Corinna Harfouch: Sie haben eine Kamera dabei? Wollen Sie filmen?
Nein, ich nehme nur unser Gespräch auf. Kein Bild, nur Ton.
Harfouch: Ach so, dann ist ja gut.
Unvorbereitet gefilmt zu werden wäre unangenehm?
Harfouch: Für mich schon. Ich verbinde das natürlich sofort mit meinem Beruf. Ich bin nicht der fröhliche Laie, der sagt: Oh ja, halt mal druff! (lacht)
Wer einmal Schauspielerin geworden ist, kann sich nicht mehr unschuldig filmen lassen?
Harfouch: Das sowieso. Fotos sind noch schlimmer.
Gilt das auch für private Schnappschüsse und Familienbilder?
Harfouch: Das geht natürlich. Obwohl, auch nur begrenzt… Man guckt dann schon mal, wie das Licht steht und so. Aber das geht. Ich kenne aber auch andere Leute, die sich nicht gerne fotografieren lassen.
Beschränken wir uns also auf das Wort und beginnen das Interview. Ich weiß nicht, ob Sie das schon gehört haben, aber die CDU/FDP möchte gern Alkohol verbieten, beziehungsweise so hoch besteuern, dass der Konsum stark zurück geht. Was sagen Sie dazu?
Harfouch: WAS? Das ist doch nicht wahr… Das wollen die? Ist es denn so schlimm in Deutschland?
Zugegeben, das war gelogen. Die CDU/FDP hat nichts dergleichen vor. Aber es gibt ja viele Länder, in denen Alkohol so teuer ist, dass sich die Menschen in Schwarzbrennerei flüchten. Was wäre Deutschland ohne Alkohol?
Harfouch: (Lacht) Das ist an sich unvorstellbar, oder? Ich stelle es mir dann noch grauenhafter vor, als es unter uns gesagt, hier sowieso schon manchmal ist, was die Langeweile und so betrifft. Ich habe vor kurzem in den Reisebüchern von Michel de Montaigne gelesen, wie er im 16. Jahrhundert die Deutschen beschrieben hat. Das ist wirklich deprimierend. Es hat sich in unserem Wesen wirklich überhaupt nichts geändert. Zwar kommt es einem so vor, als wäre es nicht mehr ganz so schlimm, als wären wir ein bisschen freier geworden, aber so generell hat sich nicht viel geändert. Da fragt man sich doch: Was haben wir da für ein furchtbar schlimmes Schicksal zu erleiden, warum sind wir denn so?
Wie sind wir denn?
Harfouch: Wir machen es uns selbst so schwer in diesem Leben. Deshalb bin ich ja so sehr für Vermischung und so weiter, dass das mal aufhört. Ich habe neulich auf einer Veranstaltung „Die kleine Meerjungfrau“ gelesen, dazu hat eine japanische Pianistin Edvard Grieg gespielt. Da war ein Amerikaner im Publikum der sagte: Jemand liest etwas ganz Ernstes und alle sind total ergriffen. So stellt man sich in Amerika deutsche Abendunterhaltung vor. Er sagte: jetzt sehe ich, das ist ja tatsächlich so! (lacht)
Wer immer strebend sich bemüht wird erlöst, heißt es bei Goethe. Das heißt, wir Deutschen erstarren in der Mühe, alles richtig zu machen, sind nicht erlösbare Kopfmenschen, die zum Ausgleich einmal im Jahr Karneval oder das Oktoberfest feiern?
Harfouch: Ja, einmal im Jahr so richtig auf die Kanne hauen – sonst wäre die eigene Schwere ja nicht zu ertragen. (lacht)
Klingt fast zu schrecklich, um wahr zu sein.
Harfouch: Ich weiß auch nicht. (seufzt) Wir sind ja nicht nur geschlagen durch dieses unterschiedliche Wetter, nein, wir müssen auch dieses deutsche Wesen… Also deswegen wäre es ohne Alkohol… Also jetzt mal ohne Spaß: Sicher kennt jeder von uns irgendwelche schrecklichen Fälle und Ausuferungen was Alkohol betrifft, ich kenne sie bei Gott. Aber ganz ohne Alkohol wäre dieses Leben doch unvorstellbar.
Ich komme auf dieses Thema weil in Ihrem neuen Film „This Is Love“ das Trinken eine beiläufige aber wichtige Rolle spielt. Sie spielen eine Polizistin, die einerseits privat keinen Abend nüchtern erträgt, aber andererseits erst dadurch zu einem Verdächtigen die nötige Nähe herstellen kann, um eine lebenswichtige Aussage zu bekommen.
Harfouch: Dass sie auch im Dienst trinkt, ist eher eine Ausnahme. Nachdem Ihr Mann sie ohne ein Wort der Erklärung verlassen hatte, legte sie sich einen Gleichmut zu, mit dem sie überleben konnte. Sie hat beschlossen, lieber gar nichts zu empfinden, als die Hölle zu erleben, die sie hinter ihren Gefühlen erwartet. Im Verhör mit diesem fremden Mann spürt sie sich selbst als lebend, weil sie ihn versteht. Er ist noch verschlossener als sie und sie spürt, dass sie mehr über ihn weiß, als er preis geben möchte. In so einer Situation fühlt man sich selbst lebendiger und wacher.
Sie trinkt dann weil Sie die Intensität ihrer Gefühle sonst gar nicht ertragen würde?
Harfouch: Ja. Für den Moment scheint das nötig zu sein.
„This Is Love“ beschreibt Momente, in denen man das Leben einfach nicht mehr ertragen kann. Dieser Moment wird durch das Trinken anscheinend ein bisschen weiter nach hinten geschoben.
Harfouch: Ja. Wir wissen alle, dass das ein Trugschluss ist. Irgendwann wird man wieder nüchtern und muss nachkippen oder halt wahrnehmen und aushalten, was einen fertig macht. Alkohol verschafft einem eine Auszeit, eine Flucht, eine gute Zeit.
Ich möchte etwas anderes zum Film fragen. Jens, der Mann, den Ihre Kommissarin verhört, hat es sich zur Aufgabe gemacht, minderjährige Mädchen im Vietnam aus der Rotlicht-Mafia freizukaufen. Was hat Sie an dieser Geschichte gereizt?
Harfouch: Beim ersten Lesen des Drehbuchs hatte ich Mühe zu verstehen, was da passiert. Die Erzähltechnik ist verwirrend, hält einen aber auch in Spannung. Man sieht immer nur winzige Ausschnitte der einzelnen Geschichten, wie zufällig. Man ist als Mensch wohl so eingerichtet, dass man sich dann trotzdem ständig ein Urteil bildet. Dabei sollte man das gar nicht, weil man jeweils nur einen winzigen Ausschnitt vom Geschehen wahrnimmt.
Der Zwang zur Wertung macht einen unfrei?
Harfouch: Ja, genau. Wenn man völlig haltungslos ist, ist das auch ein Problem. Aber zu werten hat nichts mit Haltung zu tun. Eine Haltung findet man in sich, in dem man versucht, sich selber zu verstehen und versucht, aus seiner eigenen Individualität heraus Entscheidungen zu treffen. Das sollte nichts mit ständiger Wertung und Bewertungen zu tun haben. Bewertung bedeuten ja, dass man etwas von sich weist, einen riesengroßen Zaun um sich baut, damit man bloß nicht belästigt und angegriffen wird.
Jens, der von dem dänischen Schauspieler Jens Albinus gespielt wird, will allerdings, in dem er sich um vietnamesische Mädchen kümmert, auch seine pädophile Neigung kompensieren. Wer einen Pädophilen zum Helden seines Films macht, betritt einen schmalen Grad.
Harfouch: Bemerkenswert an ihm ist ja nicht, dass er pädophil ist, sondern wie er versucht, gegen seine unselige Leidenschaft anzugehen. Er will ja niemanden verletzen. Er hat sein Leben für sich schon so erfunden, dass er in der Nähe der Menschen leben kann, die er liebt aber gleichzeitig geht er sehr bewusst gegen sein Schicksal an.
Eine Haltung findet man in sich, in dem man versucht, sich selber zu verstehen und versucht, aus seiner eigenen Individualität heraus Entscheidungen zu treffen.
Der Film heißt zwar „This Is Love“, handelt aber von vielem, nur nicht von glücklicher Liebe.
Harfouch: Ja, es geht um Einsamkeit, um ein völliges Unbehaustsein. Es gibt keine Heimat, keine Sicherheiten, nirgendwo. Obwohl ich den Film mittlerweile gut kenne, verunsichert er mich immer noch. Ich nehme ihn jedes Mal ganz unterschiedlich war. Er macht mich auch sauer, empört und wütend und manchmal bin ich so unendlich berührt, gerührt von Jens Qualen, wenn er durchs Leben zieht mit seinen großen Schuhen, seinen dünnen Beinchen, mit seiner schmalen Gestalt.
Dieser Jens freundet sich mit einem der geretteten Mädchen an, zieht mit ihr in eine gemeinsame Wohnung. Den latente Rassismus, der dieser WG entgegen schlägt kennt man doch von sich selbst. Wenn man etwa in der S-Bahn ein Pärchen sieht: er etwas älter, sieht deutsch aus, etwas ungepflegt und sie eine jüngere Asiatin – dann schießt einem doch sofort durch den Kopf: das ist kein normales Paar, da hat sich doch einer seine Frau aus dem Katalog bestellt. Ob dieser Verdacht zutrifft oder nicht, er ist doch eigentlich ungerecht.
Harfouch: Total. Ich kann mich genau an einen ähnlichen Moment in der Straßenbahn erinnern, der schon einige Jahre zurück liegt. Dazu muss ich sagen: Ich komme aus dem Osten, ich bin im Zeichen der internationalen Solidarität erzogen worden. (lacht) Ich hatte Ideale.
Was bedeutete eigentlich diese „internationale Solidarität“?
Harfouch: Ich bin so erzogen worden, dass jeder Ausländer ein guter Mensch ist, besonders Schwarze, weil die so unterdrückt sind. Und Unterdrückte sind alle gut. Entschuldigung, aber so primitiv war das damals. Da drunter aber verbirgt sich irgendwas, das man von sich eigentlich gar nicht wissen möchte. Also wie gesagt, das ist schon recht lange her, war also nicht jetzt, wo man sich bemüht, noch differenzierter zu denken, sein völlig gestanztes Empfinden irgendwie zu durchlöchern und Luft dran zu lassen.
Sie waren in der Straßenbahn.
Harfouch: Genau. Ich fahre da lang und sehe so in Augenhöhe einen Schwarzen. Dazu muss ich sagen, ich selber habe einen arabischen Mann gehabt, habe teilweise mit ihm im Ausländerwohnheim gewohnt. Ich bin nicht irgendwie aus dem Dorf plötzlich in die Großstadt gekommen. Dieser schwarze Mann war jedenfalls mit einem blonden Mädchen unterwegs. Stunden später fiel mir auf, dass ich sofort und blitzartig gedacht habe: „Naja, muss das sein?“ So eine Reaktion ist doch total irre.
Ist das eine anerzogene Angst vor dem vermeintlich Fremden?
Harfouch: Ich weiß es nicht. Als aufgeklärter Mensch will man das doch von sich auf keinen Fall. Aber ich habe eben so reagiert. Und das einzige, was dagegen hilft ist, sich ständig mit Geschichten voll zu stopfen, die einem fremd sind, sie sich zu eigen machen, sich an dieser Fremdheit abzuarbeiten. Man muss sich mit den Dingen beschäftigen, die einem fremd sind, damit die einen irgendwie anders erreichen, etwas in einem platzieren, das anders ist, als das Material aus dem man offenbar auch besteht.
Das eigene Material ist sozusagen noch nicht angepasst an die Wirklichkeit? Man muss sich selbst helfen, sich weiter zu entwickeln?
Harfouch: Dafür ist dieser Film meiner Ansicht nach unter anderem da. Er ist kein Schulfilm aber er konfrontiert einen mit etwas, das extrem subjektiv ist, er zwingt einen in die Auseinandersetzung. Das ist die einzige Chance überhaupt, für die Kunst und für die Verständigung zwischen den Menschen.
Sie sprachen von Idealen, die Sie hatten. Welche Ideale sind Ihnen geblieben?
Harfouch: Ich weiß auch nicht, ich würde gerne mal diese fantastische Nudelsuppe nachkochen, die meine Oma immer gekocht hat. Das will mir nicht gelingen, auch ihr Rührkuchen nicht. Obwohl ich wirklich eine gute Köchin bin. (lacht) Aber ansonsten… Ich hab irgendwie mitgekriegt, dass das mit den Idealen auch ein bisschen überflüssig ist. Aber ich habe ein Ideal, das mich betrifft, ich möchte versuchen – ganz ernsthaft – ich möchte ein guter Mensch werden. Das ist mein Ziel.
Wie Jack Nicholson…
Harfouch: Ja?
Vielmehr spielte er in dem Film „Besser geht’s nicht“ einen neurotischen Grantler, der zu der Frau, mit der er verabredet ist schließlich sagt: „Ihretwegen will ich ein besserer Mensch sein.“
Harfouch: Aus diesem Blickwinkel heraus betrachte ich mich manchmal. Dann gibt’s Zeiten, wo ich in der Beziehung zufriedener mit mir bin, und manchmal… da fehlen mir dann die Worte.
Wann ist man denn ein guter Mensch?
Harfouch: Naja, ich stelle mir etwas ganz bestimmtes darunter vor. Ich möchte das jetzt nicht aufzählen.
Ein oder zwei Sachen könnten Sie verraten.
Harfouch: Ach ne. Ich habe mir auch einmal öffentlich vorgenommen, mit 40 keine Schauspielerin mehr zu sein. Furchtbar peinlich sowas. Ich bin 55 und immer noch Schauspielerin.
Aus welchem Grund haben Sie das damals gesagt?
Harfouch: Weil ich dachte, das mache ich tatsächlich. Das war ja pure Angst, dass man vielleicht nicht mehr gefragt wird, dass es einem vielleicht keinen Spaß mehr macht. Mit 35 dachte ich mal so.
Haben Sie an Ihrem Beruf generell gezweifelt?
Harfouch: Nein. Aber an mir. Ich habe mich gefragt, ob ich das weiterhin noch so gerne machen werde, wie es bis dahin immer der Fall gewesen war.
Das heißt, diese Zweifel sind 15-20 Jahre her. Dann trat Matthias Glasner, der Regisseur von „This Is Love“ in Ihr Leben, mit dem Sie damals einen seiner ersten Filme „Sexy Sadie“ gemacht haben.
Harfouch: Und da war die Sache dann gelaufen. (lacht) Ich würde mich in meinem Beruf jetzt zumindest nicht mehr zeitmäßig begrenzen.
Sie haben mehr als zwei Filme mit Glasner gemacht. Was bindet Sie aneinander? Ein gemeinsames Bedürfnis nach Radikalität?
Harfouch: Von meiner Seite aus kann ich sagen: er gibt mir jegliche Freiheit, er gibt mir auch den Blick frei, es gibt einfach überhaupt keine Grenze, weder im Thema noch im Spiel. Dann sind wir uns auch im Denken sehr nahe und haben einfach Freude aneinander.
Im Januar startet der Film „13 Semester“ in den Kinos. Haben Sie ihn schon gesehen?
Harfouch: Nein, aber da spielt mein Sohn mit.
Registrieren Sie bei Robert Gwisdek, Ihrem Sohn, ein anderes Verhältnis zu Ihrem Beruf?
Harfouch: Auf jeden Fall.
Liegt das an einer anderen Generation oder an ihm als Typ?
Harfouch: Ich kann über Generationen nichts sagen. Aber Robert kann sehr viel mehr als ich, schreiben zum Beispiel oder Möbel bauen. Der macht so viele verschiedene Sachen und will sich diese Art von Freiheit auch bewahren. Das Schauspielen ist nicht sein Leben obwohl er es trotzdem auf sehr ernsthafte Weise tut. Ich sehe das mit großer Bewunderung und Freude.
Können Sie sich davon was abgucken?
Harfouch: Wir sind zumindest im erfreulichen und fast täglichen Gespräch. Da hoffe ich, dass man sich gegenseitig etwas abguckt.
Sich nicht mehr nur auf eine Tätigkeit zu konzentrieren gilt als Zeichen der Moderne, der globalisierten Welt. Die hat im Sinne einer Horizonterweiterung, die sie vorhin erwähnten, ja fast nur Vorteile. Sich mit dem Unbekannten, dem Fremden zu konfrontieren war noch nie so einfach wie heute.
Harfouch: Aber weil die Welt so riesengroß ist, ist das gleichzeitig auch sehr schwer. Der Mensch braucht auch einen gewissen Halt. Er braucht irgendwo eine Grenze, sonst kriegt er zu viel Angst, Angst, in einem riesigen Nichts zu verschwinden, wo sich alles gegenseitig nivelliert und nichts mehr irgendeine Art von Bedeutung hat. In der grenzenlosen Möglichkeiten, die da jetzt existieren liegt auch eine große Gefahr. Meine beiden Kinder machen auch Musik. Ich sage immer: Kastanienallee 1-4 hört diese Musik, die Nummer 5 und 6 hört schon wieder etwas völlig anderes. Und die kennen sich gegenseitig gar nicht. Die Welten werden immer kleiner und definierter, je größer die Möglichkeiten werden.
Wo können Sie sich festhalten, woher holen Sie Ihre Kraft?
Harfouch: Ich ziehe mich zurück, mit immer größerer Freude. Mit mir zu sein, das gibt mir Kraft.
Internationale Solidarität
Wenn in der DDR jeder nach dem Prinzip der Internationalen Solidarität erzogen wurde, nach der jeder Ausländer gut ist, woher kommt dann die extrem auffällige und manchmal ins Extreme tendierende Ausländerfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern heute?