Denis Scheck

Literatur ist ein Frühwarnsystem.

Der Literaturkritiker Denis Scheck spricht im Interview über seinen jüngst erschienen Kanon, die Trennung von Künstler und Werk, seismologische Fähigkeiten von Dichtern und den Nobelpreis für Peter Handke.

Denis Scheck

© Andreas Hornoff

Herr Scheck, wann hat Literatur zuletzt eine Debatte außerhalb des Feuilletons ausgelöst?
Denis Scheck: Ich glaube, dass alle großen Diskurse der letzten 20 oder 30 Jahre letzten Endes von der Literatur angestoßene Diskurse waren. Denken wir an die Auseinandersetzung um Günter Grass‘ „Was gesagt werden muss“, oder an das Gedicht von Böhmermann über Erdoğan. Denken wir an die Aufregung um das Gedicht „Artikel 3 (3)“ von Alfred Andersch in den 70er Jahren oder an Botho Strauß, an die Auseinandersetzung mit rechter Intelligenz in Deutschland. Was die Fähigkeit der Literatur zur Intervention im gesamtgesellschaftlichen Diskurs angeht ist mir nicht bange. Literatur ist auch heute ein Frühwarnsystem. Es gibt die seismologische Fähigkeit von Dichtern, einen Zeitgeist auf den Punkt zu bringen.

Kanzlerin Angela Merkel hat 2019 zwei Emil Nolde-Bilder in ihrem Büro abgehängt. Der Grund sind die Werte, denen sich der Künstler zur Zeit des Nationalsozialismus verschrieben hatte. Auch ausgezeichnete Autorinnen und Autoren verschreiben sich mitunter fragwürdigen Idealen oder politischen Ideen. Wie gehen Sie damit um?
Scheck: Ich habe aus der Literatur gelernt, dass wir Ambiguitäten aushalten müssen. Das ist vielleicht das Wichtigste, was uns Literatur beibringen kann. Dass wir aufhören, in schwarz und weiß zu denken, dass wir die tausend Graustufen wahrnehmen. Dass wir realisieren, dass man ein glühender Nazi und ein guter Künstler sein kann, wie Emil Nolde beispielsweise. Dass man Antisemit sein kann wie der späte Theodor Fontane und gleichzeitig mit dem „Stechlin“ Weltliteratur schreiben kann. Ezra Pound und Louis-Ferdinand Celine waren abscheuliche Faschisten, richtige Schweine, aber große Schriftsteller. Mao Tse-tung war nach allem, was ich weiß, ein guter Dichter – und verantwortlich für Millionen Tote. Wer das nicht aushält, wer dem Kinderglauben anhängt, dass nur reine Seelen große Kunst hervorbringen können, der ist, glaube ich, für die Kunst verloren.

Braucht es keine Konsequenzen, wenn eine Autorin oder ein Künstler in der Nähe von demokratiefeindlichen Idealen steht?
Scheck: In einer politischen Debatte unbedingt. Nur möchte ich davor warnen, die politische Konsequenz auf den Raum der Ästhetik zu übertragen. Caravaggio ist ein großer Maler und ein Mörder, selbst unter günstigster juristischer Beurteilung vermutlich ein Totschläger. Ich bin nicht dafür, dass man die Werke von Caravaggio aus den Museen abhängt. Was die Kanzlerin in ihrem Büro auf- oder abhängt, das ist ihre Sache. Vielleicht versteht sie das als repräsentativen Akt und sagt: Nein, ich muss mich da den Geboten der Korrektheit unterziehen. Die Arbeit an meinem Kanon hat mich gelehrt, dass die Literaturgeschichte eine Ansammlung von Gaunern, Verbrechern, Unmenschen, Psychopathen, Hurenböcken und Schwindlern ist, Menschen, die ihren Eltern, Lebenspartnern und Kindern Unsägliches angetan und dennoch Weltliteratur geschrieben haben. Ich möchte nicht unbedingt eine WG mit Shakespeare gründen. Ich glaube auch, dass wir uns die gesamte griechische Antike als eine Ansammlung von Päderasten vorstellen müssen. Ich habe keine Ahnung, mit wem Sappho ins Bett ging und wie oft, wer da unterlegen war und so weiter. Es interessiert mich auch nicht sonderlich. Mich interessieren die Texte. Es gibt einen schönen Satz von Arno Schmidt in der Art: Mir ist egal, ob ein Dichter die Jungfrau Maria oder Stalin besingt, Hauptsache, es wird gut gesungen.

Also, zum Teufel mit der Political Correctness?
Scheck: In der Literatur möchte ich darum bitten. In der Arena der Politik würde ich übrigens gar nicht sagen, dass ich etwas gegen politische Korrektheit habe. Wie Hegel trinke auch ich am Jahrestag der französischen Revolution gern ein Glas Champagner. Die Emanzipationsbewegungen, die wir in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten erlebt haben, haben dazu geführt, dass wir die Hälfte der Menschheit neu entdeckt haben, in dem wir realisierten: Es gibt auch Frauen, und es wäre eine gute Idee, wenn wir Frauen Wahlrecht einräumen, Berufsfreiheit, für Gleichberechtigung sorgen und und und. Dann haben wir realisiert, dass Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religion ebenfalls die gleichen Rechte haben sollten. Ich halte die Erklärung der Menschenrechte für eine wunderbare Sache. Wenn wir das unter politischer Korrektheit verstehen, dann habe ich dagegen gar nichts.

Zitiert

Man kann Blödsinn über Jugoslawien reden und dennoch Weltliteratur produzieren.

Denis Scheck

Wann stört Sie Political Correctness?
Scheck: Wenn wir darunter verstehen, dass man aus den Klassikern der Kinder- und Jugendbuchliteratur etwa von Astrid Lindgren oder Otfried Preußler Wörter entfernt, die uns in heutigen Ohren aus guten Gründen anstößig klingen. Ich rede jetzt von Begriffen wie „Zigeuner“ oder „Neger“, die nur Tölpel heute noch verwenden, die keinerlei sprachliche Sensitivität besitzen. Das sind aber Begriffe, die in vergangenen Zeiten normal und alltäglich waren. Da es sich bei den Werken Lindgrens und Preußlers um Kunstwerke handelt, dürfen wir nicht einfach Wörter schwärzen oder durch weniger anstößige ersetzen – das läuft auf das gleiche hinaus, wie wenn man mit einem Farbeimer ins Museum stiefelt und Genitalien übermalt oder was einen sonst stören mag. Das ist barbarisch.

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Scheck: Entweder halten wir diese Texte aus, lassen sie in ihrer historischen Gestalt, machen vielleicht eine Anmerkung oder ein Nachwort, dann können wir Astrid Lindgren und Otfried Preußler weiterlesen. Oder wir halten es nicht aus, dass da „Neger“ oder „Zigeuner“ steht: Dann müssen wir uns Kinderbücher und Erwachsenenromane schreiben, die unseren Werten entsprechen und leider Abschied nehmen von Preußler und Lindgren. Was aber nicht geht, ist, wie das Orwellsche Wahrheitsministerium permanent die Vergangenheit umzuschreiben. Das ist in der Kunst in meinen Augen vollkommener Irrsinn.

Kontrovers diskutiert wurde 2019 der Literaturnobelpreis für Peter Handke. Sie begrüßen die Auszeichnung. Warum?
Scheck: Sein literarisches Werk rechtfertigt diese Auszeichnung – denken Sie nur an „Wunschloses Unglück“, die „Publikumsbeschimpfung“ oder „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“. Handke hat sich in meinen Augen einer schweren politischen Verfehlung zu schulde kommen lassen, mit seiner unsäglichen Haltung im Jugoslawienkrieg. Aber ich freue mich darüber, dass die Akademie erwachsen genug ist – vielleicht auch, weil sie Literatur liest und in Ambiguitäten trainiert ist –, um zu erkennen: Man kann Blödsinn über Jugoslawien reden und schreiben und dennoch Weltliteratur produzieren. Das hat Peter Handke getan und deshalb geht der Preis für mich in Ordnung.

Sie haben kürzlich einen Kanon der „100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ vorgelegt und verweisen im Vorwort auf den überzeitlichen Anspruch jedes Kanons. Dem entgegen gestellt: Was sind 2019 Bücher, die Sie als explizit zeitgemäß empfinden?
Scheck: Ich finde, dass Saša Stanišić zeitgenössische Literatur schreibt. Auch Judith Schalansky hat mit „Verzeichnis einiger Verluste“ ein sehr zeitgemäßes Buch geschrieben, das mich beeindruckt hat. Daniel Kehlmanns „Till“ würde ich noch nennen. Und ich halte Christoph Ransmayr, insbesondere mit seinem historischen Roman „Cox“ für den bedeutendsten Romancier der Gegenwart. Ich hätte kein Problem damit gehabt, wenn der Literaturnobelpreis an Christoph Ransmayr gegangen wäre statt an Peter Handke.

scheck-coverWarum transportieren diese Autorinnen und Autoren für Sie das Zeitgemäße stärker als andere?
Scheck: Das hat etwas mit der Erkenntnis zu tun, dass unser Heute so stark vernetzt ist. Dass unser Leben von einer Drift erfasst ist, von einer Akzeleration, die viele Menschen spüren. Dieses Leben, diese Wirklichkeit erfordert, dass man ihr auch formal im Roman oder in einer Folge von Erzählungen Rechnung trägt. Judith Schalansky löst das in einem brillanten Spiel zwischen Form und Inhalt in ihrem Erzählungsband „Verzeichnis einiger Verluste“. Christoph Ransmayr erzählt über ein Perpetuum mobile, das ewige Leben und über den ‚Herrn der Zeit‘, wie man den chinesischen Kaiser in einem Beinamen nennt. Das ist Nachdenken darüber, wie wir autonom über unser Leben verfügen können, wenn wir den Stürmen der Geschichte ausgeliefert sind.

Sie wählen als unserer Gegenwart gemäß ein Listicle und eine Reflektion über die Zeit…
Scheck: Ja. Es sind aber auch Werke über unser Verhältnis zur Natur. Es ist ja kein Wunder, dass der Trend zum ‚Nature Writing‘ international so groß ist. In Zeiten, in denen wir mehr und mehr Zeit vor Bildschirmen verbringen, gibt es plötzlich das Bedürfnis nach einem Nationalförster namens Peter Wohlleben, der seine Kollegen ‚Baummetzger‘ nennt und statt von Wäldern von ‚Plantagen‘ spricht.

Auf Platz 100 Ihres Best-Offs findet sich die spätantike Philosophin Hypatia, als Symbol für jene, die ungehört bleiben, mundtot gemacht oder ignoriert werden. Wer sollte Ihrer Meinung nach mehr gehört werden?
Scheck: Die Lehre, die in der Geschichte um Hypatia steckt, lautet, dass nicht nur Geschichte von Siegern geschrieben wird, sondern auch Literaturgeschichte. Tyrannen, Despoten und die Mächtigen aller Zeiten haben immer Menschen ausgelöscht und zum Verstummen gebracht. Ich wollte daran erinnern, dass es im Laufe der 3000-jährigen Geschichte der Literatur viele Menschen gegeben hat, die sicher einen großen Beitrag zu unserer Literatur geleistet hätten, wenn sie nur Lesen und Schreiben hätten lernen dürfen. Wenn sie nicht in Gefängnissen verrottet, wenn sie nicht auf Galeeren angebunden, in den Silberminen der Antike hätten schuften müssen. Das war mir wichtig.

Bücher sind auch Waren, jährlich kommen ca. 90.000 neue Titel auf den deutschen Buchmarkt. Inwiefern steht das ökonomische Prinzip der Literatur und ihren Möglichkeiten entgegen?
Scheck: Die Buchbranche war schon immer ein ökonomisches Unternehmen, und dies nicht erst seit Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden hat. Mit 13 Jahren habe ich eine literarische Agentur gegründet. Das heißt, ich identifiziere mich auch mit den ökonomischen Aspekten dieser Branche durchaus. Mit Büchern wurde schon immer Geld verdient. Das hat Shakespeare beflügelt und das ist gut so. Literatur existiert nicht außerhalb des Kapitalismus, aber Literatur ist in der Lage, unser Wirtschaftssystem ins Visier zu nehmen, zu hinterfragen und zu kritisieren, wie es zum Beispiel David Foster Wallace in seinem Roman „Unendlicher Spaß“ macht.

Wird das, allen Streamingdiensten und sozialen Netzwerken zum Trotz, auch in den nächsten Generationen bleiben?
Scheck: Da ist mir gar nicht bange. Ich glaube nicht an eine Kultur-besonnte Vergangenheit, in der in der „Tagesschau“ Hölderlin-Oden vorgelesen wurden und Mütter die Pausenbrote ihrer Kinder in Kafka-Parabeln eingewickelt haben. Die Erfolge von Autoren wie Roberto Bolaño mit „2666“ oder David Foster Wallace mit „Unendlicher Spaß“ belegen doch, dass auch heute noch junge Leute gern zum Buch greifen – wenn zwischen zwei Buchdeckeln Nachrichten und ästhetische Erfahrungen auf sie warten, die man in anderen Medien eben nicht machen kann.

Für Sie zählt zu Weltliteratur ein Buch wenn es Ihren „Blick auf die Welt nachhaltig verändert“. Zwei dieser Bücher haben Theodor Fontane und Herta Müller geschrieben. Welche neuen Perspektiven haben Ihnen die beiden eröffnet?
Scheck: Theodor Fontane hat in mir zum Beispiel meinen politischen Kompass neu genordet. In „Stechlin“ steht der wunderbare Satz: „Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“ Ich glaube, dieser Satz enthält das Fazit des Journalisten Theodor Fontane. Das ist für mich eigentlich auch die Summe dessen, was ich an politischem Denken erfahren habe.

Wie ist es bei Herta Müllers „Atemschaukel“?
Scheck: Das ist der Roman, den sie auf Grundlage der Biografie von Oskar Pastior geschrieben hat. Er kam als schwuler Deutscher aus Rumänien in ein sowjetisches Arbeitslager, noch während der Zweite Weltkrieg tobte und musste dort jahrelang schuften. Er war doppelt bedroht: einerseits als Deutscher, andererseits als Homosexueller, was ihn sogar im Lager bei den anderen Gefangenen zum Außenseiter gemacht hat. Das ist in diesem Roman so beschrieben, dass man das Gefühl hat, die Lebenswirklichkeit in solch einem Lager mitzubekommen. Vor allem auch wie schnell der Alltag versinkt, den man zurückgelassen hat, mit all seinen Angehörigen und Verwandten. Da ist es fast egal, ob es sich um ein russisches, ein deutsches oder ein chinesisches Lager handelt. Während wir hier sprechen, erleiden Menschen ein ähnliches Schicksal zum Beispiel in chinesischen Lagern. Sich diese Wirklichkeit vor Augen zu führen und zu vergegenwärtigen, ist auch eine Funktion vom Gedächtnisspeicher Literatur.

Noch drei kurze Schluss-Fragen:
Verschmähen Sie Literaturverfilmungen?
Scheck: Nein, wieso denn? Ich liebe Stanley Kubrick, dessen Verfilmung von Arthur Clarkes „2001“ sicher besser ist als der Roman.

Sie sagten einmal „jedes Buch ist ein toter Baum“ (Interview Göttinger Tageblatt, 2018). Brauchen wir Warnhinweise auf Büchern?
Scheck: Unbedingt. Lesen verändert die Strukturen unserer Gehirne, sagt die amerikanische Neurobiologin Maryanne Wolf. Und zwar unwiderruflich. Das bedeutet, dass die Lektüre von Paulo Coelho oder Sebastian Fitzek etwa dasselbe mit Ihrem Gehirn anrichten wie fünf Schachteln Roth-Händle am Tag für Ihre Lunge. Ich hoffe, dass die EU ähnliche Schockfotos für die Cover dieser Autoren vorschreibt wie für Zigarettenschachteln.

Mit welcher literarischen Figur haben Sie charakterlich Ähnlichkeiten?
Scheck: Ich fürchte mit dem Kröterich aus „Der Wind in den Weiden“.

Lesungen von Denis Scheck 2020:
16.02. Wertheim, Burg Wertheim
17.02. Osnabrück, Marienkirche
19.02. Speyer, Dreifaltigkeitskirche
20.02. Ahrensburg, Kulturzentrum Marstall
22.02. Wesel, Musik- und Kunstschule
27.02. Oldenburg, Kulturetage
29.02. Buxtehude, Buchhandlung Stockmann
01.03. Stade, Buchhandlung Schaumburg
04.03. Minden, Hansehaus
05.03. Lollar, Stadt- und Schulmediothek CBES
06.03. Braunschweig, Roter Saal im Schloss
18.03. Köln, Mayersche Buchhandlung
21.03. Gschwend, Bilderhaus
25.03. Bad Neustadt/Saale, Buchhandlung Rupprecht
26.03. Straubing Buchhandlung Pustet
30.03. Kempten, Buchhandlung Rupprecht
31.03. Freising, Buchhandlung Rupprecht
03.04. Donauwörth, Zeughaus
04.04. Bietigheim-Bissingen, Otto-Rombach-Bücherei
20.04. Gelnhausen, Grimmelshausen Buchhandlung
22.04. Kirchensittenbach, Die Möbelmacher GmbH
28.04. Arnsberg, Bürgerzentrum Alte Synagoge
04.05. Dieburg, Römerhalle
15.05. München/Solln, Bücher Krugg
24.05. Mühlhausen, Rathaushalle
07.10. Künzelsau, Kunsthalle Würth
08.10. Hofheim/Taunus, Stadthalle

2 Kommentare zu “Literatur ist ein Frühwarnsystem.”

  1. Susanne Jansen |

    Sie könnten mit all Ihren Ansichten auch mein Zwillingsbruder sein

    Antworten
  2. Sylvia Müller |

    Bitte an Herrn Scheck weiterleiten: Lieber Herr Scheck, könnten Sie sich vorstellen, einmal wieder nach Thüringen, zu den Thüringer Literatur- und Autorentagen auf Burg Ranis zu kommen? Bin nur eine begeisterte Besucherin dieser Veranstaltung. Denke aber, das Thema passt dort!

    Antworten

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