Chris, bist du ein Allroundtalent?
Chris Kraus: Vielleicht wäre Megadilettant die bessere Bezeichnung. Bei Filmregisseuren ist es oft so, dass sie nichts richtig können, aber von vielem ein bisschen verstehen. Zu diesen Leuten gehöre ich sicher, weil ich ganz viele unterschiedliche Sachen in meinem Leben ausprobiert habe.
Du hast eine Ausbildung zum Grafiker gemacht und warst anschließend zunächst als Journalist tätig.
Kraus: Ja. Als Kind war ich zudem auf dem Weg zum Musiker, später habe ich mich auch als Schauspieler versucht. Allerdings war ich in keinem dieser Dinge jemals wirklich gut. Doch sie helfen mir heute in meinem Beruf als Regisseur, wo man ganz viele verschiedene künstlerische Erfahrungen zusammenfassen muss.
Diese verschiedenen Erfahrungen waren demnach wesentlich für dich, um dort anzukommen, wo du dich heute befindest?
Kraus: Absolut. Das ist wie bei einer Rockband, wo meistens derjenige ganz vorne als Frontmann steht, der nicht nur miserabel Gitarre spielt, sondern auch beim Pianounterricht immer gefehlt hat. Trotzdem hält er die Truppe beisammen – weil er nichts gut kann, wird er Sänger. Und wenn er richtig schlecht singt, wird er auch noch berühmt. Und so ist es halt auch bei mir.
Aber du warst dir offensichtlich über deine Profession nie wirklich im Klaren.
Kraus: Das Leben ist schließlich wie ein Fluss: der gräbt sich immer wieder in eine andere Richtung, um an den blöden Bergen vorbeizukommen. Man selber hat dabei das Gefühl, die eigene Biografie sei wahnsinnig geradlinig. Nur von außen wird es anders gesehen. Das einzige, was ich schon immer machen wollte: Ich wollte Geschichten erzählen.
Also hattest du durchaus ein Ziel vor Augen?
Kraus: Ich hatte lange Zeit keine Vorstellung davon, was aus mir werden würde, es gab keinen vorgezeichneten Lebensweg. Geschichtenerzählen ist ja wie Mülleimer-Ausleeren. Das ist kein Beruf. Das kann im Grunde jeder. Nach einem zweijährigen Ausflug in die Germanistik wollte ich zum Schreiben. Bevor das losging, ist schließlich mein Privatleben explodiert. Scheidung. Studienabbruch. So was eben. Ich war einige Jahre lang im Ausland und habe gearbeitet, bei Burger King und als Lagerarbeiter, Möbelpacker. Ich habe eine Ewigkeit einfach nur geloost. Heute sind die Biografien angehender Regisseure anders.
Inwiefern?
Kraus: Als ich mich 1991 für die dffb bewarb, hat man überhaupt erst mit 26 Jahren an der Filmhochschule als Regiestudent anfangen können. Es war wichtig, Lebenserfahrungen mit zu bringen. Heute kann man direkt nach der Schule loslegen. Man wechselt einfach nur die Schulbank. Aber nicht die Perspektive aufs Leben. Ich bin der Meinung, dass das Verlieren an sich eine Qualität für den Job ist. Aus dem, was man verliert, zieht man eine viel größere Lebenserfahrung, als aus dem, was man gewinnt. Das darf man in einem Beruf, in dem es angeblich so sehr ums Gewinnen geht, niemals vergessen.
Woraus hast du am meisten gelernt?
Kraus: Natürlich aus den privaten Niederlagen. Das bringt einem am meisten. Und das werden super Geschichten, wenn man sie überlebt.
Du sagst, du wolltest zum Schreiben. Du hast dann ja auch erst als Drehbuchautor und als dramaturgischer Berater für Regisseure wie Volker Schlöndorff, Rosa von Praunheim und Detlev Buck gearbeitet.
Kraus: Ja, aber ich war damit im Endeffekt nicht glücklich.
Hatte dein Wunsch, als Regisseur tätig zu werden, auch etwas damit zu tun, dass du mit der Umsetzung deiner Drehbücher nicht zufrieden warst?
Kraus: Natürlich. Aus den Erfahrungen heraus, die ich als Autor gesammelt hatte, war mit der Zeit eine Art Frustrationsfantasie entstanden. Ich wollte unbedingt in die Regie, um die Geschichten erzählen zu können, die ich erzählen wollte. Als Autor konnte ich das nicht. Nicht beim Film. Denn in diesem Bereich ist die Abhängigkeit als Schreiber extrem groß. Deshalb habe ich letztlich gesagt: Selber versemmeln kann ich meine Geschichten auch, dazu brauche ich keine anderen, also wage ich einfach mal diesen Schritt.
Nun inszenierst du in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit dem italienischen Dirigenten Claudio Abbado im Festspielhaus Baden-Baden mit Beethovens „Fidelio“ erstmals eine Oper. Inwiefern ist Opernregie vergleichbar mit Filmregie?
Kraus: Der Chef ist nicht der Regisseur, sondern der Dirigent. Es ist eine vollkommen andere, sehr barocke Welt. Man wird immer nur „Maestro“ genannt und wenn der Maestro in einer Besprechung sitzt und sagt: „Ich weiß noch nicht, wie es geht“, sind alle entsetzt und lassen die Löffel fallen. Das gibt’s da nicht, dass der Maestro zweifelt, nachdenkt und persönlich schwitzt. Er lässt schwitzen.
Worin ist der Wechsel in dieses andere Genre begründet?
Kraus: Man kann einfach so großartig scheitern, wenn man etwas Neues macht. Das ist sehr verlockend. Da gibt es keine Routine, die einem im Weg stehen kann. Beim Fernsehen ist ja Routine noch viel gefährlicher als beim Film. Das ist die tödliche Krankheit. Ihr habt das große Glück, dass Ihr jetzt Anfang 20 und total neugierig seid. Ihr sucht. Suchen ist wichtig. Viele Leute in meinem Alter hingegen sind schon fertig. Die haben einen gewissen Erfolg, einen gewissen Status, eine gewisse Anzahl an Kindern und Autos, und das alles wird geschützt.
Die Opern-Inszenierung ist so betrachtet also auch eine Suche? Eine Suche nach neuen Erkenntnissen, die dann auch wieder das Verlieren nicht ausschließt?
Kraus: Genau. Deshalb finde ich es toll, mich jetzt diesem Abenteuer auszusetzen. Ich bin aufgeregt. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es ist ein großes Privileg, mit diesem relativ überschaubaren Risiko kreativ bleiben zu müssen.
Das Leben ist wie ein Fluss: der gräbt sich immer wieder in eine andere Richtung, um an den blöden Bergen vorbeizukommen.
Vermutlich ohne dabei den Anspruch zu haben, der größte Opern-Regisseur der Welt zu werden.
Kraus: Ich habe auch den Film „Vier Minuten“ nicht gemacht, um den Erfolg zu erreichen, den der Film schlussendlich hatte. Sondern ich wollte vor allen Dingen eine Geschichte erzählen, die eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber ausdrückt. Natürlich habe ich gehofft, dafür ein gewisses Publikum zu finden. Dass es jedoch ein Welterfolg wird, konnte man nicht ahnen, zumal der Film hier in Deutschland zunächst einmal komplett auf die Nase gefallen ist. Ich glaube, niemand, der versucht, eigene Stoffe umzusetzen, geht so äußerlich an ein Projekt heran. Denn die Widerstände, die sich immer auftun, lassen sich mit der Gier nach Anerkennung, Ruhm, Geld allein schwer überwinden. Da braucht man eine Energie, die mit dem Projekt selbst zu tun hat, sonst lässt man es fallen.
Hast du für deine Arbeit eine Energiequelle zum Auftanken?
Kraus: Das sind meine drei Kinder, meine Frau, meine Familie. Ohne die würde es wahrscheinlich nicht gehen. Die andere Sache ist die ständige Suche nach einem Ausdruck für den Wahnsinn, der uns umgibt. Zu überlegen, dass die Uhr abläuft und man vorher noch die Welt verstehen will. In meinen Filmen sehe ich retrospektiv vor allem deren Schwächen, auch oder vielleicht gerade, wenn ein Film erfolgreich war. Die Suche nach dem perfekten Film geht immer weiter.
Du hast einmal von den „Idiotien des Fernsehgeschäfts“ gesprochen. Was war ausschlaggebend dafür, dass du dich mit „Bella Block – Reise nach China“ nun dennoch an einen Fernsehfilm herangewagt hast?
Kraus: Ich habe lange gezögert. Es war eine Entscheidung, die aus der Not geboren war, weil „Vier Minuten“ nicht raus zu kommen drohte. Ich hatte als Autor früher ja bereits für das Fernsehen gearbeitet, und das waren keine guten Erfahrungen, Gott bewahre. Bei „Bella Block“ war es aber wirklich etwas Besonderes. Ich konnte das Buch selber schreiben, das Team teilweise mitbringen, die Schauspieler casten, habe Regie geführt… das sind so viele Möglichkeiten, einen eigenen Film zu machen.
War denn von vornherein klar, dass dir niemand reinreden würde?
Kraus: Ich hatte zunächst wahnsinnigen Horror davor, denn es war ja nicht nur das ZDF beteiligt, sondern auch als Produktionsfirma die Ufa, sozusagen Sodom und Gomorrha zusammen. In diesem Fall haben sich meine Befürchtungen aber wirklich in ihr Gegenteil verkehrt. Es war eine phantastische Zusammenarbeit sowohl mit der Produzentin Selma Brenner als auch mit dem Redakteur. Ich konnte im Prinzip meinen dritten Kinofilm machen. Es gab keine Zensur, die es in dem Bereich oft gibt. Der Samstagabend ist ja sonst ein absoluter Marketingplatz. Und wir treten schließlich am 9. Februar an gegen… wie heißt dieser Blondschopf noch mal? Silberschmidt?
Du meinst Florian Silbereisen vom „Musikantenstadl“.
Kraus: Ja, genau (lacht). Das ist halt die andere Seite. Diese Granate läuft parallel zu unserm Film in der ARD. „Bella Block“ ist im Vergleich dazu eine Aufführung von Shakespeares sämtlichen Werken. Natürlich sind wir wahnsinnig nervös und haben die Hoffnung, dass man auch im Fernsehen mit einem anspruchsvollen Thema und einer ähnlich sperrigen Dramaturgie wie bei „Vier Minuten“ ein großes Publikum erreichen kann.
Inwiefern bestand für dich denn überhaupt die Möglichkeit, innerhalb der „Bella Block“-Reihe etwas Eigenes zu kreieren? Es gibt die Reihe seit 14 Jahren, bestimmte Muster sind logischerweise vorgegeben, die Hauptdarsteller standen fest.
Kraus: Ja, und die finde ich super. Deshalb habe ich Devid Striesow auch eine große Rolle geschrieben. Und Hannelore Hoger ist toll, eine sehr intelligente Schauspielerin, schwierig, schön und anspruchsvoll. Wir haben uns unheimlich gut verstanden und phantastisch gestritten. Das macht mir ja Spaß, lustvoll zu streiten, wenn es um die Sache geht und nicht um Eitelkeiten. Ich arbeite gerne mit starken Charakteren zusammen, weil da etwas entstehen kann, was mit der Intensität des Augenblicks zu tun hat. Wir haben den Film bei den Hofer Filmtagen einem Kinopublikum gezeigt, das gerade wegen der Leistungen der Schauspieler völlig aus dem Häuschen war. Deshalb bedauere ich es jetzt ein wenig, dass „Bella Block“ nur auf dieses Fernsehformat beschränkt bleibt, weil der Film über die Leinwand noch einmal völlig anders funktioniert als über den Fernsehbildschirm.
Du hast für „Bella Block“ wieder in großen Teilen mit deinem Team von „Vier Minuten“ zusammengearbeitet, mit dabei waren u.a. die Kamerafrau Judith Kaufmann, die Cutterin Uta Schmidt, die Komponistin Annette Focks. Ist diese Vertrautheit bei der Zusammenarbeit ein großer Vorteil? Oder besteht auch ein wenig die Gefahr einer Kreativitätshemmung, weil man in alte Muster zurückfallen könnte?
Kraus: Es war ja erst mein dritter Film mit dem Team, so viele alte Muster gibt es da nicht. Es ist eine Abkürzung der Arbeitswege, wenn man sich sehr gut kennt. Man geht direkt von A zu Z, ohne vorher das ganze Alphabet durchhecheln zu müssen. Das hat die Arbeit, die natürlich unter einem ganz anderen Zeitdruck stand als bei einem Kinofilm, enorm erleichtert.
Welche Unterschiede zwischen Kino und Fernsehen hast du hinsichtlich der Produktionsbedingungen erlebt?
Kraus: Die üblichen. Es gibt weniger Kohle, weniger Drehtage, weniger Ambitionen. Das kann schwierig sein. Dennoch hat mir Produktion und Redaktion ermöglicht, meine relativ aufwendige Arbeitsweise beizubehalten. Ich konnte genauso viel Zeit in die Proben investieren wie bei meinen Kinofilmen. „Bella Block“ ist ein Schauspieler-Film, was für einen Fernsehkrimi ungewöhnlich ist, der ja in erster Linie über den Plot funktionieren soll.
„Bella Block“ hat zumeist eine hervorragende Einschaltquote, nicht zuletzt deshalb war es wohl möglich, sich etwas zu trauen.
Kraus: Ja, und schaut euch mal an, wer da alles mitgemacht hat: Rainer Kaufmann, Sherry Horman, Markus Imboden, Hans Steinbichler… Das sind ja großartige Kinoregisseure. Die Stoffe sind, wie auch jetzt in unserem Fall, des Öfteren hochpolitisch. Und tatsächlich ist es Hannelore Hoger, die uns da den Arsch rettet, weil sie allein durch ihre Präsenz ein Potential an Zuschauern holt, mit dem man auch bei etwas Wagemut in der Stoffwahl und der Erzählweise fest rechnen kann.
Die Schauspielerin Ann-Kathrin Kramer sagte gegenüber Planet Interview: „Es mischen sich immer mehr Menschen ein, die versuchen, einen Film massenkompatibel zu machen“. Die Arbeit für das Fernsehen ist als Regisseur offensichtlich eine pausenlose Auseinandersetzung mit Entscheidungsträgern.
Kraus: Ja, ich stehe dem deutschen Fernsehen auch nach wie vor sehr kritisch gegenüber, wobei man da, gerade bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, aber stark differenzieren muss. Bei einem Degeto-Film zum Beispiel herrscht der blanke Zynismus, bei Herrn Silbereisen auch. Ich habe persönlich auch Fernsehfunktionäre erlebt, die aus einem Loriot-Sketch entkommen sein müssen. Andererseits ermöglicht die Fernsehfinanzierung überhaupt erst anspruchsvolle deutsche Kinofilme und somit die so genannte „nouvelle vague allemande“, die zurzeit auf der ganzen Welt gefeiert wird. Ich selbst möchte keinen Film machen, der das Gegenteil von dem erzählt, was ich zu leben versuche. Das ist der Maßstab, den ich bei einem Fernsehauftrag anlege.
Wie bewertest du – einen Schritt weiter – die neuen Mischformen von Kino und Fernsehen, die Volker Schlöndorff kritisiert hat, woraufhin die Constantin Film ihn beim groß angelegten Projekt „Die Päpstin“ gefeuert hat?
Kraus: Ich finde, dass Volker Schlöndorff völlig Recht hat mit seiner Kritik. Die zielt darauf, dass über Fördergelder mühsam getarnte Fernsehfilme subventioniert werden, die nur noch als Feigenblatt die Kinoauswertung beinhalten. Damit wird unsere Kinokultur weiter untergraben, die eben auf ganz bestimmten Arbeitsweisen beruht. Zum Beispiel auf einer sehr viel intensiveren Schauspielerführung, als das beim Fernsehen möglich ist. Meine Arbeitsweise, auch beim Fernsehen, war – was die Schauspielführung anbelangt – immer eine Kinoarbeitsweise. Wenn das gegeben ist, würde ich auch fürs Radio arbeiten. Ein Hörspiel habe ich schließlich noch nie gemacht (lacht).
Chris, womit überrascht du uns als nächstes? Was wirst du noch alles ausprobieren?
Kraus: Hm, vor allem müsste ich mich selbst überraschen. Im Moment ist die Oper „Fidelio“ der große Aufreger, ich arbeite an „Poll“, meinem neuen Film. Und außerdem ist ein Roman in Arbeit. Das sind die Sachen, die in den nächsten zwei Jahren anstehen.
Inwieweit spürst du dabei nach „Vier Minuten“ den Druck, dich zukünftig immer an diesem Erfolg messen lassen zu müssen?
Kraus: Es ist in Deutschland so, dass es unheimlich viele Erstlingsfilmer gibt, und wir haben seit Hunderten von Jahren die Tradition, in jedem Menschen, der sich kreativ erstmals versucht, einen kleinen Goethe zu suchen. Das heißt, es werden sehr, sehr viele junge Leute aufgebaut und wenn die mal einen Film machen, der halbwegs gelingt, entsteht beim zweiten Film ein Riesendruck. Das war bei mir nach meinem ersten Film „Scherbentanz“ natürlich auch so. Ich habe versucht, mich dem mit aller Macht zu entziehen und deshalb auch mit „Vier Minuten“ wieder einen sperrigen Film gemacht, keine anderen Angebote angenommen. Wenn das dann tatsächlich funktioniert, ist es oftmals auch eine Glückssache. Darüber bin ich mir völlig im Klaren. Ich weiß nicht, wie es mit „Bella Block“ laufen wird. Ich habe keine Ahnung, ob die Opern-Inszenierung glücken kann… – aber für die eigentliche Arbeit ist es auch gar nicht gut, darüber nachzudenken.
Das vermeidest du?
Kraus: Ja, es ist mir auch scheißegal. Zumal ich ja bei „Vier Minuten“ erlebt habe, von welchen Zufällen es abhängt, ob das gleiche Produkt das schlimmste Machwerk auf Erden ist oder ein Meisterwerk. Das ist Gottes Würfel. Und den hast du nicht in der Hand.
Unsere Schlussfrage lautet: Das Leben ist ein Comic – welche Figur bist du?
Kraus: Donald Duck. Dieser charmante Verlierer halt. Ich mochte ihn immer sehr, denn er bekam ja seine Chance als Phantomias.