Benjamin Biolay

Wir lieben das, was wir uns weggenommen haben.

Der „Retter des französischen Chansons“ Benjamin Biolay über den Rückzug ins Private, Zidanes Kopfstoß, John Lennon und sein Album „Trash Yéyé“

Benjamin Biolay

© Benoît Peverelli / Labels Music Germany

Herr Biolay, wie lassen Sie sich normalerweise morgens wecken, mit dem Radio oder mit dem Wecker?
Biolay: Mit einem sehr brutal klingenden Wecker. Es ist für mich sehr schwer aufzustehen, also hat mein Wecker einen sehr harten, hässlichen Ton. Er steht sehr weit vom Bett entfernt und wird immer lauter. Das würde wirklich jeden wach kriegen…

Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Alltag?
Biolay: Als ich jünger war, habe ich jeden Tag in meinem Heimstudio Musik gemacht. Heute habe ich nur noch eine Gitarre und ein Keyboard zuhause. Ich kann mittlerweile viel Zeit verbringen ohne Musik zu machen. Aber ich höre mir viel an.

Auch nebenbei, beim Kochen zum Beispiel?
Biolay: Ich mache Musik zum Tanzen an, wenn Freunde kommen, oder wenn ich ein wenig melancholisch werde und Energie aus Liedern brauche. Allerdings brauche ich auch das nicht mehr jeden Tag – im Gegensatz zu Sport.

Dann gucken Sie wahrscheinlich auch mehr Eurosport als MTV?
Biolay: Nicht Eurosport, da läuft zu viel Seltsames. Ich bin eher Fan von Basketball und Fußball.

Da muss ich Sie natürlich fragen, wie Sie das Fußball-WM-Finale letztes Jahr zwischen Italien und Frankreich erlebt haben.
Biolay: Zu der Zeit war ich gerade in Italien und wohl der einzige Franzose weit und breit. Alle waren glücklich, außer mir. Zuerst war ich sehr traurig und verwirrt.

Wegen dem Kopfstoß, den Zinédine Zidane seinem pöbelnden Gegenspieler verpasste?
Biolay: Ja, allerdings.

Von der Unsportlichkeit einmal abgesehen: letztlich hat diese Affäre die Realitäten zu Recht gerückt. Es ist doch eine Illusion, dass in einem Geschäft, das auf den Einzelnen so viel Druck ausübt…
Biolay: … die Menschen in der Lage sind, sich permanent angepasst, brav und vorbildlich zu verhalten. Das sehe ich genauso.

Zitiert

Als Italien gegen Frankreich um die Fußball-Weltmeisterschaft spielte, war ich gerade in Italien und der einzige Franzose weit und breit.

Benjamin Biolay

Existieren diese Mechanismen ähnlich in der Musikindustrie?
Biolay: Genau deswegen habe ich mich aus der Industrie zurückgezogen. Ich gehe auf keine der üblichen Partys mehr und halte mich so fern vom Geschäft wie möglich.

Den Rückzug ins Private haben viele erfolgreiche Musiker irgendwann angetreten. Allerdings neigen sie dann eher dazu, wie John Lennon zum Beispiel, ernstere, intime Platten aufzunehmen. Bei Ihnen scheint auch ein überraschender Humor zu Tage zu treten. Zum Beispiel in dem Song „Cactus Sonata“.
Biolay: Das ist eine Art Burlesque. Die sollte nach alten klebrigen Spaghetti-Western klingen.

Sie benutzen in Ihren Songs auch immer wieder kurze Samples aus Filmen oder anderem historischen Material.
Biolay: Ja, das ist meine Art, Menschen zu huldigen, die ich sehr bewundere. Juliette Greco zum Beispiel, Ringo Starr oder den Basketballspieler Ron Anderson.

Was bedeutet der Plattentitel „Trash Yéyé“ ?
Biolay: Als „Trash Yéyé“ bezeichnet man jene französischen Beatbands, die in den 60er Jahren versucht haben, die Beatles auf Französisch zu imitieren. Das ist eher ein selbstironischer Witz, denn ich verehre die Beatles natürlich sehr.

Könnten Sie sich auch vorstellen, wie John Lennon zu einem politisch engagierten Protestsänger zu werden?
Biolay: Nein. Er war ein großer Songschreiber, aber jedes Mal wenn er direkt auf ein politisches Ereignis mit einem Lied antwortete, kam ein schrecklicher Song dabei heraus. Ich denke eher, dass auch das Private sehr politisch sein kann. Und abgesehen von ihrem Humor sind meine neuen Songs die persönlichsten, die ich je geschrieben habe.

Auf vielen Fotos erfüllen sie das typische Image eines französischen Stars: melancholisch in die Welt schauend, Zigarette rauchend, fotografiert in schwarzweiß…
Biolay: Für mich ist das nicht wirklich ein französischer Stil. In meiner privaten Mythologie stammt dieser Look eher von den Fotografen Astrid Kirchherr und Klaus Vormann, die das Image der Beatles zu ihrer Hamburger Zeit kreiert haben. Die allerdings hatten sich ihren Look von den französischen Existentialisten wie Jean Paul Sartre abgeguckt und die wiederum wollten nur so cool aussehen, wie die Cowboys in den großen amerikanischen Western.

Und wie stellen sich die Franzosen den typischen deutschen Künstler vor? Eher kühl intellektuell oder romantisch?
Biolay: Für mich hat das in der Tat viel mit Goethe zu tun und der späten Romantik des 19. Jahrhunderts. Jene Romantik, die wir Franzosen dann übernommen haben.

Das heißt, Deutsche, die das Französische sehr lieben, lieben in Wahrheit eine frühere Version ihrer selbst?
Biolay: Ja, wir lieben das, was wir uns gegenseitig weggenommen haben. (lacht)

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