Frau Beglau, Sie erzählten mal in einem Interview, dass Sie in Ihrer Jugend gerne allein waren, Sie haben sich „hinter Büchern versteckt“, „andere Kinder waren mir sehr suspekt“ sagten Sie. Ist das Phänomen, um das es in „1000 Arten Regen zu beschreiben“ geht, ein wirklich Anderes?
Bibiana Beglau: Bei mir geschah das im Kindesalter, da war ich eher introvertiert und zurückgezogen, weil ich viele Sachen nicht verstanden habe oder weil es mir schlicht zu viel war. Im Film dagegen geht es um Jugendliche an der Schnittstelle zum Erwachsenwerden. Es ist ein neues Phänomen, das man erst in Japan beobachtet hat und das sich jetzt wohl auch hier wie ein Feuer ausbreitet. Diese jungen Erwachsenen – meistens Männer – schließen sich ein, entziehen sich einfach der Welt. Es ist keine Komplettverweigerung, denn es hat ja nichts Demonstratives, sondern es ist viel mehr ein Verschwinden, ein Nicht-mehr-vorkommen.
Und das obwohl sich Eltern – wie Sie und Bjarne Mädel im Film – intensiv um das eigene Kind bemühen.
Beglau: Ich verstehe das genauso wenig, wie die Mutter, die ich im Film spiele. Ich könnte mir noch vorstellen, dass jemand sagt: ‚Ich möchte ein anderes Leben leben, deswegen verschwinde ich und lebe eine andere Biografie.‘ Aber vor den Augen der Familie… Im Film ist es die Fürsorge der Mutter, die das Zurückziehen noch ermöglicht. Sie stellt dem Sohn jeden Tag das Essen vor die verschlossene Tür, während der Vater sagt: Nein, wir füttern den nicht, dafür muss er rauskommen, sich stellen, er kann sich nicht vor unseren Augen auflösen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie – auch nach der filmischen Auseinandersetzung – noch keine Erklärung für das Phänomen gefunden.
Beglau: Deshalb heißt es ja Phänomen: Es ist eine mit allen Sinnen wahrnehmbare Erscheinung. Die Japaner nennen es Hikikomori, aber man weiß nicht, warum diese jungen Menschen das machen. Da gibt es nur Vermutungen, das reicht von einem Zusammenhang mit Computersucht bis dahin, dass es Menschen sind, die gemobbt werden. Wenn ich eine Erklärung hätte, wäre ich reich, dann wäre es ein erster Ansatz für die Möglichkeit einer Heilung, ich hätte sozusagen das Mittel gegen Krebs. Ich sehe es aber als Schauspielerin gar nicht als meine Aufgabe, ein Phänomen zu erklären oder Lösungsvorschläge zu bringen. Das ist das Tolle an dem Beruf: Ich kann Fragen stellen, oder Menschen anregen, sich Fragen zu stellen. Ich bin nicht diejenige, die Antworten gibt.
Verniedlichung von Gewalt finde ich gefährlich.
Es gibt Vermutungen, dass Hikikomori mit dem Konkurrenzdruck in der heutigen Gesellschaft zu tun hat.
Beglau: Sicher ist das Leben heute anstrengend. Aber war es mal nicht anstrengend? Im industriellen Zeitalter hatten viele nichts zu essen, kein elektrisches Licht, lebten zu fünft auf 30qm. Ist das kein Druck? Was hat der Höhlenmensch gemacht: Der Winter war kalt, Nachkommenschaft zu zeugen schwierig, schon wieder ein totes Kind geboren, nichts zu Essen – war das kein Druck? Oder im Mittelalter oder auch später, da gab es Pest, Cholera und Inquisition. Das Leben ist natürlich nicht das schöne Leben. War es früher besser? – Kann ich nicht sagen. Ich glaube, der Druck unserer Zeit hat mit einer Zerfaserung, mit Ablenkungsstrategien zu tun, mit einem Nicht-bei-sich-selber-bleiben-können. Und wenn man doch bei sich selber bleibt, vereinsamt man schnell. Heutzutage muss man networken, rausgehen, sich der Umwelt permanent stellen.
Ist das der Grund, warum Sie hin und wieder über Rote Teppiche gehen? – Ich hätte eher vermutet, dass Sie mit dieser Glitzerwelt nicht viel anfangen können.
Beglau: Ich habe irgendwann gemerkt: Wenn ich keinen einlade, dann kommt auch keiner. Wenn ich zu meinem Geburtstag gerne Party hätte, dann muss ich Leute einladen. Und in meinem Beruf ist das genauso. Früher war ich relativ bescheiden und zurückgezogen, bin nicht über die Roten Teppiche gegangen. Was dazu führte, dass ich viel gearbeitet habe und ich glaube auch ganz gut, aber es wurde kaum wahrgenommen. Irgendwann habe ich mir dann angeguckt, wie es Schauspieler machen, die ich liebe, die Italiener und die Franzosen, die gesagt haben: Selbstverständlich präsentiere ich meine Arbeit, selbstverständlich stelle ich mich als Schauspielerin der Gesellschaft, für die ich das mache, zur Verfügung. Der schöne Schein, das Fest, das Interview – das gehört alles mit dazu. Als ich in dem Beruf anfing, habe ich mich nicht getraut, mich so öffentlich zur Disposition zu stellen.
Wie hoch ist denn der Konkurrenzdruck unter Schauspielern?
Beglau: Ich nehme den nicht so war. Vielleicht bin ich auf dem Auge ein bisschen blind – oder dumm. Ich habe allerdings oft Angst beim Arbeiten mit Kollegen, dass ich es nicht hinkriege, dass es nicht reicht, zu wenig ist, oder falsch, das ist eher das Problem. Wenn ich aber an der Arbeit Spaß habe, dann friemel ich mich so in das Zeug rein, dass ich um mich herum nicht so viel mitbekomme.
Sie sprachen in Interviews schon mal von der ‚Hungerangst‘.
Beglau: Das hat weniger mit Konkurrenz zu tun, als mit der Angst, dass mich irgendwann keiner mehr anruft, dass ich zu wenig arbeite, dass es hinten und vorne nicht reicht.
Dieses Gefühl hat sich nicht gelegt?
Beglau: Doch, ein bisschen hat es sich gebessert. Allerdings höre ich oft von Kollegen, dass sie die gleichen Sorgen haben. Überhaupt scheinen diesem Beruf zwei Dinge eigen zu sein: die Verhungerangst und der Gedanke „irgendwann fliegt es auf, dass ich nicht gereiche, dass ich es nicht kann“. Sogar Meryl Streep hat das neulich in einem Interview erzählt, dass sie sich am Set von Clint Eastwood Sorgen machte, dass sie schlecht spielt, weil er kein Wort sagte – bis Eastwood dann irgendwann meinte: „Wenn ich nichts sage, ist es schon OK“. Selbst Meryl Streep macht sich solche Gedanken, die berühmteste Frau in Hollywood. Ist doch irre!
Sie spielen größere Rollen oft in Filmen, deren Ende offen ist. „Was du nicht siehst“, „Unter dem Eis“, „Zappelphilipp“ – auch „1000 Arten Regen zu beschreiben“ lässt viele Fragen offen.
Beglau: Wolfgang Kohlhaase hat diesen schönen Satz geschrieben: „Alles ist so gewesen, nichts war genau so.“ Wo fange ich an, eine Geschichte zu erzählen, wo endet sie? – Geschichten gehen ja immer weiter. Daher kommt dieses nicht-unbedingt-antworten. Anstatt dass man sagt, ich kann dir die Geschichte mit schönem oder mit tragischem Ende liefern. Mir erscheint es als eine moderne Form, wenn Fragen gestellt werden und wenn der Zuschauer dann auch stark genug ist, diese Fragen auszuhalten. Das empfinde ich als eine moderne Haltung – wenn sie denn echt und nicht aufgesetzt ist. Das ist ein Angebot zum Drüber-Nachdenken, so etwas habe ich schon gerne.
Und Unterhaltung, die keine Frage offen lässt, können Sie der etwas abgewinnen?
Beglau: Ich liebe genauso große Hollywood-Filme, wo es am Ende die schöne Lösung gibt. Wie in „Shape of Water“, großartig!
Sehr reizend fand ich übrigens das offene Ende von „Three Billboards“. Da denken wir über die beiden Hauptfiguren „das sind die Amerikaner mit dem Herz am rechten Fleck“ – dabei sind sie gerade auf dem Weg, Lynchjustiz zu üben. Wir sind alle gegen Trump und co, aber bei diesen beiden Figuren ist es dann für uns ZuschauerInnen egal, dass sie Lynchjustiz ausüben wollen – weil sie uns über den Film so ans Herz gewachsen sind. Und das offene Ende ist, ob sie nicht doch vielleicht einfach nur einen Kaffee trinken wollen.
Ihre TV-Filme zeigen meist sehr intensive, dramatische Geschichten. Darf das Fernsehen aber auch Beruhigungspille sein?
Beglau: Wir haben uns ja eine Kultur erkämpft als Gesellschaft, wir haben uns gewünscht, frei zu sein, dass wir das eine wie das andere haben dürfen, in all seinen Facetten. Rosamunde Pilcher – ja, das darf und muss es geben. Damit wir aussuchen können, damit wir vielseitig bleiben. Nur wenn das eine das andere überwiegt, wenn das Fernsehen nur noch so eine (spricht langsam) futuristische Berieselung der Beruhigung ist – dann finde ich es nicht mehr witzig.
Und wie finden Sie es, wenn eine Geschichte a la Pilcher einen Film von Ihnen ins Spätprogramm verdrängt…
Beglau: …wie zum Beispiel „Über Barbarossaplatz“? – Ja, da habe ich mir tatsächlich viele Fragen gestellt. Jeder weiß, wie Jan Bonny seine Filme dreht, keiner hat die Katze im Sacke gekauft. Das Feuilleton hat gejubelt, viele Zuschauer fanden den Film sehr gut, er wurde unglaublich kontrovers diskutiert. Wenn diese Sachen im normalen Programm nicht möglich sind, dann frage ich mich tatsächlich, ob ein Auftrag nicht erfüllt ist, in einem Land, das einen Jörg Fauser, einen Rolf Dieter Dieter Brinkmann, einen Georg Büchner oder einen Heinrich von Kleist hervorgebracht hat. Wollen wir dann nur das Geschönte? – Nein, damit bin ich nicht einverstanden.
Es hieß, „Über Barbarossaplatz“ sei ein Pilotfilm. Wird es eine Fortsetzung geben?
Beglau: Wir schauen gerade wie es sich entwickelt.
Generell bekommt man im Fernsehen radikale Herangehensweisen sehr selten zu sehen, eine Inszenierung a la Frank Castorf, mit dem Sie mehrfach gearbeitet haben, scheint im TV unmöglich zu sein. Ist man bei den Sendern zu sehr auf Quoten und die breite Masse fixiert?
Beglau: Ich kann das so nicht miteinander vergleichen, das eine ist TV und das andere ist Theater. Aber grundsätzlich wäre mehr Mut und mehr Wagnis, was die Programme betrifft, sicher wünschenswert. Das subventionierte Fernsehen muss eine große Bandbreite anbieten, doch es wäre toll, wenn dazu auch mehr mutige Filme gehören, bei denen dem Zuschauer mehr zugetraut wird. Denn der kann viel mehr verarbeiten. Es hebt das Niveau des Publikums, wenn wir als Kulturschaffende die Gesellschaft fordern. Ich bin mir sicher, wenn wir als Gesellschaft nichts von uns fordern, dass wir im Mittelmaß verharren. Ängstliche Aussagen von Sendern, wie „Das können wir nicht zeigen, das macht die Zuschauer ganz fertig“…. – als würden dann plötzlich alle Zuschauer zuhause verstört anfangen zu weinen. Nein, die Menschen denken doch nach, die sind doch nicht blöd. Außerdem finde ich es unhöflich, dem Zuschauer oder dem eigenen Gegenüber Intelligenz abzusprechen.
Sie haben sich einmal im „Spiegel“ als „Intensitätssau“ bezeichnet – ist das nicht auf Dauer sehr anstrengend?
Beglau: Klar ist das anstrengend. Aber für mich impliziert der Begriff Kunst auch, dass ich mich immer neu und wieder mit dem eigenen Versagen, den Zweifeln, dem Scheitern, der Überanstrengung, der Langeweile, mit all diesen Negativbegriffen auseinandersetzen muss.
Sie werden 2018 auch in „Sieben Stunden“ zu sehen sein, ein Film, der auf der tragischen Geschichte der Gefängnis-Psychologin Susanne Preusker basiert, die von einem Häftling gekidnappt und mehrfach vergewaltigt wurde. Haben Sie angesichts der Thematik gezögert, die Rolle anzunehmen?
Beglau: Die Härte des Stoffs hat mich nicht abgeschreckt. Ich hatte nur beim Drehbuch anfangs Bedenken, dass es etwas zu kurz greift. Doch als ich mich mit dem Regisseur besprochen habe, wurde mir mehr und mehr klar, was er vorhat und dass ich diesen Weg mitgehen will.
Gab es die Überlegung, dass Sie Susanne Preusker zur Vorbereitung der Rolle persönlich treffen?
Beglau: Wir haben das kurzzeitig in Erwägung gezogen, sind davon aber schnell wieder abgerückt. Der Film basiert auf einem Vorfall, den diese Frau erlebt hat, aber es ist kein biografisches Nacherzählen, ich stelle nicht ihren Charakter dar.
Beim Thema Vergewaltigung stellt sich die Frage: Was kann und muss man dem Zuschauer zumuten?
Beglau: Ich finde es wichtig, Gewalt auch als Gewalt zu zeigen, als etwas Übergriffiges, Ver- und Zerstörendes. Die Verniedlichung von Gewalt, wie sie oft im Krimi als fernsehhäusliches Mittel gebraucht wird, dieses „Peng, du bist tot – und weiter geht’s“, damit die Geschichte einen Sinn, und die Zuschauer einen Mörder haben – das finde ich viel perfider und auch gefährlich.
In „Sieben Stunden“ gibt es einen massiven körperlichen Übergriff, den sieht man auch, aber der ist nicht maßgeblich. Sondern maßgeblich ist die Geschichte einer Frau, die versucht, wieder Mensch sein zu können, wir sehen die tiefe Verstörung einer Seele und wie diese versucht, mit dieser Zerstörung klarzukommen.
Zum Schluss: Gab es einen Film, bei dem Sie besonders viel über sich selbst gelernt haben?
Beglau: Bei Aelrun Goettes „Unter dem Eis“. Es ging um eine Mutter, die versucht, ihr eigenes Kind zu schützen. Da habe ich über mich gelernt, in welchen Momenten ich Angst bekomme, dass einem anderen Schauspieler etwas passieren könnte, dass ich zu weit gehe. Was darf ich als Schauspielerin und was nicht, wo fängt meine Verantwortung an und wo hört sie auf? Es gibt ja Situationen, wo sich ein Regisseur auf einen Darsteller einschießt, oder wo Schauspieler ein bisschen durchdrehen – in so einem Moment ist es wichtig, das eigene Unbehagen ernst zu nehmen und ab einem gewissen Punkt zu sagen: Schluss jetzt!
Sehr viel gelernt habe ich auch bei meinem allerersten Film, bei Matti Geschonnek, „Der Mörder und sein Kind“. Er hat mir viel Praktisches beigebracht und vieles davon ist bis heute tief in meinem Herzen eingeschlossen.