Frau Lochbihler, am 10. Dezember feiert die 1948 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Menschenrechtscharta ihr 60-jähriges Jubiläum. Sie bezeichneten die Lage der Menschenrechte kürzlich allerdings als „düster und schockierend“.
Lochbihler: Es wurde mehr erreicht, als man 1948 gedacht hat: eine Fülle von Konventionen, ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass Menschenrechte wichtig sind. Als Vertreterin einer Menschenrechtsorganisation ist das Glas für mich aber immer halb leer. Wir haben es nach wie vor mit schwersten Menschenrechtsverletzungen zu tun, auch wenn sich diejenigen, mit denen wir es zu tun haben, manchmal ändern. Ein Beispiel: In Lateinamerika haben wir jetzt ganz andere Arten von Menschenrechtsverletzungen als unter den Militärdiktaturen. Es hat sich vieles zum Besseren gewendet, aber das heißt nicht, dass gleich der Idealzustand eingetreten ist. Dafür kämpfen wir dort jetzt gegen Armut, gegen Militär- und Milizübergriffe, gegen exzessive Polizeigewalt.
Für das Jahr 2007 hat Amnesty International in 81 Staaten Fälle von Folter bzw. entwürdigender und unmenschlicher Behandlung dokumentiert sowie mindestens 1252 Hinrichtungen in 24 Staaten. In welchem Verhältnis stehen in den letzten 60 Jahren gemachte Fortschritte und aktuelle Missstände?
Lochbihler: Die Zeit ab 1948 war geprägt durch den Schock über die Verbrechen und Grausamkeiten des Nationalsozialismus. Aber es gibt auch heute teilweise brutalste Verbrechen in Kriegen, 1994 gab es einen Genozid in Ruanda. Wir sind also noch nicht so weit, dass man konsequent und mit allen Kräften versucht, die Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen, bevor sie sich in Kriege umformen. Für uns ist das Jubiläum ein Anlass, um auf die uneingelösten Versprechen hinzuweisen und die Regierungen aufzufordern, deutlich mehr zu tun als bisher und den politischen Willen zu zeigen, Menschenrechtsverletzungen aus der Welt zu schaffen.
Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hat einmal gesagt: „Die Menschenrechtsverletzungen von heute sind die Kriege von morgen.“ Inwiefern ist Menschenrechtspolitik gleichzeitig Friedenspolitik?
Lochbihler: Das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht auf Demonstrationsfreiheit, das Recht auf Bildung – all das sind grundlegende Menschenrechte, die ein Staat gewährleisten muss. Dann ist es möglich, dass sich Menschen so organisieren können und die Konflikte, die es in jeder Gesellschaft gibt, auch so lösen können, dass es nicht zu einer gewalttätigen Lösung kommt. Deshalb stellt es präventive Sicherheitspolitik dar, wenn diese Dinge umgesetzt werden können und man die nationalen Regierungen dabei unterstützt, damit sie Menschenrechte gewährleisten. Was man dabei erreicht, ist oft nicht so spektakulär, aber wirksam. Im Endeffekt sind 80 Prozent der Menschenrechtsarbeit in ihrer Umsetzung Friedenspolitik.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind Menschenrechte im Zuge des Antiterrorkampfes zugunsten der Sicherheit teilweise stark vernachlässigt worden. Hat dies die Vorzeichen für internationale Menschenrechtspolitik grundlegend verändert?
Lochbihler: Es hat große Rückschritte gegeben, auf Grund der Tatsache, dass eine so große Nation wie die USA auf Menschenrechtsverletzungen gesetzt und aktiv dafür geworben hat. Indem bei Verhören Folter eingesetzt wird, indem Menschen in Geheimgefängnissen verschwinden, die es immer noch gibt. Die USA haben das Prinzip außer Kraft gesetzt, dass jeder Mensch immer Mensch bleibt, auch wenn er ein schlimmes Verbrechen begeht. Und Terrorattentate sind brutalste Verbrechen, bei denen das Recht auf Leben genommen wird. Es wurde gesagt: Diese Menschen, die das tun, sind keine vollwertigen Menschen mehr, sondern Feinde. Damit hat man sich außerhalb dieser zivilisierten Weltgemeinschaft gestellt, die sagt: Das Recht muss für jeden gleich gelten. Und wenn jemand gegen das Recht, das gilt, verstößt, indem er terroristische Anschläge verübt, muss man mit dem Recht antworten. Aber man muss sie immer als Menschen sehen, die unveräußerliche Rechte haben.
Die US-Politik der letzten Jahre hat durch die Missachtung des Folterverbots in Abu Ghraib und Guantánamo der gesamten Menschenrechtspolitik der westlichen Staaten einen schweren Glaubwürdigkeitsverlust beschert. Wie lässt sich die Glaubwürdigkeit wieder herstellen?
Lochbihler: Andere westliche Staaten haben ja auch dazu beigetragen, dass der Westen an Glaubwürdigkeit verloren hat. Wir haben zum Beispiel in Großbritannien Zustände gehabt, die durch oberste Gerichte erst im letzten Jahr wieder teilweise korrigiert wurden. Derzeit können Terrorverdächtige ohne Anklage bis zu 42 Tage in Haft genommen werden, die Regierung hatte gar 90 Tage beantragt. Und ein früherer britischer Innenminister hat gesagt: „Die größte Gefahr für die Sicherheit in Europa geht von der Europäischen Menschenrechtskonvention aus.“ Man kann also nicht alles auf die USA schieben, es gab zu viel kritikloses Übernehmen bei anderen. Ich denke, Glaubwürdigkeit können Sie dann herstellen, wenn Sie Menschenrechtsschutz in Ihrem eigenen Land konsequent durchsetzen und wenn Sie auch in den außenpolitischen bilateralen und multilateralen Beziehungen konsequent Menschenrechtsschutz einfordern. Und zwar nicht auf der Grundlage, dass man sagt: Wir Europäer haben schon alles. Sondern immer anhand der konkreten Fragestellung: Wo kann ein anderer Staat etwas verbessern? Wenn wir noch weiter in der Geschichte zurückgehen, muss man sagen, dass die westliche Geschichte ebenso eine Geschichte von Unterdrückung, Ausbeutung und Missionierung war. Zur Kolonialzeit hat sich niemand an Menschenrechten orientiert, das eigene Interesse wurde in den Vordergrund gestellt.
Auf welche Weise lässt sich Menschenrechtspolitik mit Sicherheitspolitik in der heutigen Zeit vereinbaren?
Lochbihler: Ich denke, es ist wichtig, dass man Sicherheit heutzutage nicht nur als militärische Sicherheit begreift. Es ist ein Irrtum, dass man durch die Anwendung von Gewalt in außenpolitischen Beziehungen oder durch eine Ausweitung von polizeilichen Maßnahmen Sicherheit herstellen könnte. Wann ist ein Mensch sicher? Ein Mensch ist sicher, wenn er weiß, dass er seine Rechte bekommt. Indem es ein funktionierendes Justizwesen gibt, indem Grundbedürfnisse geregelt und sie auch in Anspruch genommen werden. Mit diesen beiden Grundvoraussetzungen ist menschliche Sicherheit gewährleistet. Alles andere ist sicherheitspolitisch verkürzt gedacht. Wenn Sie schauen, welche Art von Kriegen es heute gibt, stellen Sie fest, dass es nur noch selten vorkommt, dass Staaten andere Staaten angreifen. In der Regel haben wir eine Staatszersetzung wie im Kongo, wo das Gewaltmonopol für den Ostkongo gar nicht mehr gilt, dort kämpfen unterschiedliche Milizen. Oder wir haben die Situation, dass ein Staat eine zu schwache Staatlichkeit hat und nicht viel umsetzen kann. Hier muss Menschenrechtsarbeit darauf drängen, dass es ein funktionierendes Justizwesen gibt und dass Grundvoraussetzungen wie Bildung, Nahrung, Wohnung gegeben sind. Das ist entscheidend. Alles andere ist nur ein ganz begrenzter Teil von Sicherheitspolitik.
Der designierte neue US-Präsident Barack Obama hat angekündigt, das Gefangenenlager Guantánamo zu schließen. Ist Obama für Sie ein Hoffnungsträger?
Lochbihler: Als Menschenrechtsorganisation haben wir es immer mit Regierungen zu tun, und wir vergleichen sehr genau, was vor der Wahl ist, und was nachher. Es ist gut, wenn er Guantánamo tatsächlich schließt. Wir haben ihn aber auch aufgefordert, Regelungen zu erlassen, die allen, die in US-Diensten stehen – seien es Soldaten oder Geheimdienstmitarbeiter – verbieten, Folter anzuwenden. Und wir haben ihn aufgefordert, in den ersten 100 Tagen eine unabhängige Kommission einzusetzen, die alle Menschenrechtsverletzungen, die die USA im Antiterrorkampf zu verantworten hat, aufklären und diejenigen, die es angeordnet haben zur Verantwortung ziehen kann. Wir hoffen, er macht das. Und wir hoffen natürlich auch, dass die USA ihre Einstellung gegenüber dem Menschenrechtsschutz der Vereinten Nationen verändert – Multilateralität statt Unilateralität. Wir sind nicht politisch naiv, dafür sind wir schon zu lange im Geschäft und wir werden die Politiker, egal wie charismatisch sie erscheinen mögen, immer daran messen müssen, was sie konkret tun.
Man muss seine Rechte kennen, um dafür kämpfen zu können.
Derzeit steht zur Debatte, dass EU-Staaten Gefangene aus Guantánamo aufnehmen und ihnen somit die Entlassung in die Freiheit ermöglichen sollen. Deutsche Rechtsexperten sagen allerdings, Guantánamo sei ein Problem, das die USA selbst geschaffen hätten, nun müssten sie es auch selbst lösen.
Lochbihler: Juristisch ist es sehr wohl so, dass die USA in der Pflicht sind, die Menschen aufzunehmen, wenn sie in die USA kommen wollen. Da sie das aber nicht tun, halte ich es aus humanitären Gesichtspunkten für ganz wichtig, dass auch Deutschland und andere EU-Staaten Menschen aufnehmen, die zu Unrecht in Guantánamo sitzen und allein aus dem Grund momentan nicht rauskommen, weil ihr Heimatstaat sie immer noch als Terroristen ansieht.
Inwiefern wird Deutschland seiner Verantwortung für weltweite Menschenrechtspolitik gerecht? Der ehemalige BKA-Kriminaldirektor Dieter Schenk behauptet, Deutschland ignoriere Menschenrechtsverletzungen in Folterregimen. Es gäbe eine stille Komplizenschaft, weil „polizeilicher Erfolg, Einfluss und Macht in international vernetzten Polizeiapparaten und wirtschaftliche Interessen Vorrang genießen vor dem Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, wie Kontrollinstanzen der Zivilgesellschaft“.
Lochbihler: Wenn wir jetzt mal beim Thema Folter bleiben: In unserem Gesetz steht, dass niemand von Deutschland aus in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihm Folter droht. Gleichzeitig sehen wir und kritisieren das, dass zum Beispiel in Staaten wie Ägypten, Marokko oder Algerien nachweislich – es wird auch von der Regierung nicht in Frage gestellt – Folter gegen die eigenen Leute eingesetzt wird. Das Bundesinnenministerium versucht dann, mit diesen Staaten Verträge zu schließen, in denen es heißt: Wenn wir diesen Menschen zurückschicken, wird er nicht gefoltert. Wir wissen aber von anderen Staaten, zum Beispiel Schweden, dass vermeintliche Terroristen nach ihrer Abschiebung im Heimatland eben doch gefoltert wurden. Diese „diplomatischen Zusicherungen“ sind höchst gefährlich und menschenrechtswidrig und gehören abgeschafft.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen in Hinblick auf Menschenrechte in aller Welt?
Lochbihler: Ich glaube da, wo es zu gewalttätigen Konflikten kommt, zum Beispiel in Ostkongo oder in Darfur. Wo Menschen in Krieg und kriegsähnlichen Zuständen leben müssen, wo das Alltagsleben zerrissen wird. Wie man intelligent und sinnvoll vorher agieren kann, bevor es soweit kommt, das ist aus meiner Sicht die größte Herausforderung. Das zweite Problem ist, dass ich befürchte, dass durch das viele Geld, das jetzt in die Rettung der Banken investiert wird, die Auswirkungen für Leute, die in Armut leben, ins Hintertreffen geraten. Für Menschen, die in Armut leben, ist Armutsbekämpfung keine theoretische Frage, sondern eine Frage von Leben und Tod. Deshalb darf es nicht passieren, dass man diese Menschenrechte zu gering schätzt.
Mit welcher Art von Menschenrechtsverletzungen haben wir es in Deutschland zu tun?
Lochbihler: Wir haben wiederholt kritisiert, dass es zu Abschiebungen in Länder kommt, in denen die Menschen nicht sicher sind. Wir haben kritisiert, dass es immer wieder Fälle gibt, wo Polizisten exzessiv Gewalt anwenden und dass man nicht ausreichend präventiv dagegen vorgeht. Natürlich gibt es auch Rassismus. Und ganz intensiv haben wir die deutsche Regierung kritisiert für ihre Mitverantwortung bei Menschenrechtsverletzungen im Antiterrorkampf, die es ja auch in unserem Land gegeben hat.
Sie sind seit 1999 Generalsekretärin, wollen Ihr Amt jedoch im nächsten Jahr aufgeben, zugunsten einer Kandidatur für das Europaparlament für Bündnis90/Die Grünen. Welches Fazit ziehen Sie nach fast zehn Jahren in diesem Amt? Was haben Sie bewirken können?
Lochbihler: Ein Vielfaches an Hilfestellungen und Erleichterungen für einzelne Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Das ist auch das, was einen am meisten motiviert. Die schlimmsten Rückschritte waren mit den Attentaten am 11. September 2001 zu verzeichnen. Eine Zeitlang hieß es danach auch in Deutschland: An die Opfer denkt keiner, wir müssen Folter im Ausnahmefall wieder zulassen, ohne es Folter zu nennen. Wir haben jedoch immer gesagt: Es darf im Antiterrorkampf keine Menschenrechtsverletzungen geben. Und wenn ich jetzt schaue, ist die Gefahr nicht gebannt – das ist immer ein Prozess -, aber es wird schon viel vernunftbezogener und menschenrechtsorientierter argumentiert als noch vor drei Jahren.
42 Prozent der Deutschen können laut einer Umfrage vom Mai kein einziges Menschenrecht benennen. Was schließen Sie daraus?
Lochbihler: Ich schließe daraus, dass auf Länderebene mehr im Unterricht und außerschulisch getan werden muss, so dass Menschenrechtswissen in die Jugend- und Schülerarbeit einfließt. Ich schließe daraus zudem, dass wir – wir sind ja eine Mitgliederorganisation – noch viel mehr darüber informieren müssen. Aber ich denke, es ist auch gut, dass viele Menschen bei uns in der Mehrheitsgesellschaft keine konkreten Erfahrungen mit Menschenrechtsverletzungen haben und deshalb auch weniger darüber wissen. Ich denke, man muss seine Rechte kennen, um dafür kämpfen zu können.