßlicher Täter hat natürlich Rechte, die es zu wahren gilt: Unvoreingenommenheit und Objektivität der Ermittler. Gleichzeitig auch, dass er zum Beispiel die Aussage verweigern oder einen Rechtsanwalt konsultieren darf. Diese Rechte nenne ich ihm bei der Vernehmung und hoffe, dass er sich trotzdem mit mir unterhalten möchte und aussagt. Dazu wird er aber nur dann bereit sein, wenn ich eine gute Gesprächsatmosphäre schaffe. Der Täter muss sich und seine Motive verstanden wissen. Das bedeutet nicht, dass ich sein Verhalten akzeptiere, doch man darf nie einem Täter seine Antipathie zeigen oder unbeherrscht vorgehen. In dem Moment müsste man den Fall abgeben. Mir ist das zum Glück noch nie passiert.
Doch Sie schreiben, dass Ihnen diese sachliche Betrachtungsweise am Anfang Ihrer Arbeit schon sehr schwer gefallen ist…
Petermann: Ja, das war auch ein langer Prozess. An meinem ersten Tatort bin ich damals kollabiert und wurde mit dem Opfer, das glücklicherweise überlebt hatte, zusammen ins Krankenhaus gefahren (lacht). Diese Professionalität kam ja nicht von heute auf morgen. Ich war immer sehr zartbesaitet und habe mir viele Gedanken über die Taten und die Opfer gemacht. Später wollte ich aber nie mehr wissen, was der Mensch empfunden hat, als er merkte, dass er sterben wird. So habe ich später auch damit begonnen, mir nicht mehr die Namen der Opfer zu merken oder wo sie genau gewohnt oder gelebt haben. Ich wollte nicht durch Bremen laufen und an jeder Ecke an die Mordfälle oder die von mir untersuchten Todesfälle erinnert werden. Das sind mittlerweile weit über 1000 Fälle und das würde einfach nicht gehen. Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, mir Schubladen für meine Gedanke und Gefühle zu schaffen, in denen ich dann die Fälle und Schicksale ablege. Aber als ich das Buch geschrieben habe, mich an die Fälle zurückerinnerte, kamen natürlich viele Bilder von Tatorten und den Opfern wieder zurück.
An meinem ersten Tatort bin ich kollabiert.
Denkt und memoriert man als Ermittler viel in Bildern?
Petermann: Ja, das ist etwas, was ich gelernt habe, durch all die Tatorte, die ich im Laufe der Zeit beschreiben musste. Ich habe zu Beginn ganz viel in mein Notizbuch geschrieben, und nach und nach brauchte ich dann immer weniger Notizen, weil ich die Bilder in meinem Kopf abgespeichert habe. Im Buch habe ich versucht diese Bilder wiederzugeben. Ich wollte dem Leser die Chance geben, sich die Tatorte auch bildlich vorstellen zu können. Gleichzeitig war es mir wichtig, dass er selbst bestimmt, wie sehr er diese Eindrücke an sich heran lässt.
Als Mordermittler waren Sie immer direkt vor Ort. Die Arbeit als Profiler spielt sich größtenteils am Schreibtisch ab. Sehnen Sie sich manchmal nach der alten Arbeit zurück?
Petermann: Ja, die alte Arbeit lebt in mir. Bevor ich die neue Dienststelle übernahm, war ich fünf oder sechs Jahre lang Mordermittler und Fallanalytiker in einer Person. Das war genial.
Warum haben Sie das denn damals aufgegeben?
Petermann: Das hatte bürokratische Gründe. Wir Fallanalytiker wurden zu einem Kommissariat zusammengeschlossen. Dagegen konnte ich natürlich nichts tun. Aber diese Doppeltätigkeit würde ich gerne wieder machen. Vielleicht hätte ich damals darauf verzichten sollen und wäre reiner Mordermittler geblieben.
Sie haben berufsmäßig mit Mord und Totschlag zu tun, doch durch Kinofilme wie der „Saw“-Reihe, aber auch durch den normalen Fernsehkrimi bis hin zu Computerspielen werden wir alle nahezu täglich mit Mord und Totschlag konfrontiert. Wie stehen Sie zu dieser medial vermittelten Gewalt?
Petermann: Eigentlich müsste man annehmen, dass sich dadurch die Anzahl der Tötungsdelikte erhöht, letztendlich zeigt aber die Statistik, dass Tötungsdelikte in den letzten Jahren abnehmen. Ich glaube, dass wir eher eine Verschiebung der Gewalt haben, also dass schneller zugeschlagen wird, dass es eher zum Einsatz von Messern und Schlagringen kommt. Auch das Abziehen von Jugendlichen und das Filmen dieser Taten mit dem Handy oder die Vergewaltigung aus einer Gruppe heraus sind neue Erscheinungsformen. Die Hemmschwelle zur Gewalt nimmt ab, die Bereitschaft, den anderen zu achten und zu respektieren.
Inwiefern kann man diese Entwicklung den Medien anlasten?
Petermann: Wenn, dann nur zum Teil. Hinzu kommen Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit und oft auch Alkohol- und Drogenmissbrauch. Das ist in einem Verbund zu sehen.
Aber wenn ich in einem Film sehe wie jemandem Gewalt angetan wird oder in einem Computerspiel selber zur Waffe greife, dann macht das doch was mit mir als Mensch…
Petermann: Ich glaube das ist häufig auch die Möglichkeit in der Phantasie in diesen Dimensionen zu leben. Sich auf diese Weise mit dem Bösen auseinanderzusetzen. Andere vielleicht auch stellvertretend für sich handeln lassen.
Wenn ich mir nun meine Söhne angucke, 17 und 18 Jahre alt, die mit ihren Freunden diese Spiele spielen, kann ich nicht feststellen, dass ihr Gewaltpotenzial dadurch höher geworden ist. Ich denke eher, dass die Menschen, die generell ein höheres Gewaltpotenzial in sich haben, bewusst diese Spiele spielen und diese dann wiederum den Hang zur Gewalt noch verstärken. Aber ich denke nicht, dass diese Spiele oder diese Filme generell Menschen gewalttätiger oder aggressiver machen. Wenn denn die Sozialisation greift.
Über mehrere Amokläufer ist bekannt, dass sie gewalttätige Computerspiele gespielt haben…
Petermann: Aber das ist ja auch ein ganz spezieller Menschentyp, der sehr in sich zurückgezogen lebt und eine Affinität zu Waffen besitzt, weil er damit umgeht, sich mit den Biographien anderer Amokschützen auseinandersetzt, sie als Vorbilder sieht. Meistens fehlt diesen Menschen eine Perspektive, in der Schule, in der Ausbildung. Sie sehen keinen Ausweg aus ihrer Situation und machen Personen konkret für ihre Situation verantwortlich, können aus dieser Schleife nicht mehr ausbrechen. Durch die Tat wollen diese Täter unsterblich werden.
Amokläufer können erst zu Vorbildern werden, indem über sie berichtet wird, indem ihre selbst gedrehten Videos im Fernsehen und Internet präsentiert oder ihre Abschiedsbriefe veröffentlicht werden…
Petermann: Natürlich besteht eine Gefahr, dass dadurch jemand heroisiert wird. In solch einem Fall müsste auch eine kritische Auseinandersetzung geschehen. Wenn ich als Sender über einen Amokläufer berichte, muss ich auch Verantwortung übernehmen und Stellung beziehen: dass es nicht akzeptabel ist und auch nicht heroisch. Es gibt mittlerweile so viele Medien, die innerhalb von Minuten von allen Erdteilen berichten können, dass die Berichterstattung generell wohl kaum aufzuhalten ist. Dafür sind wir medial zu sehr global vernetzt.
Warum gucken sich Menschen eigentlich so gerne in Filmen an, wie anderen Menschen Gewalt angetan wird? Was fasziniert den Menschen daran?
Petermann: Wir haben schon festgestellt, dass wir Anteile des Bösen in uns haben, diese jedoch meistens nicht an die Oberfläche gelangen lassen. Darum lassen wir in solchen Filmen vielleicht andere für uns stellvertretend agieren. Ich vermute, dass darin auch der Erfolg von Psychothrillern und Krimis begründet ist, die uns sehr nah, ungeschminkt und manchmal auch heroisierend das Böse und Abgründe menschlichen Verhaltens vor Augen führen. Quasi als ewiger Widerstreit von Gut und Böse und dem manchmal ungewissen Ausgang, was letztendlich gewinnen wird. Aber das ist nur eine Sichtweise. Vielleicht ist es auch die Frage des Zuschauers an sich selber: Wie viel Brutalität und Gewalt halte ich aus? Bei welchen Szenen muss ich weggucken?
Wie stehen Sie eigentlich zu US-Serien wie „Cold Case – Kein Opfer wird je vergessen“ oder „Profiler“? Wie realistisch ist das, was der Zuschauer im Fernsehen sieht?
Petermann: Ich berate ja seit mittlerweile zehn Jahren den Bremer „Tatort“ und da wollte ich am Anfang auch all mein kriminalistisches Wissen unterbringen.
Und?
Petermann: Ich habe schnell gemerkt, dass das gar nicht unbedingt gefragt ist. Die Fälle im „Tatort“ sind einfach anders aufgebaut als in der Wirklichkeit. Es gibt im „Tatort“ nicht nur das Verbrechen, sondern auch Geschichten in den Geschichten und viele Handlungsstränge. Letztendlich ist es Unterhaltung. Wenn ich nun diese US-Profiler-Serien angucke, weiß ich, warum sie gedreht werden. Sie sollen spannend sein, unterhalten und Einschaltquoten erfüllen. Ich finde es auch nicht problematisch wenn da überzogen wird. Aber mit meiner Arbeit direkt haben diese Serien nicht wirklich was zu tun. Wichtig ist nur, dass durch diese Plots meine Tätigkeit nicht verklärt und das im Fernsehen gezeigte nicht als wahr empfunden wird.
Wenn man die Arbeit, die Sie machen, verfilmen würde – wäre das spannend, würden das die Leute gucken?
Petermann: Eine Fallanalyse wäre bestimmt ganz schön oder das Auswerten von Bildern, die Gespräche mit der Rechtsmedizin. Das wäre schon okay, aber das müsste man sehr komprimieren. In der Wirklichkeit dauert eben alles viel länger als im Krimi. Leider. (lacht)
Erkennen Sie die Täter in Krimis eigentlich schneller als der normale Zuschauer?
Petermann: Ja, das glaube ich wirklich. (lacht herzlich) Da rate ich auch immer mit. Das ist sehr lustig.
Macht es Spaß mit Ihnen gemeinsam einen Krimi zu gucken?
Petermann: Och, das glaube ich schon. Wenn es ein guter Krimi mit vielen Handlungssträngen und Verdächtigen ist. (lacht) Ich äußere dann manchmal schon einen Verdacht, aber manchmal kommt es ja auch zu überraschenden Wendungen und ich lag daneben. (lacht)
Kommen wir zu einem anderen Thema. Um Verbrechen zu verhindern werden immer mehr Überwachungskameras installiert. Immer mehr Täter können so bereits wenige Tage nach der Tat gefasst werden. Wie stehen Sie zur Überwachung?
Petermann: Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch und mir kommt es so vor, als würden unsere Freiheiten nach und nach immer mehr eingeschränkt werden – durch Überwachungskameras und Vorschriften welcher Art auch immer. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht in einen Überwachungsstaat enden.
Aber wenn Sie es unter dem Aspekt der Verbrechensbekämpfung bewerten?
Petermann: Sicher helfen die Kameras auch, Verbrechen aufzuklären. Würde es diese Kameras nicht geben, würde es unter schlechteren Bedingungen zur Aufklärung kommen. Als es diese Kameras noch nicht gab, wurden Verbrechen ja auch aufgeklärt. Wir waren viel mehr als heute üblich „auf der Straße“ und haben versucht, Zeugen zu ermitteln. Auch die Bereitschaft der Bevölkerung, uns zu helfen, war eine andere. Das erfüllen jetzt zum Beispiel die Kameras.
Ich habe einfach die Angst, dass wir nach und nach gläsern werden, dass vieles, was uns so auszeichnet, was wir an Individualität haben, gleichgemacht wird.
Durch Überwachungskameras?
Petermann: Nicht nur durch Überwachungskameras. Der Körperscanner am Flughafen, der elektronisch lesbare Personalausweis mit Fingerabdruck. Die Forderung nach immer mehr Möglichkeiten der Überwachung der Telekommunikation bei geringeren Verbrechen, dem Sammeln von Daten. Sicherlich alles Möglichkeiten, um Verbrechen nachträglich aufzuklären. Doch wie viele können dadurch verhindert werden? Und ich finde es auch erschreckend, welche Flut an Informationen über jeden von uns gesammelt werden. Ich möchte nicht, dass der Staat alles über mich weiß. In einem gläsernen George-Orwell-Staat möchte ich nicht leben.
Müssen wir denn auf Freiheit verzichten um Sicherheit zu bekommen?
Petermann: Wir müssen uns ja fragen, woran es liegt, dass diese Sicherheit nicht da ist. Warum gibt es so viele Straßengangs? Das ist ein gesellschaftliches Problem: viele Arbeitslose, schlecht ausgebildete Menschen, abgebrochene Schulkarrieren, berufliche Tristesse, Gammeln. Das kann ich nicht dadurch kompensieren, in dem ich immer mehr Überwachungskameras aufstelle. Das ist alles viel, viel komplexer, da kommen wir wieder zu dem, was wir vorhin besprochen haben, zur Sozialisation des Menschen.
Nein, wir müssen auch nicht pauschal auf Freiheit verzichten, um Sicherheit zu bekommen. Wir müssen den (jungen) Menschen Perspektiven bieten, sie fördern, bestehende Gesetze konsequent anwenden und dadurch auch zur Abschreckung beitragen. Ermittlungen gewissenhaft führen. Genügend Personal dafür haben. Zeiträume der der Strafverfahren verkürzen.
Ich denke, dass der Staat richtig entschied als er Menschen, die einer Tat verdächtig sind, Rechte zugestand: Aussageverweigerung, Rechtsanwaltskonsultation usw. Das heißt doch auch, dass Aufklärung um jeden Preis nicht gewollt ist.
Verbrechen sind, wenn man so will, die Grundlage für die Existenz Ihres Berufs. Dennoch: Wünschen Sie sich oft eine bessere Welt?
Petermann: Ich fände das schön, wenn sich die Menschen nicht mehr gegenseitig töten würden. Denn ich bin ein Mensch, der eigentlich immer auf Ausgleich aus ist, und Probleme nicht mit Gewalt lösen will. Aber ich weiß auch, dass das illusorisch ist. Das Töten gehört mit zu unserem Leben, zu unserer Gesellschaft. Insofern wird mir die Arbeit so schnell nicht ausgehen.