Sir Ben, haben Sie von den Ergebnissen der aktuellen Pisa-Studie gehört?
Ben Kingsley: Nein, ich war in den letzten Tagen meistens im Flugzeug. Ich habe keine Nachrichten verfolgt. Habe ich etwas verpasst?
Die 15-jährigen Kinder in England haben erstmals in keiner der Kategorien einer Pisa-Studie die Top 20 erreicht. Lernen die Kinder in Ihrem Land das Falsche?
Kingsley: Ich denke nicht, dass es um Lerninhalte geht. Ich erinnere mich, wie ich als kleiner Junge eine geradezu rauschhafte Aufregung verspürte, wenn der Lehrer sagte: „Jungs und Mädchen, heute lernen wir etwas Neues!“ Wenn heute ein Lehrer vor seine Schulklassen tritt und sagt: „Jungs und Mädchen…“, dann hat er doch Probleme, überhaupt gehört zu werden. Und wenn er lauter wird und brüllt: „Jungs und Mädchen, heute…“, dann kommt er kaum bis zum Ende seines Satze und seine Schüler beschäftigen sich schon wieder mit irgendwelchen mobilen Geräten, die sie in den Unterricht geschmuggelt haben.
Woran mag das liegen?
Kingsley: Aus irgendeinem Grund scheint der natürliche Hunger nach Wissen, die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen aus vielen Menschen verschwunden zu sein. Obwohl wir doch alle davon ausgehen, dass Wissen Macht ist, dass Wissen einen aufs Leben vorbereitet, einem Führungsqualitäten verleiht. Es geht um Wissen, nicht darum, welche Turnschuhe man hat.
Die Pausentaste ruiniert die Filmkunst.
Würden Sie also allen Schülern empfehlen, sich „Der Medicus“ anzusehen, in dem ein junger Engländer nach Persien reist, um sich zum Arzt ausbilden zu lassen?
Kingsley: Was die Lösung für die gegenwärtigen Bildungs-Probleme angeht – da wüsste ich gar nicht, wo ich anfangen sollte. Gut gemachte Filme können einen positiven Effekt haben, vor allem wenn man sie gemeinsam mit anderen, zum Beispiel mit der ganzen Familie sieht, um sich dann darüber auszutauschen. Aber wo hat man dieses Gemeinschaftserlebnis überhaupt noch? Kinder schauen heute doch die Filme auf ihrem Handy. Man kann auf „Pause“ drücken, wann immer man will, und schon ist das Erlebnis eines Filmes, der einen bannt und in sich hineinsaugt, dahin.
Andererseits macht doch diese Verfügbarkeit möglich, dass viel mehr Leute als zuvor einen bestimmten Film sehen können.
Kingsley: Das mag schon sein. Aber die Frage ist doch, wie man einen Film sieht. Man würde doch niemals bei einer Beethoven-Symphonie auf „Pause“ drücken. Man will hören, wie da Schicht auf Schicht folgt, wie eine Note nach der anderen auf diesen einen Ton zustrebt und dann – Bang! Was für ein Erlebnis! Aber die Pause-Taste ruiniert die ganze Kunst des Filmemachens. Die ganze Mühe, die in den wunderbaren Rhythmus eines Films investiert wird, zerbricht so in Stücke.
Wäre es auch eine Aufgabe der Medien, in jungen Menschen den Hunger nach Wissen wieder zu wecken?
Kingsley: Es wäre einen Versuch wert. Man kann nur niemanden zwingen. Man muss Wissen wieder attraktiv machen. Warum es auf mich schon als Kind so so eine Anziehung ausgeübt hat, weiß ich allerdings nicht. Ich war immer schon begeistert Neues zu lernen.

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Das historische Vorbild Ihrer Rolle in „Der Medicus“, der Arzt und Universalgelehrte Ibn Sina, lebte im frühen 11. Jahrhundert im heutigen Usbekistan und Iran. Haben Sie viel über jene Zeit recherchiert?
Kingsley: Es gab da einen wunderbaren Zufall. Als ich eine erste Drehbuchfassung zu „Der Medicus“ bekam, war es okay aber nicht sehr gut. Die zweite Fassung war dann wesentlich besser. In der Zeit dazwischen bekam ich aber das Angebot, einen Dokumentarfilm im Rahmen des Ausstellungsprojektes „1001 Inventions“ zu präsentieren. Dieser Film zeigte auf wirklich schöne Weise das goldene Zeitalter der islamischen Kultur im 10. und 11. Jahrhundert, mit all seinen zentralen Persönlichkeiten, ihren Leistungen und Erfindungen. Da wurde mir klar, dass Ibn Sina kein einsamer Wissenschaftler in einer ignoranten Welt gewesen ist, er war einer von tausenden brillanten Forschern seiner Zeit.
In Europa sprechen wir dagegen in der Regel vom „Finsteren Mittelalter“.
Kingsley: Eben. Und das wird in „Der Medicus“ ja auch sehr eindringlich geschildert. England hatte nicht nur damals schon das schlechtere Wetter, es war generell eine ziemlich schmutzige, schlammige Gegend voller unzufriedener, meckernder Menschen. Isfahan, wo Ibn Sina seine letzten Jahre verbrachte, war hingehen eine wundervolle, fortschrittliche Stadt, in der man sich mit Astronomie, Mathematik, Philosophie, Musik und Heilkunst beschäftigte. Meine Rolle war also nicht die eines verrückten Professors. Ibn Sina war Teil einer ganzen Bewegung, die nach Erkenntnis und Wissen drängte.
Worin bestand die besondere Herausforderung, Ibn Sina zu spielen?
Kingsley: Ehrlich gesagt: Nichts an der Schauspielerei empfinde ich als besondere Herausforderung. Sie ist mir immer eine reine Freude. Ich habe gewisse Ziele, die ich mir setze und erreichen möchte, aber ich wache nicht morgens auf und denke: der heutige Drehtag wird aber eine besondere Herausforderung… Natürlich gab es trotzdem ein paar Filme, die schwieriger waren, als andere. „Schindlers Liste“ zum Beispiel.
Welche Ziele hatten Sie sich für „Der Medicus“ gesteckt?
Kingsley: Nunja, auch das fertige Drehbuch tendierte an manchen Stellen zu einer gewissen Sentimentalität. Von daher war es mir wichtig, nicht sentimental zu spielen. Ich musste dafür noch nicht einmal die Worte verändern, sondern nur darauf achten, meine Rolle gegen jeden Wunsch nach Rührseligkeit zu verteidigen. Ibn Sina lebte wie in einer Blase. Es war ihm egal, ob ihn jemand mochte oder nicht. Er kümmerte sich nicht um die Meinungen anderer. Er war auf seiner Suche nach Wissen und wollte dieses Wissen an seine Studenten weitergeben, sonst nichts.
Diese Unbedingtheit kostet ihm allerdings, zumindest im Film, das Leben.
Kingsley: Ja, es ist doch eigenartig, wie die Geschichte sich immer wieder zu wiederholen scheint. Es hat zu vielen Zeiten die intelligentesten Leute gegeben, die sich noch in ihren Büchern vergruben, als die Welt um sie herum schon in Flammen stand. Und auch Ibn Sina ist ganz überrascht, wenn sein Palast plötzlich in Flammen steht. Er hatte nicht bemerkt, dass draußen eine Revolution im Gange war.
An der Film-Version des Ibn Sina irritiert allerdings, dass er – anders als sein historisches Vorbild – kein besonders religiöser Mensch ist. In „Der Medicus“ werden gläubige Muslime lediglich als rückständige Fanatiker gezeigt. Ist das nicht sehr einseitig?
Kingsley: Nun, das ist ihre Wahrnehmung des Films. Als Schauspieler habe ich mich auf meine Rolle und auf das Spiel meiner Kollegen zu konzentrieren. Wenn wir unsere Arbeit gut machen, entsteht etwas, das die Zuschauer bewegt und auch zu allen möglichen Debatten anregt. Ich finde ihre Wahrnehmung sehr interessant, aber ich werde sie ganz bestimmt nicht kommentieren. Ich habe zum Film nichts beizutragen, außer meine Darstellung.