Herr Petzold, in Ihrem neuen Film „Jerichow“ sagt Laura – gespielt von Nina Hoss –den Satz: „Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat.“ Wie lieblos ist unsere Welt, in der immer mehr Menschen immer weniger Geld zur Verfügung haben?
Petzold: Der Satz bezieht sich eher auf dieses „Pretty Woman“-Kino, das von der Liebe zwischen den Klassen und Gesellschaftsschichten erzählt und so tut, als ob die Liebe alles heilen könnte. So wie Laura den Satz spricht und sie dabei weint, sagt sie aus tiefster Erfahrung: „Das gibt es nicht.“ Die Leute bleiben mit ihren Liebespartnern in ihrer Klasse. Akademiker heiraten Akademiker. Im Gegensatz dazu erzählt die Literatur aber, wie der Akademiker ein Zigeunermädchen kennen lernt, was absoluter Humbug ist. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft für Laura. Sie weiß, dass diese Romantik nicht hilft. Weder dem Kino, noch ihrer Person.
Wie schwer fiel Nina Hoss dieser Satz?
Petzold: Ich wollte sie den Satz ursprünglich gar nicht aussprechen lassen. Aber Nina ist eine sehr vollständige Schauspielerin. Als sie den Satz sagte, weinte sie so sehr, dass er nicht zu verstehen war. Worauf sie ihn gerne nachsprechen wollte, damit er verstanden wird. Ich fand ihn eigentlich zu sehr theatralisch. Erst beim Schnitt bemerkte ich, dass wir ihn doch brauchen.
Ist die Schichtzugehörigkeit, von der Sie sprechen, für das Misstrauen der Figuren verantwortlich, gegenüber ihren Mitmenschen?
Petzold: Was mir sehr gut an den dreien gefällt, ist dass sie die Sehnsucht eint, noch mal 18 zu sein. Sie verstecken ihr Geld an Kinderplätzen und sagen Sätze wie: „Du packst jetzt deine Sachen und kommst mit mir.“ Das ist 17-jährig á la „wir setzen uns aufs Kleinkraftrad und fahren jetzt ans Meer.“ Sie träumen von einer Zeit, in der ihnen die Welt mit all ihren Möglichkeiten noch offen stand. Aber sie leben in einer Welt, in der alle Türen zu sind. Dieser Zwiespalt durchzieht den Film. Ihr Misstrauen beinhaltet dabei eine Sehnsucht nach der Täuschung. Sie sehnen sich nach der Sehnsucht, wissen aber, dass es am Ende doch aufs Geld ankommt.
Gerade in der Figur Ali (dargestellt von Hilmi Sözer), der beinahe paranoid misstrauisch ist, aber auch immer in seiner negativen Vermutung bestätigt wird, drückt sich das aus. Ist das eine Lehre des Films: „Vertraue niemand…“?
Petzold: Das ist das Tolle an Paranoikern, die mit ihrer selektiven Wahrnehmung das sehen, was sie sehen wollen. Damit spielt der Film. Im Film ist es so, als würde Alis Paranoia, seine Einbildung die beiden erst zusammenführen. Im Grunde ist das so. In der Picknick-Szene baut er im Grunde das Paar zusammen, das ihn später tötet.
Sie sprechen im Kontext des Films von „Inseln“, auf denen sich Menschen ihre Heimat schaffen. Ali hat es eigentlich geschafft und seine Insel erfolgreich gebaut. Gehört es zum Menschen, dass er diese Insel immer wieder aufs Spiel setzt und sie auch selbst zerstört?
Petzold: Das Problem ist, dass die Insel nicht die Gesellschaft ist. Für die Insel ist er der Architekt und Schöpfer. Er hat das Haus, die Frau, den Beruf…, aber so ist das Leben nicht. Es gibt immer Einflüsse von außen. Nur ein Mensch muss von außen auf diese Insel kommen, wie Freitag bei Robinson, und schon ist das Gefüge auseinander. Diese gebauten Existenzen sind nicht überlebensfähig. Sie sind eine Versuchsanordnung. In Jerichow tritt eben dieser Inselstaat in Kontakt zu einer anderen.
Passt der Film gerade deshalb ins ostdeutsche Nirwana?
Petzold: Mir fiel die Geschichte dort ein, als wir damals „Yella“ in der Gegend drehten. Ich sah das Ortsschild Jerichow, mag die Gegend sehr gerne, das Amerikanische dort. Oder besser: das ausgeträumte Amerikanische dort. Die Malls, die Tankstellen, die Autohöfe. Alle Träume wirken so weit weg. Nichts ist mehr unschuldig.
Was auch ideal zu der heutigen Zeit passt…
Petzold: Absolut. Das spürte man schon. Mir fiel dann die James Cain-Geschichte „The Postman Always Rings Twice“ (deutsch: Wenn der Postmann zweimal klingelt) ein und sprach mit Nina darüber. Aus diesem Gespräch entstand ihre Figur. Die Geschichte entwickelte ich mit Harun Farocki.
Sie arbeiten häufig mit Nina Hoss zusammen. Künstler beschreiben oft eine Muse, die wichtig ist für ihre Kreativität. Lässt sich ihr Verhältnis so beschreiben?
Petzold: Bei der Muse ist das Verhältnis der Frau zu schwach. Sie ist keine Muse. Dafür ist sie zu eigenständig.
Da Sie die Geschichte in einem Gespräch mit Frau Hoss entwickelten, hatten Sie sie auch für die Rolle Laura im Kopf?
Petzold: Eigentlich wollte ich die Rolle mit jemand anderem besetzen und war da auch schon sehr weit. Doch dann wollte ich lieber sehen, wie Nina Hoss sich an die Rolle heranarbeitet. Das ist interessanter, als die Figur passend zu besetzen.
Wer in 20 Jahren wissen will, wie wir heute gelebt haben, muss sich die Filme der 'Berliner Schule' ansehen.
Sie besetzen häufig Rollen mit Schauspielern, die sie schon kennen. Wie wichtig ist für Sie bei der Zusammenarbeit mit Schauspielern, dass Sie deren Spiel kennen?
Petzold: Ich würde auch mit völlig neuen Schauspielern drehen. In dem Fall hatte ich die Idee, nicht wie bei „Postman“ die Frau als verführende Femme Fatale zu besetzen, sondern den Mann als Verführer mit viel Physis. So liegt in der Szene, in der die beiden miteinander schlafen er nackt auf dem Bett, während sie angezogen ist. Diese Verdrehung hat mir gefallen. Die funktioniert, weil Benno Fürmann als einer der wenigen deutschen Schauspieler einen Körper hat.
Sie gelten als Vertreter der so genannten „Berliner Schule“. Wie bewerten Sie deren Einfluss auf die hiesige Filmindustrie?
Petzold: Wo über die „Berliner Schule“ so schlecht gesprochen wird, ist das kein Kompliment mehr… Aber ich bin froh, dass es diese Filme gibt und hoffe, die Filmemacher machen weiter. Wer in 20 Jahren wissen will, wie wir heute gelebt haben, muss sich die Filme ansehen.
Trotz der Kritik ist der Einfluss nicht von der Hand zu weisen…
Petzold: Den Einfluss bemerke ich, wenn ich Seminare leite. Als ich 1988 an der DFFB (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) anfing, gab es kein deutsches Kino. Nur Komödienkino. Ich hätte mich über etwas gefreut, an dem ich mich ausrichten kann. Einen eigenen Blick auf Deutschland. Geschichten, die aus dem Land hier kommen. Mir hätte das geholfen. Ohne Dominik Graf wäre ich verloren gewesen.
Wobei der deutsche Film nicht mehr nur noch auf Komödien reduziert ist. Der Realismus hält Einzug – was auch die Zuschauerzahlen in den letzten Jahren belegen.
Petzold: Die „Berliner Schule“-Filme laufen im Ausland wesentlich besser als in Deutschland. Weil sie vom Land erzählen. Mich interessiert ja auch am dänischen Kino das Dänische und am Französischen das Französische. Ich will einen französischen Polizeifilm sehen und nicht einen französischen, der einen amerikanischen nachspielt. Statt zu versuchen „24“ in Berlin nachzuspielen, ist es doch viel interessanter unsere Polizei mit ihren Linoleumböden und Kaffeetassen zu zeigen. Das Beamtentum. Das wenige Gehalt, das in München den Polizisten nicht reicht, um in der Stadt zu wohnen.
Ist das der Grund, warum es sie immer wieder in den Osten mit seinen scheintoten, aussterbenden Regionen zieht?
Petzold: Nein, sondern weil die dort amerikasüchtig sind. Dort sieht es mit den Malls und Highways aus wie in Amerika. Ein Amerika ohne Geld. Pennsylvania. Die in Amerika wie hier zerstörte Industriegesellschaft. In Amerika zu sehen in Serien wie „The Wire“, die in Baltimore spielt und zeigt, was übrig bleibt, wenn die Lohnarbeit verschwindet. Dieser Verfall wurde in der Prignitz in brutaler Geschwindigkeit vorgeführt, wo Werften und die Singer-Nähmaschinenfabrik in kürzester Zeit weggehauen wurden. Was passiert mit der Liebe, den Sehnsüchten und den Träumen, wenn die Arbeit verschwunden ist. Das muss doch erzählt werden.
Liegt über der Gegend eine gewisse vielleicht auch filmische Melancholie?
Petzold: Bei „Yella“ sagen sie, dass die Frauen die Orte verlassen und es keine jungen Frauen mehr dort gibt. Die Frauen sind die ersten Glückssucherinnen. Die sind alle in den Westen oder nach Leipzig und Berlin gegangen. Folgen ihnen die jungen Männer, steht das Aussterben bevor. Wenn ich mir das amerikanische „The Wire“ anschaue, frage ich mich, warum dort nicht das deutsche Pendant gedreht wird. All die Widersprüche, die Verzweiflung und die ausgeträumten Träume.
Fehlt so etwas in Deutschland?
Petzold: Ich verstehe nicht, warum wir das nicht hier haben. Wir haben so viel Geld, die reichsten Sender der Welt, die Öffentlich-Rechtlichen. Die verbrauchen alles für Dinge, die so sinnlos sind.
Was zum Beispiel?
Petzold: Sportrechte sind einfach zu teuer. Das um 20.15 Uhr Quotenfernsehen gemacht wird, anstatt mit langem Atem zu experimentieren. Das Kürzen der guten Politmagazine, die WDR-Dokumentationsredaktion „Die Story“ wurde zusammengekürzt, wo seit Jahren investigativer Journalismus betrieben wird. Das gefällt mir nicht. Für den Scheiß zahle ich keine Gebühren.
Wie stehen Sie zum extrem teuren Ausbau des Online-Angebots?
Petzold: Wenn das Internet-Fernsehen kommt, sind sie abgeschaltet. Da guckt doch keiner mehr den Volksmusik-Scheiß an. Die Leute zwischen 20 und 40 schauen heute nicht mehr fern, sondern gestalten ihr eigenes Fernsehprogramm mit bestellten DVDs, laden sich etwas herunter, schauen direkt im Internet oder gehen ins Kino – was die richtigste Entscheidung wäre. Ich fühle mich nicht mehr repräsentiert.
Angenommen das öffentlich-rechtliche Fernsehen gäbe Ihnen Mittel, um eine Serie wie „The Wire“ zu produzieren…
Petzold: Wir bräuchten zehn Autoren, 70 Schauspieler, die so etwas gar nicht gewohnt wären, mit dieser bis in die Nebenrollen verästelten Erzählstruktur. Eine Aufhebung der Haupt- und Nebenrollenstruktur, wo hier nur die Hauptrollen Schärfe bekommen und die Nebenrollen nur als Karikatur missbraucht oder als Stichwortgeber vergewaltigt werden. Bei „The Wire“ stößt jede Nebenfigur die Tür zu einem neuen, komplexen Kosmos auf. Vielleicht müsste erst vorab eine Analyse feststellen, was hier alles schief läuft.
Unsere Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic, welche Figur sind Sie?
Petzold: Es könnte nur eine Figur aus Entenhausen sein. Vielleicht der Knecht von Oma Duck. Dieser Pennsack.