Benjamin, du hast das Schreiben einmal als eine Qual bezeichnet. Was hat dich diesmal dazu gebracht, sich erneut dieser Qual auszusetzen?
Lebert: Gleichermaßen wie das Schreiben für mich eine Qual ist, ist es auch eine Notwendigkeit. Ich würde mich sehr unwohl fühlen, wenn mir das Schreiben aus welchen Gründen auch immer genommen würde. Es fällt mir leichter, durch das Schreiben mit jemandem Kontakt aufzubauen, selbst wenn ich denjenigen gar nicht kenne, weil er nur meine Geschichte liest und ich ihn niemals treffen werd. Deswegen werde ich, so lange ich die Möglichkeit habe, immer wieder ein neues Projekt in Angriff nehmen.
Seit der Veröffentlichung von „Kannst du“ sind vier Jahre vergangen – ist in deinem Kopf die Zeit nach einer Buchveröffentlichung sofort auch die Zeit vor der nächsten?
Lebert: Nein, ich bin ein sehr langsamer Schreiber. Ich brauche sehr lange, um die richtigen Worte zu finden. Das hat etwas vom Fliegenfischen (Methode des Angelns, Anm. d. Red): Wenn ich fische, dann nicht mit einem ganz großen Netz, das viele Fische fängt, sondern ich gehe allein raus mit einer Libelle (Köder) und will einen bestimmen Fisch fangen.
Und wo hast du dir die Idee zum „Flug der Pelikane“ ‚rausgefischt’?
Lebert: Als ich zehn Jahre alt war, war ich mit meinen Eltern in San Francisco und in Alcatraz. Ich war so begeistert von der Geschichte der Insel, von der Menschlichkeit, die auch an einem so rauen Ort durchscheint. Das Gefangensein als Idee hat mich so fasziniert, weil ich schon damals das Gefühl hatte, dass ich selbst gefangen bin. Mein Vater hat mir all die Geschichten übersetzt und ich habe diesen Ort irgendwie mit mir getragen – für Jahre. Als ich später mit meinem Buch „Kannst du“ auf Lesereise war, habe ich dann nachts im Fernsehen eine Dokumentation über Alcatraz gesehen. Da habe ich mir gedacht, dass ich darüber schreiben will, ich wusste nur noch nicht genau wie. Ich habe angefangen, Gefühle einzufangen, die ich in mir trage und eine Geschichte um dieses Thema herum zu bauen. Damit war ich die letzten Jahre beschäftigt.
Und all die Erfahrungen und Empfindungen, die du im Buch schilderst, sind autobiographisch?
Lebert: Das Buch ist von all meinen Büchern das, was am wenigsten mit mir zu tun hat, was die Äußerlichkeiten betrifft. Nichtsdestoweniger musste ich den Gefühlen des Gefangenseins in mir selbst auf den Grund gehen, um darüber zu schreiben.
Geht es aber nicht vor allem um den positiven Aspekt der Freiheit und weniger um das Gefangensein?
Lebert: Ich glaube, dass der Ich-Erzähler am Ende freier nach Hamburg zurückkehrt. Und ich denke, dass es eine der wichtigsten Aufgaben eines Menschen ist, sich aus sich selbst zu befreien wie aus einem Schmetterlingskokon. Manchen Menschen sieht man es richtig an, ob sie schon aus ihrem Kokon heraus sind oder nicht. Manche entscheiden bewusst, dass sie drin bleiben, weil sie es angenehm finden – das ist dann aber auch eine Form von Freiheit. Der Kokon ist bei jedem etwas anderes: Schuldgefühle, die Ablösung vom Urteil anderer, von den Eltern. Ich glaube, dass Anton am Ende des Romans seinen Kokon verlassen hat.
Das klingt ermutigend.
Lebert: Das neue Buch ist das heiterste und freundlichste, das ich je geschrieben habe. Es gibt ja am Ende sogar Hoffnung. In keinem meiner anderen Bücher gibt es Hoffnung. Abgesehen von dem Bilderbuch, das ich zusammen mit meiner Oma geschrieben hab.
Warum sollte jemand die Erfahrungen, die du in „Flug der Pelikane“ beschreibst, lesen?
Lebert: Das ist eine gemeine Frage. Damit fühle ich mich in der Rolle, dem Leser meinen Text schmackhaft machen zu müssen und das möchte ich eigentlich nicht. Jeder muss sich selbst dafür interessieren oder nicht, mit auf die Reise gehen oder nicht. Ich sehe kein Muss. Der Leser soll selber unterwegs sein und bestenfalls gehe ich eine Wegstrecke mit ihm zusammen.
Die Flüchtlinge von Alcatraz sind für Antons Onkel Jimmy Helden. Wer sind deine Helden?
Lebert: Die Ausbrecher sind für Jimmy Lebenshelden, er profitiert vom Gedanken an sie im täglichen Leben. Solche Helden habe ich leider nicht. Ich habe künstlerische Vorbilder wie Hemingway, aber keine Lebenshelden.
Anton flüchtet aus seinem Leben in Hamburg. Möchtest manchmal auch aus deinem Leben flüchten?
Lebert: In meinem Leben bin ich auf der Flucht vor dem gegenwärtigen Moment. Die Momente, die sich in meinem Kopf abspielen, sind die viel realeren. Psychologen haben ja auch schon herausgefunden, dass diese Fluchtgedanken und Tagträume ungemein wichtig sind. Wenn der Gedanke an Flucht in einem Menschen erlischt, würde auch sein Lebenswille schwinden.
Ich bin auf der Flucht vor dem gegenwärtigen Moment.
Wie sähe denn dein alternatives Leben aus?
Lebert: Ich könnte mir vorstellen, dass ich etwas sehr Bodenständiges, Eingegrenztes machen würde und sehr zufrieden damit wäre. Wenn ich nicht mehr schreiben könnte, würde ich mich zum Gärtner ausbilden lassen. Das wäre mein Plan B.
Bist du Hobbygärtner?
Lebert: Ich habe viele Pflanzen und achte auch einigermaßen auf sie. Manchmal frage ich eine, ob ihr ein Satz einfällt. Meistens schaut sie mich dann vorwurfsvoll an und sagt: „Das ist Deine Aufgabe.“ Aber manchmal schmeißt sie mir auch ein Adjektiv hin.
Wie sieht das Leben eines Schriftstellers Ende Zwanzig aus?
Lebert: Ich sitze schon täglich am Schreibtisch, aber ich schreibe nicht jeden Tag. Immer wenn ich etwas Schönes höre, eine schöne Formulierung, dann schreibe ich sie auf und ordne sie ein. Damit kann man Jahre verbringen.
Und es sind immer auch Dinge zu erledigen wie Interviewtermine oder eine Lesereise. Oder ich nehme an Diskussionsrunden zu gesellschaftspolitische Themen teil, was sehr lustig ist.
Warum lustig?
Lebert: Ich beobachte mich dann und das hat etwas Merkwürdiges. Ich sehe mich nicht als intellektuelle Instanz. Außerdem hat ein Podium schon etwas unglaublich Lustiges, jeder versucht unheimlich klug zu sein und möglichst viele Dinge zu sagen.
Kannst du vom Schriftstellersein leben?
Lebert: Bisher kann ich davon leben und ich bin unglaublich froh darüber. Keith Richards von den Stones hat mal gesagt: „Erfolg ist die Möglichkeit, weiterzumachen.“ Weil ich so ein langsamer Arbeiter bin, ist das perfekt für mich. Ich muss zum Beispiel keine journalistische Arbeit machen.
Der Protagonist deines Romans hat eine psychische Krise hinter sich. Glaubst du, dass psychische Probleme in der Generation um die 20 zugenommen haben?
Lebert: Ja, mein Eindruck ist es schon, aber ich bin kein Statistiker. In meinem Freundeskreis hat es mehrere Fälle von Zusammenbrüchen gegeben. Burnout- und Borderline-Syndrom. Die menschliche Seele ist viel unergründlicher als wir denken und ich habe schon das Gefühl, dass psychische Krisen heute bei den 20- bis 30-Jährigen sehr präsent sind. Deswegen kommt man vielleicht auch gar nicht an dem Thema vorbei, wenn man über Menschen in diesem Alter schreibt.
Fühlst du dich exemplarisch für diese Generation?
Lebert: Exemplarisch bin ich für überhaupt gar nichts. Das ist ganz gut, schürt allerdings auch Einsamkeit. Daraus sollte man keine Geisteshaltung werden lassen, aber sie ist mit in das Geflecht verwoben, aus dem meine Seele besteht.
Ist der Generationenbegriff noch zeitgemäß?
Lebert: Ich glaube, der Wunsch nach einer Instanz, die alles zusammenhält, ist ein altmodischer. Die Wege sind mittlerweile zu verflochten. Leonard Cohen sagt in einem Song: „Things are gonna slide in all directions”. Ältere Menschen haben vielleicht noch die Sehnsucht nach dieser Verbundenheit, aber die jüngeren gar nicht mehr so. Jeder beleuchtet seinen kleinen Radius um sich herum und es gibt viele Mikrokosmen, die niemals in Einklang gebracht werden können.
Gibt es trotzdem etwas, womit du die Generation zwischen 20 und 30 beschreiben könntest? Generation Facebook vielleicht?
Lebert: Um Gottes Willen, ich würde keine Generation nach einer Firma benennen! Ich würde sagen, es ist eine Generation, die unter Transparenz leidet, die für alles offen sein muss. Jeder muss jederzeit flexibel sein, jede Gestalt und jede Farbe annehmen – aber selbst dann ist nicht gesichert, dass man einen Job hat. Es gibt Leute in meinem Alter, die sind für alles qualifiziert und finden keinen Job. Ich finde es erstaunlich, wie lange das schon so geht. Denn eigentlich überfordert es den Menschen und entspricht nicht seiner Natur.
Immer mehr Menschen erschaffen sich eine Identität im Internet, vernetzen sich in Webcommunities. Nutzt du Dienste wie Myspace, Facebook oder Twitter?
Lebert: Nein. Ich mache das auf meine Art, ich poste ein Manuskript in die Welt. Ich bin nicht so im Internet zu Hause. Aber ich betrachte das nicht als Zeitverschwendung. Nichts ist Zeitverschwendung, wenn es einen erfüllt.
Im vergangenen Jahr hat der Roman „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche für viel Aufsehen gesorgt, vor allem aufgrund der sehr expliziten Darstellungen darin. Könntest du dir vorstellen, so ein Buch aus männlicher Perspektive zu schreiben?
Lebert: Bislang hatte ich noch nicht das Bedürfnis. Ich bin ein Mensch, der Literatur in allen Formen sehr zugewandt ist, aber ich interessiere mich nicht für alle Aspekte des Lebens, mit denen sich Menschen schriftlich auseinandersetzen. Ich finde „Feuchtgebiete“ jetzt nicht verteufelnswert, wer das lesen möchte, kann es tun. Aber ich für mich muss sagen: Je mehr ein Skandal um ein Buch gemacht wird, desto weniger Lust habe ich, es zu lesen.