Frau Lemke, nach dem 11. September hörte man oft, dass die Welt nie wieder so sein würde, wie sie vorher war. Wie sieht es zehn Jahre später aus?
Der Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon in Washington ist in der Tat ein tiefer Einschnitt für die amerikanische Politik, aber auch für die Weltpolitik. Denn danach ist ja der Schlag gegen die Taliban-Regierung in Afghanistan erfolgt. Dieser Krieg, der immer noch nicht beendet ist, ist eine direkte Folge von 9/11. Genauso der Einsatz gegen den Irak, ein Krieg, der inzwischen beendet werden konnte, der aber das Land selbst sehr in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Frage, wie sich der Westen gegenüber der islamischen Welt verhält, ist zehn Jahre später immer noch ein großes Thema. Auch die Bekämpfung des Terrorismus spielt in der amerikanischen Sicherheitspolitik immer noch ein große Rolle.
Beim Anschlag auf das World Trade Center starben fast 3000 Menschen. Der 11. September muss für die Amerikaner aber auch deshalb eine schockierende Erfahrung gewesen sein, weil sich die Nation auf einmal als verletzbar empfunden hat.
Ja, die Verletzbarkeit der USA wurde hier ganz augenfällig demonstriert. Es hat ja in den zwei Weltkriegen keinen direkten Angriff dem Gebiet der USA gegeben. Außer dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert hat man auf dem amerikanischen Territorium keine Kriege oder größere militärische Auseinandersetzungen erlebt. Es war ein neues, einschneidendes Erlebnis. Weit über die Stadt New York hinaus wurde sichtbar: die USA, die Weltmacht, ist verwundbar.
Ist der Schock mit dem Tod von Osama Bin Laden überwunden?
Ich glaube, dass wir aus der Literatur über Trauma lernen, dass Traumata nicht wirklich verschwinden. Sie berühren Menschen in unterschiedlicher Form. Diejenigen, die in New York Angehörige oder Kollegen verloren haben, spüren diese tiefe Verunsicherung, die Trauer und Wut bis heute. Ich denke, auch die Tötung von Osama Bin Laden hat das Trauma nicht beseitigt. Es ist eine gewissen Erleichterung zu spüren gewesen, aber für die menschliche Psyche bleiben diese Schockwirkungen heute noch spürbar. In der Bedeutung für die Amerikaner stehen sie auf der gleichen Stufe wie der Angriff auf Pearl Harbour, der den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zur Folge hatte, oder der Vietnamkrieg.
Es kursieren weiter Theorien, nicht Bin Laden, sondern die amerikanische Regierung stecke hinter den Anschlägen. Was ist davon zu halten?
Wir beobachten immer wieder in der Geschichte aller Länder, dass solche Verschwörungstheorien nach einschneidenden Ereignissen entstehen, die den Tod vieler Menschen nach sich ziehen oder eine bedeutende Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellen. Das war nach der Ermordung von Präsident Kennedy der Fall, da gibt es bis heute Verschwörungstheorien. Oder wenn Sie an das Ende des Zweiten Weltkriegs denken und den Selbstmord von Adolf Hitler: Immer wieder wurde behauptet, er sei nicht tot, er befinde sich woanders.
Wo sehen Sie die Gründe für solche Spekulationen?
Ich glaube, Verschwörungstheorien liegen in der Natur solcher einschneidenden Erlebnisse. Das Bedürfnis ist, etwas zu erklären, das man in seiner Grausamkeit, in der Bösartigkeit der Planung, nicht verstehen kann. Der Mythos der Verschwörung fügt sich dabei in ein vorgefertigtes Weltbild ein. Aber wir haben ja sehr detaillierte Dokumente und es gibt keinen rationalen Boden für diese Verschwörungstheorien. Dennoch halten sie sich weiter hartnäckig, sowohl in den USA als auch in Teilen der arabischen Welt.
Halten sie sich auch deshalb, weil die US-Regierung gelogen hat, als sie 2003 Massenvernichtungswaffen zum Anlass für den Irakkrieg nahm?
Gerade im militärischen Bereich werden oft Tatsachen verschleiert. Vor dem Irakkrieg wurden Fotos gezeigt, auf denen nicht das zu sehen war, was die Regierung vorgab. Dabei hat eine vom Kongress eigens eingesetzte Kommission inzwischen einen Bericht vorgelegt, den Dulfer-Bericht, der die fehlerhafte Einschätzung über der Gefährlichkeit des Iraks belegt und den Hauptkriegsgrund damit in Zweifel zieht. Die Menschen haben inzwischen ein gesundes Misstrauen entwickelt, was Bilder betrifft, denn Bilder kann man manipulieren. Das ist Teil des politischen Geschäfts geworden. Gerade in den USA gibt es aber auch eine starke Tradition des investigativen Journalismus, die solche Fälschungen aufdeckt und eine kritische Gegenöffentlichkeit bildet.
Laut einer Umfrage des Pew Reservat Center meinen 53 Prozent der befragten Muslime in den USA, ihr Leben sei seit den Anschlägen auf das World Trade Center deutlich schwieriger geworden. Was hat sich für sie, wie hat sich das Klima in den USA ihnen gegenüber verändert?
Muslime oder Menschen mit arabischem Aussehen wurden nach den Anschlägen oft fälschlich verdächtigt und beispielsweise schärferen Personenkontrollen unterzogen oder polizeilich überwacht. Angehörige muslimischer Gemeinden beklagen sich auch über die Unkenntnis vieler Amerikaner bezüglich des Islam und den verschiedentlich geäußerten Generalverdacht, Muslime unterstützten den islamistischen Terror. Ich erlebe gerade New York jedoch als tolerante und weltoffene Stadt.
New York ist eine weltoffene und liberal denkende Stadt, dies ist auch nach dem 11. September zu spüren.
Wie macht sich das bemerkbar?
Als im vergangenen Jahr beispielsweise ein muslimisches Gemeindezentrum in der Nähe des früheren World Trade Centers geplant war, hat es öffentliche Proteste von Seiten der Opferverbände, aber auch von Seiten der rechtspopulistischen Tea Party gegeben. In dieser Situation hat der New Yorker Bürgermeister sehr klar Position bezogen und hervorgehoben, dass die Stadt offen und tolerant ist und dass dies auch in Zukunft so bleiben soll. Dieses Beispiel aus New York zeigt, dass die muslimischen Gemeinden einen anerkannten Platz in der Gesellschaft haben.
Hier in Deutschland haben Thilo Sarrazins Thesen von ererbter Dummheit unter Migranten viel Beachtung, natürlich auch Kritik, gefunden. Wie unterscheiden sich die Diskussionen über ethnische Herkunft in USA und Deutschland?
Die USA verstehen sich immer noch als Einwanderungsland. Die Integration verläuft in erster Linie über den Arbeitsmarkt, zweitens auch über die Schulen. Aber hier liegt die Verantwortung bei den Migranten selber. Integrationskurse oder Sprachkurse gibt es nicht. Es gibt aber auch keine Klagen wie in Deutschland etwa dass es eine türkische Parallelwelt gebe. Die Existenz verschiedener Kulturen wird akzeptiert und gerade in den größeren Städten als eine Bereicherung empfunden. Ethnische Herkunft ist kein Makel, vielmehr gilt es in weiten gesellschaftlichen Bereichen, wie beispielsweise in der Musik, in der Mode oder im Film, als „cool“, ethnischen Identitäten und Lebensweisen kulturelle Ausdrucksformen zu verleihen.
Mehr als die Hälfte der vom Pew Reservat Center befragten Muslime fühlt sich von den Behörden überwacht. Wie wird die Einschränkung von Bürgerrechten nach dem 11. September von anderen gesellschaftlichen Gruppen gewertet?
Bei der Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten wird man in den USA sehr hellhörig, auch was die Überwachung von Menschen angeht. Das historisch tief verankerte Freiheitsstreben steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zum Sicherheitsbedürfnis. So hat Präsident Obama bestimmte Maßnahmen des Patriot Act weitergeführt. Gerade beschloss der amerikanische Kongress beispielsweise, dass Terrorverdächtige weiter der Militärgerichtsbarkeit unterliegen. Das bedeutet, dass das Gefangenenlager Guantánamo mit seiner Sondergerichtsbarkeit weiter bestehen bleiben wird. Diese Entscheidung steht schon im Gegensatz zu dem, was Präsident Obama an Bürger- und Verfassungsrechten sonst für wichtig erachtet.
Im Wahlkampf hat er versprochen, das Gefangenenlager Guantánamo Bay zu schließen. Warum besteht es immer noch?
Obama hat den Widerstand der Senatoren – auch aus der eigenen Partei – unterschätzt, in deren Bundesstaaten die Gefangenen hätten überführt werden müssen. Die Unterbringung in normalen Gefängnissen der Bundesstaaten und die Durchführung von zivilen Untersuchungs- und Gerichtsverfahren hätten einen hohen Aufwand an Sicherheit und Kosten erfordert, wozu die Bundesstaaten nicht bereit waren. Zudem bestanden rechtliche Probleme bei der Aburteilung sowie die Angst vor weiteren Anschlägen. Gegen den Widerstand der Bundesstaaten konnte sich Obama nicht durchsetzen.
Erleben Sie New York aufgrund der Anschläge als eine stark politisierte Stadt?
Ja, die New Yorker sind politisch aufgeschlossener und interessierter als die Einwohner anderer Städte in den Vereinigten Staaten. Traditionell ist New York eine weltoffene und liberal denkende Stadt und dies ist auch nach dem 11. September zu spüren. Ich würde sogar sagen, dass sich die tolerante und aufgeschlossene Haltung der New Yorker noch verstärkt hat. Nirgendwo sonst hat es in den USA so viele nachdenkliche und reflektierte Beiträge zu Ursachen und Folgen der Anschläge, die weltpolitische Rolle der USA oder Versäumnisse in der Außenpolitik gegeben wie in dieser Stadt.
Welche Auswirkungen hat der 11.9. heute noch im Alltag der Stadt, wo sind die Terroranschläge stets präsent?
In Bezug auf die innere Sicherheit in der Stadt sind die Auswirkungen der Anschläge bis heute spürbar. So sind strenge Eingangskontrollen in allen öffentlichen Gebäuden üblich, selbst in die Universitätsbibliothek und in Bürogebäude kommt man ohne Berechtigungsausweis nicht herein. In der Straßenarchitektur fallen Poller und andere Schutzmaßnahmen gegen Fahrzeuge mit möglichen Sprengstoffladungen auf. Die U-Bahnhöfe und Verkehrsknotenpunkte werden besonders bewacht, Bürger werden über Ansagen aufgefordert, Verdächtiges zu melden. Selbst die Papierkörbe sind so konstruiert, dass das Ablegen einer Bombe verhindert wird. Sicherheit hat eine hohe Priorität und es ist eine allgemeine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit dieser Stadt zu verspüren, die ja nicht nur ein Magnet für Einwanderer ist, sondern rund ums Jahr von Tausenden Touristen besucht wird.
Der Kampf gegen den Terrorismus bleibt ein wichtiges außenpolitisches Ziel der USA. Wie unterscheidet sich Obamas Strategie von der George W. Bushs?
Bush hat vor allem militärische Mittel beim Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt. Der deutlichste Unterschied besteht darin, dass die Obama-Administration sehr viel mehr auf diplomatische Mittel und den Einsatz von „smart power“, also Überzeugungsarbeit, setzt. Auch die Recherchen der Botschaften spielen eine Rolle. Das wissen wir unter anderem aus den Depeschen, die bei Wikileaks veröffentlicht wurden und die zeigen, wie sehr die Obama-Administration bemüht ist, terroristische Netzwerke besser zu erfassen und zu erkunden, sowie zu erfahren, wem man vertrauen kann und wem nicht.
Außenministerin Clinton, eine Verfechterin des „smart power“-Ansatzes, hat inzwischen viele Staaten der arabischen Welt bereist und versucht, Vertrauen aufzubauen. Zu der Strategie des Dialogs zählen auch neue Initiativen, den Nahostkonflikt zu lösen, wobei man leider sagen muss, dass diese Bemühungen bisher nur wenig Erfolg hatten.