Jason, mit dem Cinematic Orchestra hast du den viel gerühmten Dokumentarfilm "Man with a Movie Camera" von Dziga Vertov neu vertont. Der Film entstand 1928, kam 1929 in die russischen Kinos — wie verlief dann seine weitere Geschichte?
Swinscoe: Ich glaube, kurz nach dem Vertov den Film ins Kino gebracht hat, wurde er verboten. Bei der Art und Weise, wie Vertov das russische Leben, die Kultur und die Gesellschaft portraitierte, war er wahrscheinlich etwas zu leichtsinnig, es entsprach nicht unbedingt den Ansichten des russischen Staates. Und bis zum Ende des Kommunismus haben ihn meines Erachtens nicht viele Leute in Russland zu sehen bekommen.
Es ist aber ein sehr einflussreicher Film, in der Art, wie er gemacht ist, die Kameratechnik, der Schnitt, die ersten Spezial-Effekte, wenn man das so nennen mag.
Was hat dich an diesem Film fasziniert? Mehr Vertovs Technik, oder mehr die Bilder vom Russland der 20er Jahre?
Swinscoe: Beides, ich finde, er hat diese Dinge auf eine sehr kluge Art zusammengebracht. Dadurch, dass im Mittelpunkt des Films der Kameramann steht, zeigt uns Vertov ja, wie ein Film an sich entsteht. Er filmt den Kameramann, wie der die Menschen filmt. Dabei steht der Kameramann mal auf einem fahrenden Auto, oder er klettert auf hohe Schornsteine einer Fabrik, um wieder eine neue Perspektive zu bekommen. Teilweise sieht das ja alles sehr gefährlich aus.
Der Film ist ein sehr wichtiges Dokument des frühen Dokumentarfilms, auch weil er bereits auf verschiedenen Ebenen funktioniert, nämlich einerseits als Film und andererseits als eine Art sozialer Kommentar, wie es damals im kommunistischen Russland ausgesehen hat.
Vertov hat selbst musikalische Instruktionen für seinen Film aufgeschrieben, aber er hat selber keine Filmmusik komponiert.
Swinscoe: Ja, seine Instruktionen, das waren keine Noten sondern eine Art Text, in dem Vertov sich vor allem über Wiederholungen geäußert hat. Er wollte einen Soundtrack, in dem sich bestimmte Elemente immer wieder wiederholen. Das macht Sinn, denn so, wie er den Film aufgebaut hat, besitzt er ja schon eine Menge an sich wiederholenden Bildern. Er filmt Maschinen, die immer die gleichen Bewegungen ausführen, die Räder der Straßenbahn, die nicht aufhören, sich zu drehen — und man findet das Prinzip der Wiederholung natürlich auch in seiner Montage wieder. Dazu ist der ganze Film ja als Tagesablauf von morgens bis abends zu verstehen, ein Ablauf, der sich also auch immer wieder wiederholt. Wenn man sich nun die ersten Soundtracks anhört, die zu diesem Film entstanden sind, dann merkt man, dass sie sich oft sehr an den Instruktionen von Vertov orientieren, und das mit den Wiederholungen sehr genau nehmen.
Habt ihr euch an den Instruktionen orientiert?
Swinscoe: Ja, aber anders. Zeitgenössische elektronische Musik besteht ja sowieso viel aus Wiederholungen, insofern war das schon vorprogrammiert. Wenn du mit Loops arbeitest, Ideen entwickelst, dann entstehen automatisch Wiederholungen.
Wir haben uns aber generell mehr mit dem Inhalt der Bilder befasst als mit der Art, wie sie Vertov zusammengesetzt hat. Wir wollten mehr darauf bezug nehmen, was im Film eigentlich passiert, was die Bilder vermitteln. Zum Teil reflektieren Vertovs Bilder ja sehr viel, aber zum Teil sind sie auch einfach nur Spaß, Unterhaltung. Diesen Unterschied wollten wir natürlich deutlich machen und haben danach unsere Stile variiert.
Ich wollte die Musik nicht wie Zahlen behandeln, die man nur einem bestimmten Bild zuordnen muss, sondern ich wollte eher einen zeitgenössischen Eindruck schaffen von dem, was in diesem Film passiert, was er dokumentiert.
Unter den Musikern, die den Film bisher vertont haben, ist auch der Komponist Michael Nyman. Hast du seine Version bereits gesehen und gehört?
Swinscoe: Ja, ich habe seine Vertonung einmal live gesehen und ich muss sagen, dass mir das gar nicht gefallen hat, weil Nyman von Anfang bis Ende seinen Stil durchspielt. Zum Beispiel die ersten drei Minuten des Films: man sieht, wie die Menschen ins Kino kommen, wie der Vorführer den Film einlegt. Da gibt es bei uns noch gar keine Musik, bis der Vorführer schließlich den Film beginnt. Aber Nyman hat da nicht gewartet, sondern sofort seine minimalistisch orientierte Musik durchgezogen. Er hat sich auch meiner Meinung nach zu wenig mit den Details und dem Inhalt des Films auseinandergesetzt und so wurde das ein Soundtrack, der eigentlich nur seinen Musik-Stil wiederspiegelt.
Vertov hat selbst geschrieben, dass ein Filmschaffender sich stets der aktuell verfügbaren Technologie bedienen sollte. Habt ihr euren Soundtrack auch in diesem Sinn begriffen?
Swinscoe: Ja, die Technologie ist da, das ist ein Werkzeug, das man gebrauchen soll, um neue Ideen zu konstruieren, zu dokumentieren, kreativ zu sein. Er hat damals seine technischen Möglichkeiten voll ausgeschöpft, das sieht man auch im Film. Und da denke ich, wenn man diesen Film mit Hilfe der heutigen Technologie vertont, dann erweckt man ihn zu neuem Leben.
Dziga Vertov sah den Dokumentarfilm als die einzig gültige Form eines Films an.
Swinscoe: Also, für ihn sollte ein Film immer objektiv sein, er wollte auch immer objektiv bleiben mit seinen Filmen, er sah das Dokumentarkino als die objektive Perspektive, es sollte nichts mit seiner persönlichen Perspektive zu tun haben.
Würdest du als nächstes denn auch wieder einen Dokumentarfilm vertonen wollen?
Swinscoe: Nein, ich denke eher, dass es ein Spielfilm sein wird, ein guter alter Spielfilm. Ich würde es auch ideal finden, einmal mit einem Regisseur von Anfang an arbeiten zu können, also nicht so, das mir jemand sagt, "hier ist der fertige Film, jetzt machst du die Musik dazu".
Du hast das Cinematic Orchestra 1997 gegründet — gab es schon damals Interesse, Filme zu vertonen?
Swinscoe: Ja, definitiv. Es war aber so, dass ich die Sache nie erzwungen habe und nie erzwingen wollte. Das passierte mit der Zeit von selbst, ohne dass ich da groß Hand angelegt hätte — außer beim Namen natürlich, der gab zumindest schon eine Richtung vor. Aber letzten Endes waren es andere Leute, die uns fragten, ob wir nicht einen Film vertonen wollen, wie uns eben das Porto Film Festival gefragt hat, ob wird einen Soundtrack zum "Man with a Movie Camera" machen würden.
Aber nun ist das auch nicht die einzige Sache, die wir in Zukunft machen werden. Wir werden demnächst schon wieder ins Studio gehen und das nächste Album produzieren, was kein Soundtrack wird. Es ist natürlich offensichtlich, dass wir einen weiteren Film vertonen werden, aber es ist genauso spannend, wieder ein gutes Studio-Album aufzunehmen. Das ist dann ja auch Cinematic Orchestra, den Leuten keine Bilder geben, damit sie sich selber zu der Musik Bilder ausdenken, eine Audio-CD lässt viele Interpretationen zu. Und ich finde es generell schöner, wenn man möglichst viel offen lässt und so wenig wie möglich vordefiniert.
Ein guter Soundtrack sollte mit und ohne Bilder existieren können.
Sollte ein Soundtrack denn auch ohne die Bilder existieren können?
Swinscoe: Ja, ein guter Soundtrack sollte mit und ohne Bilder existieren können. Wie zum Beispiel Bernhard Herrmanns Soundtracks zu "Vertigo", "Nort by Northwest" oder später "Taxi Driver". Das ist wunderbare Musik, die auch ohne die Bilder auskommt.
Aber es besteht auch die Gefahr, dass der Filmkomponist den Film mit seiner Musik überfrachtet, wie es manchmal bei Michael Nyman kritisiert wurde.
Swinscoe: Also, ich finde Nymans Soundtracks sehr anspruchsvoll, sehr kompliziert, sehr intensiv. Aber ich denke auch, es wäre gut, wenn er seiner Musik mehr Raum geben würde, seine Musik klingt oft sehr dicht. Deswegen glaube ich, gelingt ihm nicht immer der ideale Soundtrack, weil die Geschichte des Films und die Schauspieler den Raum brauchen, die müssen atmen können. Seine Musik erlaubt das aber nicht immer.
Aber, ich bin jetzt auch nicht der große Filmkomponist, das ist nur meine Meinung.
Die Verbindung zwischen einem Film und dem Soundtrack ist jedenfalls eine hohe Kunst. Man muss die richtige Balance finden, eine Balance, wo der Soundtrack den Film zu einem erstaunlichen, bewegenden Film macht.
Zu Beginn des "Man with a Movie Camera" sehen wir, wie Menschen einen Kinosaal betreten. Sie haben sich alle gut angezogen, weil sie Kino damals als Kunst verstanden haben. Heute zieht eigentlich niemand mehr den guten Anzug an, wenn er ins Kino geht, weil eben heute auch die wenigsten Filme etwas mit Kunst zu tun haben.
Swinscoe: Da stimme ich dir zu. Film ist heute meistens nur ein Produkt, ein Weg, viel Geld in kurzer Zeit zu verdienen. Hollywood gibt für einen Film viele Millionen aus. Um dann noch mehr als diese Millionen wieder reinzuholen, müssen sie aus dem Film ein simples Erlebnis für den Zuschauer machen, der in das Kino reingeht, den Film guckt und wieder raus. Sicher, es wäre schön, wenn die Leute das Kino wieder mehr als Ereignis begreifen würden.
Was für Filme schaust du?
Swinscoe: Nun, seitdem wir mit dem Cinematic Orchestra angefangen haben, "The Man with a Movie Camera" live zu vertonen gehe ich auch selber sehr gerne auf solche Veranstaltungen, wo die Musik zu einem Film live gespielt wird, das ist dann für mich auch ein Ereignis, wo ich merke, hier bekomme ich etwas geboten, das Ergebnis von kreativer, ehrlicher Arbeit.
In Deutschland gibt es eigentlich in jeder Großstadt mindestens zwei bis drei Multiplex-Kinos mit sehr vielen Kinosälen, deren Kapazitäten aber nur selten ausgelastet sind. Meinst du, man könnte in dieser Art von Kinos solche Live-Experimente wagen, auch um diese einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Swinscoe: Also, ich finde, diese Multiplexkinos haben eine sehr kalte Atmosphäre, die es glaube ich nicht zulassen würde, dass man über die Live-Musik eine intime Verbindung des Zuschauers mit den Bildern aufbaut. Es wäre natürlich interessant, mit einem Projekt wie "Man with the Movie Camera" in diese Kinos reinzugehen und damit den kunstfreien Mainstream zu brechen.
Man würde sich dann auch einem guten Soundsystem bedienen können, mit dem solche Multiplex-Kinos ja ausgestattet sind.
Swinscoe: Sicher, das wäre mal eine interessante Erfahrung, mit so einem Surround-Sound-System zu arbeiten, das ja die Kinoerfahrung versucht, realer zu machen. Live-Musik an sich ist ja auch so ein Versuch, dass man den Film für die Zuschauer noch erfahrbarer macht. In den 70ern hat man das zum Beispiel mit diesen 3D-Brillen versucht, den Leuten das Gefühl zu geben, als wären sie wirklich in diesem Film. In den USA gab es dann glaube ich auch Kinos, in denen die Sitze sich bewegt haben, wenn im Film etwas besonderes passierte.
Mit der heutigen Kino-Technologie zu arbeiten, das wäre natürlich super. Das würde den Leuten auch Spaß machen, das wäre anders als nur die Kinokarte zu kaufen und nach dem Film nach Hause zu gehen.
Ich glaube auch, wenn sich mal ein großer Entertainment-Konzern wie zum Beispiel Warner mit so einem Konzept beschäftigen würde, dann würde das denen bestimmt eine Menge Respekt einbringen.
Ihr veröffentlicht eure Version des "Man with a Movie Camera" nun auch auf DVD. Siehst du dieses Medium als zukunftsweisend?
Swinscoe: Ja, ich denke, in vielleicht fünf Jahren wird die DVD die CD abgelöst haben, einfach aufgrund der vielen Vorteile, die der enorme Speicherplatz bietet.
Werden dann deiner Meinung nach mehr Musiker sich neben ihren Musikvideos mit visuellen Medien befassen?
Swinscoe: Ich denke, für die großen Plattenfirmen ist das Video-Format vor allem ein Marketing-Tool. Aber für kleinere Bands bei kleinen Independent-Labels, die vielleicht gar keine Musikvideos produzieren, wird das bedeuten, dass sie sich viel eher mit einer Visualisierung ihrer Ideen beschäftigen werden, als es heute der Fall ist.
Seit Beginn ist das Cinematic Orchestra bei Ninjatune unter Vertrag — haben dir denn schon andere Plattenfirmen Vertragsangebote gemacht?
Swinscoe: Ja, und ich muss sagen, es ist natürlich schön, gefragt zu werden, was ja bedeutet, dass die Musik, die wir machen, gewürdigt wird, eben wenn andere Plattenfirmen sagen, dass sie unsere Musik veröffentlichen wollen. Im Moment sind wir aber ganz froh mit Ninjatune. Mein Vertrag mit Ninjatune läuft allerdings mit dem nächsten Album aus. Aber ich denke, wenn da die Zusammenarbeit mit Ninjatune so gut läuft wie bisher, werde ich bei dieser Plattenfirma bleiben.
Bevor wir zum Schluss kommen: welche Rolle spielt für dich Jazz beim Cinematic Orchestra?
Swinscoe: Besonders beim ersten Album "Motion" spielte Jazz eine große Rolle. Unser letztes Album "Every Day" hatte da eigentlich schon weniger mit Jazz zu tun, obwohl bestimmte Elemente geblieben sind. Für mich ist Jazz auch eine Einstellung, wie man eben Musik macht. Es geht darum, kreativ zu sein, zu improvisieren, zu spielen, aufeinander zu reagieren, mit dem Publikum zu kommunizieren. Mir geht es da weniger um Jazz als eine Stilrichtung. In der Geschichte des Jazz gibt es so viele unterschiedliche Richtungen, aber die Musiker haben gemeinsam, dass sie auf der Suche nach neuen Klängen sind, dass sie viel experimentieren.
Unsere Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic — welche Figur bist du?
Swinscoe: Das ist ganz einfach: Ich bin keine Comicfigur. Ich bin der Zeichner.