Chilly Gonzales, bevor wir mit dem eigentlichen Interview anfangen: In der Dokumentation „Shut up and Play the Piano“ zeigen Sie sich von Journalisten ziemlich genervt…
Chilly Gonzales: Ja, ich habe manchmal wenig Freude an Interviews, weil ich immer und immer wieder das Gleiche gefragt werde. Da fällt es mir schwer, geistig präsent zu sein, weil ich im Grunde ja schon weiß, was ich antworten werde.
Allerdings, seitdem viele Journalisten diesen Film gesehen haben, bemerke ich, dass die Interviews besser geworden sind. Meine Kritik im Film ist natürlich ein bisschen übertrieben, sie hat aber jetzt den Effekt, dass die Journalisten sich nochmal damit befassen, was es eigentlich heißt, eine Frage zu stellen. Ich sehe darin die Chance, dass mir Promotion in Zukunft wieder mehr Spaß macht. Weil sich jetzt jeder Journalist ein bisschen mehr Gedanken macht und aufmerksamer ist.
Journalisten sind Ihnen also nicht generell suspekt.
Gonzales: Journalismus ist eine wunderbare Kunstform. Ich lese hauptsächlich Non-Fiction, also im Prinzip Journalismus in seiner extremsten Form: Memoiren, Geschichtsbücher, ich höre auch viele Podcasts von Journalisten. Ich liebe Journalismus. Deswegen bin ich hart zu denen, die für den Job nicht geboren sind, die aufhören sollten. Es frustriert mich, wenn ich über die Jahre sehe, dass es weniger und weniger wahre Profis gibt. Besonders in der Musikwelt hat man es mehr und mehr mit Leuten zu tun, für die Journalismus eher eine Art Lifestyle ist.
So grundlegende Dinge wie Pünktlichkeit, Recherche, ein Minimum an Berührung mit der Materie um die es geht – diese Grundsätze von Professionalität gelten immer noch. Du solltest höflich sein und die Zeit der anderen nicht verschwenden. Was das betrifft bin ich selbst sehr professionell und das Gleiche erwarte ich von Journalisten.
Brauchen Sie ‚die Medien‘ überhaupt noch, um ins Rampenlicht zu kommen?
Gonzales: Gute Frage. Vielleicht weniger als früher, aber so genau weiß das niemand. Nur wenige Künstler haben wirklich den Mut, das auszuprobieren. Der französische Sänger Philippe Katerine meinte einmal zu mir: ‚Ich mache das jetzt einfach, keine Presse-Arbeit für mein Album.‘ Er hat es wirklich bereut. Ein Jahr lang hat er verschiedene Leute, auch seine Freunde, gefragt, wie sie sein Album finden – die wussten zum Teil gar nicht, dass er eines veröffentlicht hat. Da hat er Lehrgeld gezahlt.
Und das Rampenlicht an sich, brauchen Sie das?
Gonzales: Nein, ich nicht, aber meine Musik braucht das Rampenlicht. Ich will, dass meine Musik bekannt wird, dass mehr Leute mein Album haben und mögen, als mein Gesicht kennen.
Ein Teil von mir wünscht sich tatsächlich auch, nur Musik zu machen, also ohne das Extra drumherum. Aber mir wurde irgendwann klar, dass dieser Job mehr erfordert. Also habe ich versucht, das Drumherum so zu gestalten, dass es mir Spaß macht. Ich will Bühne und Promotion nicht als das notwendige Übel oder als Kompromiss betrachten, sondern als Teil des Artwork. Ich habe einen Weg gefunden, wie mir Aufritte und Interviews Spaß machen können. Diese Teile der Arbeit geben mir letztlich auch eine größere Plattform als wenn ich nur ein gesichtsloser Klavierspieler wäre.
Und wenn ich es mit Kollegen vergleiche: Ich kenne viele Musiker, die im Grunde die gleichen Möglichkeiten haben, die talentiert sind, hart arbeiten, ein gutes Team haben. Aber anders als ich legen die dann nicht noch eine Schippe drauf, um jene Leute anzuziehen, die ansonsten nichts anzufangen wissen mit instrumentaler Musik, weil Musik ohne Worte für sie ungewohnt ist. Ich nehme solche Leute ganz bewusst war und überlege mir: Wie kann ich die für meine Musik interessieren, ohne dass ich an mir oder meiner Musik etwas verändere? – Es gibt natürlich viele Leute, bei denen mir das nicht gelingt, in den USA zum Beispiel konnte ich den Code bislang nicht knacken, da habe ich kein Publikum, dort kennen mich nur Insider und Musiker.
Ich veröffentliche den Quelltext, ich bin ständig Open Source. Ich liebe Open Source!
Wie ist es in Kanada, Ihrem Geburtsland? Im Film heißt es, Sie würden dort als der „komische Typ“ wahrgenommen…
Gonzales: Kanada funktioniert sehr gut, aber es gibt immer noch Momente, wo ich dort nach einem wirklich guten Konzert im Bett liege und denke: Haben die mich wirklich verstanden?
In Deutschland, Frankreich oder England tun sie das eher, vielleicht weil es bei mir viel um europäische Musik geht, auch um die Frage: Was ist anspruchsvolle Kultur? Die kommt ja vor allem aus Europa, während die USA vor allem anspruchsvolle Unterhaltung produzieren.
Gibt es Klischees über Sie, die absolut nicht stimmen?
Gonzales: Also, eine Menge Leute denken ja – weil ich auf der Bühne so eine Energie habe, sehr produktiv und beschäftigt bin – ich würde Kokain nehmen. Aber ich habe noch nie in meinem Leben Kokain genommen, eher im Gegenteil, wenn dann bin ich ein Gras-Raucher, kein Kokser.
Trotzdem gibt es manchmal Youtube-Kommentare wie „dieser Typ zieht bestimmt eine Line, bevor er auf die Bühne geht“. Ab er es gibt ja auch Leute, die denken, dass Peaches nach jedem Konzert Orgien feiert. Weil sie nicht genau zugehört haben, denn darum geht es ja in ihrer Musik nicht, die ist viel tiefgründiger, emotional und politisch.
Stimmt denn das Klischee, dass Sie eine Rampensau sind?
Gonzales: Absolut, zu 100 Prozent. Wenn ich ein Album aufnehme, kann ich in dem Moment über mein Publikum ja nur mutmaßen. Auf der Bühne dagegen, da spiele ich mit den Leuten, kreiere mit ihnen einen Moment, da weiß ich direkt, woran ich bin.
Im Englischen sagt man zu „Rampensau“ übrigens „ham“ (dt.: Schinken), also auch ein Wort, das vom Schwein herkommt. Und im Französischen heißt es „bête de scène“, ein „Bühnentier“. Es geht also darum loszulassen, zum Tier zu werden. Das sage ich auch meinen Schülern, den ‚Gonzervatorians‘: Du bereitest dein Programm mit Respekt und Disziplin vor, aber in dem Moment, wo du die Bühne betrittst, lässt du los und wirst zum Tier.
Das heißt, in Ihren ‚Gonzervatory‘-Workshops kann man lernen, wie man zur Rampensau wird?
Gonzales: Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, wie man loslassen kann, das geht auch ohne Rumstampfen, Schreien und Provokation. Nicht jeder macht das so wie ich, meine Dämonen sind andere als die meiner Schüler. Aber loslassen musst du in jedem Fall, um mit den Leuten diesen Moment zu kreieren.
Musik bestand ja für Tausende von Jahren einzig aus der Aufführung, Menschen haben für andere Menschen gespielt, eine Möglichkeit, das aufzunehmen, gab es nicht. Irgendwann kam die Notation dazu, was aber auch nur eine unzureichende Methode ist, um Musik festzuhalten. Chopin zum Beispiel hat die Idee gehasst, Noten aufzuschreiben, sich eine finale Urtextversion auszudenken. Das hat ihn gehemmt. Auch mich schüchtert dieser Gedanke eher ein: Wenn ich ein Stück heute aufnehme, wird später alles, was ich live spiele, an dieser einen Version gemessen.
Aber auch Sie veröffentlichen Noten von Ihrer Musik.
Gonzales: Richtig. Trotzdem denke ich, dass sowohl die Aufnahme als auch die Notation unvollendete Wiedergabetechniken sind. Das einzig wahre Ding ist der Live-Moment. Deswegen sage ich meinen Schülern, dass es wichtig ist, sich mit der Darbietung von Musik zu beschäftigen. Die Aufnahme-Technik existiert ja erst seit relativ kurzer Zeit. Zuerst fanden die Leute das großartig, dann wurde es aber enorm kapitalistisch und das Musikgeschäft ist schließlich implodiert. Inzwischen ist das alte Platten-Business wie weggeblasen. Und raten Sie mal, was heute für Musiker die sichere Bank ist, um davon zu leben: Die Aufführung. In 100 Jahren wird es lächerlich wirken, dass es mal eine Industrie für aufgenommene Musik gab, denn es geht nur um die Aufführung. Ich will meinen Schülern Werkzeuge geben um von der Musik leben zu können. Die sind alle in ihren 20ern, sie bauen sich jetzt ihr Publikum auf, mit jedem Gig, sie bekommen ihre lebenslangen Fans, weil sie sich auf der Bühne wirklich öffnen, es geschehen lassen.
Im Dokumentarfilm erzählen Sie, dass in Ihrer Familie Erfolg eine große Rolle spielte. Was sagten Ihre Eltern zum Verlauf Ihrer Karriere?
Gonzales: Sie haben einige Konzerte von mir gesehen. Aber für sie war das anfangs eher ungewohnt. Ich denke, das ist auch typisch für ihre Generation: Wenn da was ist, was sie in der Form nicht schon kennen, empfinden sie das als komisch. Ich verbinde meine Musik zum Beispiel mit Rap, meine Eltern würden es aber wahrscheinlich besser verstehen, wenn ich nur Klavier spielen würde oder nur Comedy machen würde.
Was allerdings hilfreich war, wenn eine Rezension in der richtigen Zeitung auftauchte. Ab da waren meine Eltern auf einmal entspannt und dachten: OK, das ist was Richtiges, was unser Sohn macht. Es brauchte immer erst so eine Art Prüfsiegel, damit sie es gutheißen. Ansonsten war ihnen meine Arbeit wahrscheinlich zu fremd. Eine Karriere als Musiker erschien ihnen auch riskant.
Haben Ihre Eltern Sie denn unterstützt?
Gonzales: Nicht bevor es dieses externe Siegel gab. Ich habe mitten im Studium das Fach gewechselt, von Geisteswissenschaften zum Musik-Studium, zu klassischer Komposition. Ich würde ja sagen, dass man am Ende mit Geisteswissenschaften weniger anfangen kann, Musik ist schon mal ein Handwerk, damit kann ich zum Beispiel als Arrangeur arbeiten. Doch meine Eltern waren anderer Meinung, sie hätten es lieber gesehen wenn ich Anwalt oder Arzt geworden wäre. Musiker war für sie kein respektabler Beruf. Deshalb hörten sie auf, mich zu unterstützen, als ich das Studium wechselte. Und im Nachhinein bin ich froh darüber, weil es bedeutete, dass ich kämpfen muss. Ich musste mir zum ersten Mal überlegen: Wie stark ist mein Wille, das auch durchzuziehen?
Womit haben Sie Ihr Geld verdient?
Gonzales: Ich habe in Hotels und Bars Klavier gespielt, in Berlin zum Beispiel im Hotel Adlon oder auch in einem Auflauf-Restaurant in der Kollwitzstraße. Ich hatte einige solcher Klavier-Jobs und ich habe auch heute Respekt vor guter Hintergrundmusik.
Ein Grund warum meine Klavier-Alben funktionieren, ist vermutlich, dass man sie einerseits im Hintergrund laufen lassen kann, andererseits bewusst und intensiv hören kann.
Apropos Hörbarkeit: Die Musik auf Ihren drei Solo-Klavier-Alben ist tonal, es gibt kaum Dissonanzen. Was ist der Grund dafür?
Gonzales: Nun, ich interessiere mich immer noch sehr für die Frage, was mit tonaler Harmonie geschehen wäre, wenn der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre. Wenn sich nicht plötzlich die Musik der akademischen Welt in eine Richtung bewegt hätte, weg vom musikalischen Vergnügen. Musik wurde damals sehr intellektuell, sie reflektierte auch die Hässlichkeit der Zeit.
Wie hätte es sich ohne die Weltkriege entwickelt?
Gonzales: Was passiert wäre, kann man ein Stückweit in der Filmmusik beobachten. Denn viele Komponisten, die sich nicht der Avantgarde und ‚Musique concrète‘ anschließen wollten, sind zum Film gegangen, Erich Wolfgang Korngold, Maurice Jarre oder Bernard Hermann zum Beispiel. Auch Ennio Morricone hat am Anfang versucht, Avantgarde-Musik zu schreiben, kam dann aber zu dem Schluss, dass er Musik machen will, die die Leute mögen – und nicht Musik, die nur analysiert wird. Er wollte, dass normale Leute seine Musik hören.
All die großen Soundtrack-Komponisten stammen aus diesem unvollendeten Kapitel des Romantizismus. Ich bewege mich auch in diesem Feld. Ich denke, dass die Ära der Romantik der heutigen Zeit am nächsten kommt. Zum Beispiel entstand der Musiker-Starkult in dieser Epoche. Franz Liszt war der erste Musiker, der es verstand, mit Geschichten ein Image aufzubauen, sich überlebensgroß zu machen. Und er hatte viele Fans, weshalb man ja auch von „Lisztomania“ spricht.
Was spricht denn Ihrer Meinung dafür, harmonisch an das Ende der Romantik anzuknüpfen?
Gonzales: Ich bin einfach nicht interessiert an Kompositionen, die das Konzept von Musik an sich infragestellen. Ich experimentiere viel, jedoch weniger auf harmonischer Ebene. Auf dem dritten Klavier-Abum gibt es hier und da Dissonanzen, aber das ist nichts im Vergleich zu wirklich dissonanter klassischer Musik.
Wenn es allerdings um Aufführung geht, da versuche ich tatsächlich modern zu sein und mit der Zeit zu gehen. Da lasse ich mich auch von Comedians abseits des Mainstreams inspirieren: Andy Kaufman, Eric Andre oder Anthony Jeselnik. Ich suche nach einer Kombination von Subversion und Satisfaktion, wie man sie in Kunstwerken wie „South Park“ oder den Filmen von Sacha Baron Cohen finden kann. Auch Rap-Musik kann subversiv und befriedigend zugleich sein.
Auf Ihren ersten Pop-Alben meine ich aber auch Dissonanzen gehört zu haben.
Gonzales: Harmonisch gesehen waren die tonal, vom Klang her aber sehr experimentell. Ich war beeinflusst von Rap und elektronischer Musik, die wiederum von Industrial, Ambient und Avantgarde beeinflusst sind.
In meiner harmonischen Sprache war ich immer konservativ. Ich habe versucht, nachzuvollziehen, was aus der romantischen Musik wurde. Mich fasziniert auch diese Verschränkung von Klassik und Jazz am Ende des Romantizismus. Jazz-Musiker in den USA wurden auf die Impressionisten aus Europa aufmerksam, die wiederum vom Jazz beeinflusst waren. Manchmal hört man ein Stück von Ravel und denkt, es sei von Art Tatum. Oder man meint gerade einen Jazz-Pianisten zu hören, doch in Wahrheit ist es César Franck. Ich liebe diesen Moment, wo Europa und Amerika, Kunst und Unterhaltung, gegenseitig an ihren Hinterteilen schnüffeln, wie zwei Hunde. Die Leute fragen sich, was auf der anderen Seite des Ozeans los ist. Auf einmal kann man den Atlantik überqueren, Strawinsky kann Charlie Parker spielen hören – was für ein toller Moment, der die Grenzen zwischen U-Musik und E-Musik zerstört!
Vor einigen Jahren führte ich ein Interview mit Philip Glass, der auch Ihre Musik hörbar beeinflusst hat, wie ich finde. Glass teilte damals Komponisten in zwei Kategorien ein: die einen Komponisten würden erfinden, die anderen nur neu-verpacken, sagte er.
Gonzales: Da würde ich Glass zustimmen. Ich bin auch fasziniert von den Erfindern, von den Leuten, die wirklich etwas erschaffen. Hier und da hatte ich die Möglichkeit, mit welchen zusammenzuarbeiten – und du merkst wirklich den Unterschied.
Wo sehen Sie sich selbst?
Gonzales: Ich verpacke neu. Ich gehöre zu den Neu-Verpackern und trage das mit Stolz. Mein Lieblingskomponist, Gabriel Fauré, fällt allerdings genau dazwischen. Er hat nichts neu erfunden, aber er hat eine Brücke aufgebaut zwischen der Johannes Brahms-Ära und den Impressionisten. Außerdem war er Lehrer von Ravel und Debussy, also eine durchaus wichtige Figur. Musikalisch hat er nichts erfunden, er war auch faul wenn es um Orchestrierung ging, er hat keine großen monumentalen Werke geschrieben, keine Symphonien, keine Opern. Deswegen wird er auch immer ein bisschen stiefmütterlich behandelt. Aber Fauré ist zu 100 Prozent mein Typ, Note für Note.
Und es gibt kein Stück von Ihnen, dass Sie als ‚Erfindung‘ bezeichnen würden?
Gonzales: Wenn es bei mir so etwas wie Innovation gibt, dann eher im Bereich des Aufführens. Bei meinem Gonzervatory könnte sich etwas entwickeln. Vielleicht finde ich einen Weg, etwas zu unterrichten, wovon die Leute eigentlich glauben, dass man es nicht unterrichten kann.
Da ist übrigens Joseph Pilates eine große Inspiration für mich, der Begründer der Pilates-Methode. Er hat sich eines Tages gesagt: Es muss doch einen besseren Weg geben, den Körper zu trainieren, ohne diesen ganzen Yoga-Kram! Er hat ein Buch über seine Methode geschrieben, er hat Lehrer ausgebildet – und heute gibt es in jeder größeren Stadt Dutzende von Pilates-Trainern. Ich mache das drei Mal die Woche.
Inwiefern würden Sie Pilates nacheifern?
Gonzales: In dem ich vielleicht eine Methode finde, mit der man Bühnen-Performance unterrichtet. Dafür ein System zu erfinden, das wäre meine Ambition.
Neben Joseph Pilates scheinen Sie auch Steve Jobs bzw. Apple zu bewundern…
Gonzales: Apple?
Ja, Sie haben Steve Jobs eine Etüde gewidmet. Und Ihr Musikstück „Never Stop“ haben Sie für eine Apple-Werbung lizenziert.
Gonzales: Apple ist keine große Inspiration für mich. Aber einer der größten Zahltage in meinem Leben war, als mein Musikstück für die Ipad-Werbung verwendet wurde. Insofern nimmt das einen besonderen Platz in meiner Biografie ein. Da war auf einmal ein riesiger Batzen Geld, so groß wie ich ihn noch nie zuvor hatte. Ich dachte mir: Jetzt werde ich unabhängig, ich investiere dieses Geld in mich selbst. Ich habe mein Label gestartet, hatte zwei Angestellte, ich brauchte keine Plattenfirma mehr, keine Booking-Agenten. Es war für mich die Möglichkeit zu 100 Prozent unabhängig sein, das war der einzige Punkt in meinem Leben, wo Steve Jobs eine Rolle für mich spielte. Er gehört nicht zu meinen Obsessionen, wie zum Beispiel John McEnroe oder viele andere Menschen, mit denen ich mich jahrelang beschäftige. Ich habe auch nie die Steve Jobs Biographie gelesen.
Ich stelle diese Frage, weil Ihre Karriere in mehrerer Hinsicht für offene System steht: Sie immigrierten nach Europa – sozusagen ein offenes System – sie interagieren mit diversen Genres, Künstlern und Spielformen…
Gonzales: Ja, ich präsentiere auch meine Arbeit und lege offen, wie ich so weit gekommen bin. Ich veröffentliche den Quelltext, ich bin ständig Open Source. Ich liebe Open Source!
Viele Musiker sind ja eher geschlossene Systeme, sie sprechen nicht gerne über das, was sie machen und beschweren sich, wenn mal jemand eine Melodie von ihnen benutzt – wo ich dagegen sagen würde: Komm schon, wir alle klauen doch ständig, wir sind im freundlichen Wettbewerb miteinander.
Doch Apple ist das Gegenteil von Open Source, ein geschlossenes System, was Programmierer auch immer wieder kritisieren. Hinzu kommen Anschuldigungen wegen schlechter Arbeitsbedingungen.
Gonzales: Ach, kommen Sie, ich habe fünf Rudolf Steiner-Biographien gelesen – und keine einzige von Steve Jobs.
Haben Sie sich denn für Apples Geschäftspraktiken interessiert, als Sie das Geld von Apple angenommen haben?
Gonzales: Nein, das ist mir egal. Ich hätte wahrscheinlich auch Geld von Leuten genommen, die noch schlimmer sind. Ich wurde von Martini eingeladen zu ihrem 50. Firmenjubiläum zu spielen. Von denen weiß ich jetzt gar nicht, ob sie besonders gut oder böse sind. Mein Gedanke war: Toll, ich mache eine Menge Geld und davon kann ich mir ein Streichquartett leisten. Damit habe ich kein Problem. Weil ich positive Energie kreiere. Und wenn ich Martini absage, dann engagieren sie jemand anderen und der ist vielleicht noch zynischer als ich. Ich mache zumindest etwas Positives mit diesem Geld.
Zum Schluss: Sie leben in Köln. Mögen Sie die typische Kölner Karnevalsmusik?
Gonzales: Als jemand, der keinen Alkohol trinkt, der auch nicht besonders gesellig ist, respektiere und bewundere ich, was beim Karneval passiert – aber das ist wirklich nichts für mich. In der Karneval-Zeit verreise ich immer, ich fahre dann nach Berlin, London oder Paris.
CD: Gonzales – Solo Piano III, erschienen auf Gentle Threat
Dokumentarfilm: „Shut Up and Play the Piano“ (Regie: Philipp Jedicke), Kinostart: 20.09.2018