Herr Littmann, lassen Sie uns zu Beginn auf die WM zurückschauen: die Öffentlichkeit war vor der WM sehr angespannt, in den Schlagzeilen tauchten „No-Go-Areas“ auf, es wurde befürchtet, dass rechtsextreme Fans die WM-Stimmung trüben könnten. Hatten Sie diese Bedenken auch?
Littmann: Vor der WM hatte ich mehr Bedenken als nach der WM. Das Phänomen des Rechtsradikalismus im Fußball ist aber nicht mit der WM verschwunden, da soll man sich keine Illusionen machen. Die WM hat sich erfreulicherweise anders entwickelt als es viele befürchtet haben. Sie ist für viele zu einer großen Party geworden – im übrigen auch für viele Nicht-Fußballfans. Der Fußball selber hat neue Freunde gewonnen. Nichts desto trotz, das Phänomen des Rechtsradikalismus im Fußball wird wieder in der neuen Saison punktuell hier und dort auftauchen und darf nicht vergessen werden.
Und wie empfinden Sie das durch die WM erweckte neue Nationalgefühl?
Littmann: Man muss natürlich sagen, dass die nationalen Empfindungen, die emotional geweckt wurden, nicht nur eine Chance beinhalten, dass das Land voran kommt und ein positives kollektives Gefühl entsteht. Solch eine Entwicklung birgt auch immer ein Risiko. Es wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen, wohin wir uns entwickeln.
Waren es Ihnen denn irgendwann zu viele deutsche Flaggen auf Hamburgs Straßen?
Littmann: Es gibt eine gewisse Inflation. Wenn ich ein Auto mit einer Deutschlandflagge sehe, dann ist mir das nicht zuviel. Ich habe auch Autos mit zwanzig Deutschlandflaggen gesehen – das muss nicht sein. Aber bei solchen Großereignissen gibt es nun mal immer Auswüchse, die Kopfschütteln provozieren.
Ist es allein die WM gewesen, die in Deutschland diese große Fußball-Faszination ausgelöst hat?
Littmann: Ich glaube bei der Weltmeisterschaft ist etwas sichtbar geworden, was es ohnehin im deutschen Fußball schon länger in der Tendenz gibt, ohne dass es benannt worden ist. Fußball wird mehr und mehr zu einem Event, wo das eigentliche Spiel in den Hintergrund tritt. Die Stadien werden immer voller, obwohl es immer bessere und aktuellere Fernsehbilder gibt. Zweifelsohne kann man jedes Spiel besser im Fernsehen verfolgen als in einem Stadion. Aber gerade die neu gebauten Stadien sind voller denn je. Dieser Trend hat sich bei der Fußballweltmeisterschaft fortgesetzt.
Während der WM waren auch die Fan-Feste in den Städten gut besucht. Überall saßen die Menschen in Bars und Restaurants zusammen und verfolgten die Spiele …
Littmann: Wir haben es ja hier auf der Reeperbahn beobachtet. Da haben Menschen vor einem kleinen Bildschirm gesessen, auf denen man das Spiel wahrlich nicht gut verfolgen konnte, aber das gemeinsame Erlebnis, Fußball im Moment – also auch via Bildschirm – zu erleben, dieses Bedürfnis ist offensichtlich sehr groß.
Die Menschen suchen also zunehmend Unterhaltung und Geselligkeit beim Fußball?
Littmann: Für das gemeinschaftliche Erlebnis wird vieles in Kauf genommen, was für den Fußballfan und Fußballexperten eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Also, sich 15 Meter von einem normalen Fernsehgerät entfernt hinzusetzen und eigentlich ein Spiel kaum noch verfolgen zu können, ist eigentlich völlig irrational. Aber das in einer Gemeinschaft zu erleben, das gewinnt zunehmend an Wichtigkeit in einer Gesellschaft, in der Vereinzelung ein großes Problem ist. Die Menschen suchen die Gemeinsamkeit und sie suchen etwas, was sie verstehen können. Es gibt viele Fragen, die Menschen nicht mehr verstehen können. Wer kann einem eine Gesundheitsreform erklären? Oder die Fragen der Globalisierung der Welt. Wer kapiert das alles noch? Fußball kann man sehr schnell verstehen und kann man schnell gemeinsam erleben. Dazu muss man nicht Experte sein. Das Spiel ist einfach nachzuvollziehen und die Identifikation mit der Mannschaft ist im Erfolg besonders leicht herstellbar.
Die Deutschen waren nicht nur ein guter Gastgeber, die WM war für das deutsche Fußball-Team mit dem dritten Platz ein Erfolg. Generell gefragt: Ist Erfolg im Fußball durch Training und gründliche Vorbereitung planbar?
Littmann: Naja, Fußball ist natürlich auch abhängig von der Zufälligkeit des Erfolges. Ob man ein Spiel 1:0 gewinnt oder durch Elfmeterschiessen gewinnt ist ja nicht nur das Handwerk sondern auch Glück oder Zufall. Man soll sich ja nichts in die Tasche lügen. Das funktioniert einmal, dass Lehmann einen Spickzettel hervorholt und zwei Elfer hält. Aber der konnte genau so gut daneben greifen. Das ist von Zufällen abhängig und korreliert auch mit den Emotionen.
Sie haben einmal gesagt, sie hätten von Fußball keine Ahnung. Und Sie sehen im Fußball eine Tendenz zum Event-Charakter. Sind Sie als Theaterunternehmer deshalb Präsident des FC. St. Pauli geworden?
Littmann: Nein. Ich habe das ja bewusst in meiner Funktion als Präsident gesagt, dass ich von Fußball keine Ahnung habe. Das habe ich auch deshalb sehr bewusst getan, weil ich es für fatal halte, dass Präsidenten von Fußball-Vereinen zunehmend in das operative Geschäft des Trainers eingreifen. Dieses Phänomen ist in Italien und Spanien noch viel gravierender. Verantwortlichkeiten sind oft nicht definiert, der Präsident behält sich vor, den Spieler A oder B zu verpflichten oder zu entlassen. In Italien und Spanien sind die Fußballvereine keine Vereine mehr im üblichen Sinne, wie wir es hier noch kennen, sondern sind längst schon Unternehmen, die Eigentümer haben. Diese Eigentümer bestimmen bis ins letzte Detail das Unternehmensgeschehen. Es gibt genug Präsidenten, die sich auf die Trainerbank setzen und bestimmen, welche Spieler ein- und ausgewechselt werden, weil sie glauben, mehr Kompetenz zu besitzen als der Trainer. Ich glaube das kann nicht funktionieren.
Ich glaube, ein Fußballverein kann nur dann erfolgreich sein – und das gilt für den FC St. Pauli insbesondere – wenn die Verantwortlichkeiten klar definiert sind. Deshalb habe ich gesagt, ich habe von Fußball keine Ahnung, was bedeuten soll, dass ich mich nicht in die Geschäfte des Trainers einmische. Der Sportchef hat eben seine Aufgabe und Verantwortlichkeit und der Präsident hat andere Aufgaben und Verantwortlichkeiten.
Ist Ihre Aufgabe als Präsident die Marke „FC St. Pauli“ weiter zu entwickeln?
Littmann: Es geht nicht nur um eine Marke. Es geht um einen Verein, der 6.000 Mitglieder hat, der große Amateurabteilungen hat – auch außerhalb des Fußballs. Es geht um einen Verein, der eine wichtige soziale Funktion im Stadtteil St. Pauli und überhaupt in Hamburg hat. Es geht also in erster Linie nicht nur um die Vermarktung des Vereins. Wenn sie so wollen ist ein Präsident schon imageprägend, weil er den Verein nach außen hin repräsentiert. Aber er vermarktet den Verein nicht. Der Präsident ist ein Teil des Bildes, was der Verein nach außen darstellt.
Für was steht die Marke „FC St. Pauli“ im Fußball?
Littmann: Der FC St. Pauli wird zu Recht als der „andere“ Verein in Deutschland angesehen. Als ein besonderer Verein gesehen. Besonders machen ihn verschiedene Faktoren. Das eine ist das entschiedene Eintreten für Antifaschismus und Antirassismus. Hier spielt der FC St. Pauli schon seit etlichen Jahren eine Vorreiterrolle im deutschen Fußball. Das ist das gesamte Thema rund um Stadionverbote für Rechtsradikale, um die Auseinandersetzung mit Hooligans und mit Gewalt im Stadion. Da hat der FC St. Pauli schon frühzeitig deutlich gemacht, wo er steht und das mit einer Deutlichkeit, wie es kaum ein anderer Verein gemacht hat in Deutschland.
Der Verein ist aber auch das, was sich der Einzelne darunter vorstellt. Das heißt, es gibt auch die Projektionsfläche „FC St. Pauli“, wo jeder sich das nimmt, das holt, was er darunter versteht. Es gibt eine große Gemeinsamkeit, es gibt einen Grundkonsens, aber darüber hinaus auch für jeden Einzelnen die Möglichkeit für unterschiedliche, persönliche Zugänge zum Verein.
Den Status des „besonderen Vereins“ verdient St. Pauli auch im Hinblick auf die Fans?
Littmann: Unsere Fans gelten zu Recht als ausgesprochen kreativ und phantasievoll. Vieles von dem, was wir im Stadion zur Zeit der WM in Form von Sprechchören hören, hat seine Wurzeln beim FC St. Pauli. Unsere Fans gelten als duldsam, auch in dem Sinne, dass sie trotz eines Abstieges dem Verein als Zuschauer die Treue halten. Die Zuschauerzahlen, die wir jetzt in der 3. Liga haben sind schon fast abnormal. Das sind Zweitliga-Verhältnisse in der Spitze. Also, wir haben ein sehr treues, ein sehr phantasievolles und politisch bewusstes Fanpublikum bei uns. vWenn jemand zum Beispiel aus politischer Motivation beim FC St. Pauli Mitglied werden möchte, dann ist das in Ordnung?
Littmann: Erst mal ist jedes fördernde Mitglied mit seinem Mitgliedsbeitrag in Ordnung. Umgekehrt wird ja ein Schuh daraus: Inwieweit soll denn Politik im allgemeinen Verständnis überhaupt gemacht werden innerhalb des Vereins? Das ist natürlich auch mitunter ein Konfliktpunkt. Die Vereinsführung ist der Meinung, dass Fußball mit Tagespolitik nichts zu tun hat und nichts zu tun haben sollte.
Ein Fußballverein sollte sich energisch für die Grundrechte einsetzen – das auch demonstrativ – aber nicht zu tagespolitischen Anlässen Stellung nehmen. Ein simples Beispiel: der FC St. Pauli wird niemals einen Wahlaufruf oder –Boykott verabschieden, obwohl ich mir vorstellen kann, dass der eine oder andere Fan das vielleicht ganz gerne hätte. Das wird der Verein aber niemals machen, das ist nicht die Aufgabe des Vereins.
Wie schwer ist es denn bestimmte Werte im harten Fußballgeschäft aufrecht zu erhalten? Würde man sich zum Beispiel dagegen sperren, dass Millerntor-Stadion nach einem zahlungsfreudigen Sponsor zu benennen? Die Fans würden das wahrscheinlich nicht so gern sehen.
Littmann: Es gibt unter der Mehrheit der Fans Einsicht dafür, dass der FC St. Pauli nicht die Insel der Glückseeligen ist. Der Zwang zur Wirtschaftlichkeit eines Fußballunternehmens ist allen klar, es geht darum: Wie setzt man das alles praktisch um? Ohne jetzt Namen zu nennen kann ich sagen, bestimmte Sponsoren als Namensgeber eines Stadions kämen weder für die Fans noch für die Vereinsführung in Frage. Das muss zueinander passen und hier speziell zu der Besonderheit des FC St. Pauli. Ein Extrembeispiel ist Red Bull als Sponsor für Salzburg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Red Bull wirklich einen Gefallen damit getan hat, sich in der Form dort zu engagieren. Das sind subtile Fragen, die muss man mit Fingerspitzengefühl lösen; auch unter Einbeziehung der Fans.
Der Fußballsport verändert sich also: Fußballspiele werden zu Events und Vereine denken wie Aktiengesellschaften.
Littmann: Was aber viel interessanter ist als Phänomen, ist die Entwicklung der Sportberichterstattung. Die wird immer mehr zu einer Boulevard-Berichterstattung. Die Medien berichten nicht nur darüber, wie ein Spieler sein Handwerk beherrscht, sondern es wird zunehmend darüber berichtet, wie er halbnackt aussieht, was für eine Freundin er hat und ob er seine Frau betrügt. Also alles Fragen, die mit Fußball nichts mehr zu tun haben. Die rücken immer mehr in den Vordergrund. Der Fußball wird mehr und mehr zu einer Projektionsfläche für Boulevard und banale Society-Themen, die nichts mit dem Sport zu tun haben. Damit ist der Fußballsport in die Mitte der Gesellschaft gerückt, wie es vielen Fußballspielern – zu recht – nicht lieb ist.
Die Spieler werden zu Medienpersönlichkeiten.
Littmann: Ja, der Fußballer wird über die Tatsache, dass er ein erfolgreicher Fußballer ist, zu einer öffentlichen Person. Das ist eine Entwicklung. Man bemerkt die Unterschiede in den Interviews mit den Fußballspielern. Ein Gespräch verläuft anders mit einem Spieler, der erfahren und mediengeschult ist als mit jemandem, der noch ganz frisch im Gewerbe ist.
Ein Interview mit Lukas Podolski zum Beispiel hat ja nicht nur einen humoristischen Reiz, sondern ist auch deshalb erfrischend, weil das nicht so gelackt abgeht, wie bei den Anderen. Das wird sich natürlich in den nächsten Jahren ändern, der wird in fünf Jahren anders reden.
Die Topspieler der Zukunft müssen also auch gute Schauspieler sein?
Littmann: Ich habe von Berufswegen einen großen Respekt vor Schauspielern, zumal ich selber auf der Buhne stehe. Ich mache da einen Unterschied zwischen einem Schauspieler und einem Fußballer, der es neben dem Spiel beherrscht, dem Schiedsrichter oder dem Gegner etwas vorzugaukeln. Ich glaube nicht, dass der Schauspielunterricht in den Trainingseinheiten unserer Fußballmannschaften Einzug halten wird.
In welchen Kreisen bewegen Sie sich lieber, in dem der Fußballer oder in dem der Schauspieler?
Littmann: Ich bin von Haus aus Künstler und hänge mit vollem Herzen am Theater. Fußball ist eine Leidenschaft, der ich seit Jahrzehnten fröne und in der ich mich Zuhause fühle. Der Beruf ist mir aber näher. Ich habe zwangsläufig mehr mit Schauspielern als mit Fußballspielern zu tun.
Sie sind Intendant zweier Theater, stehen auf der Bühne und dem FC St. Pauli als Präsident vor. Bei so viel Umtriebigkeit kann das Geschäft mit der leichten Unterhaltung manchmal ganz schön schwer werden. Wie schaffen Sie Ihre Arbeit?
Littmann: Das Erste ist abgeben können, delegieren können. Man darf sich nicht überfordern, sondern muss Verantwortung jemandem anderes überlassen. Dazu braucht es gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die genau wissen, wie weit sie eigenverantwortlich tätig werden, und wo es gut und richtig ist, den Chef in die Entscheidung mit einzubeziehen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass die beiden Unternehmen sehr eigenverantwortliche Mitarbeiter haben, ohne dass das Gefühl der Gemeinsamkeit verloren geht und ohne dass das Gefühl von grundsätzlich notwendigen Hierarchien und Weichenstellungen verloren geht. Und im Übrigen ist Arbeit nicht nur Belastung sondern sie macht auch Spaß.
Unsere Schlussfrage lautet: Das Leben ist ein Comic. Welche Figur sind Sie?
Littmann: Da muss ich nachdenken. (lacht) Ich würde sagen, bei Ralf König wird man fündig. Der Rest ist Spekulation.