Dieter Kosslick

Kultur sollte immer Zeichen setzen.

18 Jahre wirkte Dieter Kosslick als Leiter der Berlinale, eine Zeit, die er nun in seinem Buch "Immer auf dem Teppich bleiben" Revue passieren lässt. Im Interview spricht Kosslick über zukünftige Herausforderungen für Kinos und Festivals, Trennung von Künstler und Werk, Erfahrungen mit Harvey Weinstein, welcher Film ihm zu gewalttätig war und warum es bei der Berlinale kein Popcorn gibt.

Dieter Kosslick

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Herr Kosslick, wie haben Sie die jüngste Oscar-Verleihung verfolgt, live mitten in der Nacht?

Dieter Kosslick: Nein, ich schaute mir das gemütlich am nächsten Morgen an. Für mich ist es jetzt nicht mehr so wichtig wie früher, insofern kann ich das auch zeitversetzt schauen.
Ich habe mich dieses Jahr sehr gefreut, dass Frances McDormand, die 2004 Mitglied in der Berlinale-Jury war, ihren dritten Oscar bekam. Und ich fand bemerkenswert, dass nach all den Diskussionen, der Oscar sei nicht divers genug, in diesem Jahr alles stimmte.

Die Academy hatte sich 2020 neue Diversitätskriterien gegeben.

Kosslick: Ja und ich finde das gut. Es hat sich im Ergebnis auch schon niedergeschlagen. Bei manchen Festivals und Preisverleihungen hat man ja den Eindruck, dass bestimmte Regisseure dort praktisch jedes Jahr vertreten sind. Da ist es dann für den Nachwuchs und neue Leute schwierig, hineinzukommen. Dass jetzt drei Oscars an „Nomadland“ gingen, ist ein gutes, tolles Gefühl, auch die Laien-Darsteller sind großartig.

In der Berichterstattung heißt es oft, der Oscar ’setzt ein Zeichen‘ – ist das generell eine Aufgabe von Filmfestivals, Zeichen zu setzen?

Kosslick: Natürlich, Kultur sollte immer Zeichen setzen. Ich wurde auf Pressekonferenzen oft gefragt: „Ist die Berlinale in diesem Jahr politisch?“ – Aber selbstverständlich! Kultur ist im besten Falle etwas Fortschrittliches und in diesem Sinn auch immer politisch. Es gibt keine ‚L’art pour L’art‘, wie manche Leute denken, sondern Kunst hat immer einen zeitlichen, geschichtlichen und geografischen Hintergrund.
Wir haben bei der Berlinale oft Zeichen gesetzt, etwa mit dem Film „In this World“ über einen afghanischen Flüchtling, mit Fatih Akins „Gegen die Wand“ oder mit den drei unschuldigen Gefangenen von Guantanamo, die wir ganz bewusst zur besten Festival-Zeit am Freitagabend auf den roten Teppich geholt haben („The Road to Guantanamo“, 2006). – Wer keine Zeichen setzt kann gerne weiter seine Kinderspielchen machen mit der Kultur, aber die ist dann nicht sehr relevant.

Zitiert

Kultur als Marketing-Veranstaltung der Politik, darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben.

Dieter Kosslick

Wo oder wann haben Sie in Ihrer Berlinale-Zeit wahrgenommen, dass Filme etwas bewirkt haben?
Kosslick: Zum Beispiel wenn ich am roten Teppich mit den normalen Leuten ins Gespräch gekommen bin, mit den Film-Fans. Man hat es auch bei einigen Filmen gesehen, die bei der Berlinale ausgezeichnet wurden, welche Wirkung sie hatten: Als 2006 „Esmas Geheimnis“ über im Jugoslawien-Krieg vergewaltigte Frauen ausgezeichnet wurden, sagte die Regisseurin Jasmila Žbanić bei der Verleihung „dieser Bär wird Mladić und Karadžić fangen“. Später wurden sie gefangen, wenn auch nicht durch den Goldenen Bären, aber die Frauen, die der Film thematisierte, wurden als Kriegsopfer anerkannt und erhalten jetzt eine Rente.

Von den 19 Filmen, die in Ihrer Zeit auf der Berlinale mit einem Goldenen Bären ausgezeichnet wurden, konnten sich in den jeweiligen Kino-Jahrescharts in Deutschland nur drei in den Top 100 platzieren („Taxi Teheran“, „Gegen die Wand“, „Chihiros Reise“). Wird der Werbeeffekt des Festivals überschätzt?

Kosslick: Ihre Rechnung stimmt nicht: Berlinale-Filme, wie „Chicago“ und „Grandhotel Budapest“ waren auch Welterfolge. Es kommt drauf an, wohin Sie schauen. Wenn ein Festival-Film Glück hat, wird er weltweit ein kommerzieller Erfolg – und ansonsten ist es ganz normal, dass von hundert Filmen vielleicht drei international, zehn national erfolgreich sind und der Rest nicht.
Die Berlinale ist ja auch kein ‚Multiplex-Festival‘. Ich habe manchmal Überschriften gelesen wie „Kosslick, der Flop-Produzent“, aber wer so etwas schreibt, hat glaube ich nicht verstanden, was so ein Filmfestival ausmacht. Die Berlinale zeigt auch Filme, die man sonst nicht zu sehen bekommt und danach meistens auch nicht mehr sehen kann.

Hat es Sie denn geschmerzt, wenn ein ausgezeichneter Film keinen Verleih fand?

Kosslick: Natürlich! Der Film „Der Sturm“ zum Beispiel, über einen Menschenrechtsprozess in Den Haag, wurde auf der Berlinale und beim Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, ist aber an der Kinokasse nicht erfolgreich gewesen. Da denkt man sich: Was für ein Aufwand für dieses wichtige Thema – und dann wollen die Leute es nicht sehen. Das ist sehr enttäuschend. Festival-Zuschauer wollen solche Filme sehen, sie sind aber natürlich nicht die ‚kritische Masse‘.

Die neue Berlinale-Leitung hat sich entschieden, die Schauspiel-Preise in Zukunft nicht mehr nach Geschlechtern getrennt zu vergeben. Ist das in Ihren Augen ein richtiger Schritt?

Kosslick: Ich möchte die Arbeit meiner Nachfolger nicht kommentieren. Sie haben keinen einfachen Job in einer noch dazu schwierigen Zeit – und ich drücke ihnen dabei fest die Daumen.

In Ihrem Buch „Immer auf dem Teppich bleiben“ erfährt man unter anderem, dass Sie früher in der „Leitstelle Gleichstellung der Frau“ des Hamburger Senats gearbeitet haben. Wo konnten Sie denn für die Gleichstellung der Frau mehr bewirken, damals in Hamburg oder später bei der Berlinale?

Kosslick: Ich denke, eher beim Film. Denn da verfügte ich bereits über die Erfahrung, die ich in der Gleichstellungsstelle gewonnen habe. Dort habe ich ja verschiedene Diskriminierungstatbestände auf dem Tisch gehabt und selbst auch einen Shitstorm erlebt. Als ich 1982 in einem Brief an die Behörden darauf hinwies, dass in offiziellen Schreiben zukünftig die Anrede „Sehr geehrter Herr“ nicht mehr genügt, sondern stattdessen „Sehr geehrte Damen und Herren“ zu verwenden sei, hagelte es Protest. Das zum Thema frühes Gendern.
Später habe ich eigentlich in all meinen Büros und Arbeitszusammenhängen überwiegend mit Frauen zusammen gearbeitet und kam mit ihnen immer sehr gut zurecht.

Ebenfalls berichten Sie im Buch, dass Sie als Chef der Filmstiftung NRW an Konzepten arbeiteten, wie Kinos in ihrem Umfeld noch mehr zu einem kulturellen Zentrum werden könnten. Haben Sie diese Pläne inzwischen wieder aus der Schublade geholt, angesichts der Corona-Krise?

Kosslick: Nein, auf dem Gebiet bin ich heute nicht mehr aktiv. Dieser weitgehende, städtebauliche Ansatz ist damals in Hamburg realisiert worden, wodurch die Zeise-Hallen entstanden sind, und teilweise auch bei Kinos in Nordrhein-Westfalen. Es ging darum, die Kinos innerhalb eines Radius von zwei Kilometern in eine neue Position zu bringen, damit sie einen kulturellen Mittelpunkt bilden.

Mehr Mittelpunkt täte den Kinos heute natürlich gut…

Kosslick: Ich denke, dass wir für die Zukunft des Kinos viele neue Konzepte brauchen, denn der Konkurrenzkampf ist hart, Pandemie und Streaming sind zusammen ein tödlicher Cocktail, der unbedingt neutralisiert werden muss, durch aktive Veränderung der Kino-Situation.

Wie zum Beispiel?

Kosslick: Eine Möglichkeit wäre, Kinos stärker in der Bildung einzusetzen, sprich dass Schüler regelmäßig im Unterricht ins Kino gehen und dadurch mit dem großen Raum sozialisiert werden, statt immer nur mit dem kleinen Bildschirm.

Politiker waren ja bei der Berlinale häufig zu Besuch. Wie ist heute Ihr Resümee: Hat die Politik ein ernsthaftes Interesse an Kultur, jenseits von Sonntagsreden und Premieren-Tickets?

Kosslick: Ich glaube, dass das Bewusstsein für die Funktion von Kultur in unserer Gesellschaft in der Pandemie-Zeit stark gewachsen ist. Es ist jetzt für jeden spürbar, auch für Politiker, wie eine Gesellschaft aussieht, in der keine Kultur mehr veranstaltet wird.
Den roten Teppich fanden viele Politikerinnen und Politiker natürlich immer toll, um sich fotografieren zu lassen, da gab es dann mitunter 200 Anmeldungen, um ein Foto mit George Clooney machen zu dürfen. Und wenn etwas gefördert wird, muss in jede Broschüre natürlich ein Hochglanz-Foto hinein und daneben ein Dankeswort der Kulturschaffenden an das Ministerium. Der einzige, dem man dort nicht dankt, ist der Steuerzahler, obwohl er dafür das ganze Geld aufbringt. – Kultur als Marketing-Veranstaltung der Politik, darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Allerdings nehme ich bereits eine Veränderung wahr und sehe inzwischen auch Politiker und Politikerinnen, die ein ehrliches Bedürfnis haben, sich für Kultur zu engagieren und dies nicht nur fürs Image tun.

Wie bewerten Sie denn aktuell die Unterstützung der Kinos durch die Politik?

Kosslick: Die Politik gibt auf jeden Fall Geld, um der Branche unter die Arme zu greifen – und das ist ja schon mal was. Was die Schließungen betrifft: Natürlich fände ich es auch besser, wenn es kreative Regelungen gäbe, dass Kultur wenigstens ab und zu veranstaltet werden könnte, unter bestimmten Bedingungen. Darum wird gerungen, wobei es aber auch nicht ganz einfach ist, sich zu Wort zu melden. Nach der Aktion #allesdichtmachen konnte man ja das Gefühl bekommen, dass die 50 Leute eingesperrt werden, wenn sie nochmal ein Wort sagen.

Sie sind heute beratend für Filmfestivals tätig und Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Festival-Betrieb „mit ständiger Präsenz von Künstler*Innen ein großer CO2-Verursacher“ ist. Ist also das Einfliegen von Gästen bzw. Filmschaffenden mit Klimazielen nicht mehr vereinbar?

Kosslick: Ja, das würde ich sagen. Vielleicht nicht ganz so pauschal, aber es muss auf jeden Fall eine Balance gefunden werden, zwischen Klimazielen und dem Tross von Tausenden Filmschaffenden, Journalisten und PR-Leuten, die von einem Festival zum nächsten fliegen.
Wobei ich auch glaube, dass sich das im Moment von selbst reguliert. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass in diesem oder dem nächsten Jahr die Menschen wieder so über den roten Teppich gehen wie vor der Pandemie.
Natürlich kann nicht mehr so viel gereist werden, dafür muss es alternative Lösungen geben. Weltpremieren zum Beispiel werden in Zukunft weniger interessant sein.

Warum?

Kosslick: Weltpremieren hatten für Festivals die Funktion, dass sie sich von anderen Wettbewerben unterscheiden und dass Journalisten von dort als erste berichten können – aber das ist heute kaum mehr relevant. Ich fand es schon immer Blödsinn, wenn ein Film, der in Sundance Premiere feierte, nicht im Wettbewerb der Berlinale gezeigt werden konnte. So etwas muss sich ändern. Ich denke, eine Weltpremiere wird zukünftig auch mit anderen medialen Mitteln hergestellt. Sie werden in den nächsten zwei, drei Jahren nicht so ablaufen wie bisher, weil die Stars die Filme nicht mehr in der gewohnten Form mit ihrer Präsenz bewerben werden.

Wo sehen Sie allgemein die Filmindustrie im Moment, was Nachhaltigkeit und CO2-Reduktion anbelangt?

Kosslick: In Hollywood gibt es bereits seit 30 Jahren Bewegung in diese Richtung, James Cameron setzt sich schon lange für eine klimaneutrale Produktionsweise ein. Aber als wir vor 10, 15 Jahren anfingen, die Berlinale nachhaltiger zu machen, hat man das eher müde belächelt. „Green Shooting“ wird in Deutschland auch heute noch eher noch als Experiment betrachtet, das man bei einzelnen Produktionen ausprobiert. Es gibt jetzt zwar das neue Filmförderungsgesetz, deren Nachhaltigkeits-Kriterien werden allerdings erst in einem Jahr bei Förderentscheidungen relevant. Dabei läuft die Diskussion über Nachhaltigkeit im Filmbereich bereits seit 2013, das neue Gesetz brauchte also fast zehn Jahre, bis es jetzt endlich Anwendung findet.

Eine Frage zum Thema ‚Trennung von Künstler und Werk‘: 2010 haben Sie bei der Berlinale Roman Polańskis „Der Ghostwriter“ gezeigt, 2018 dagegen haben Sie bestimmte Filme nicht ins Programm genommen, aufgrund von „Fehlverhalten“ beteiligter Künstler. (u.a. Interview NOZ, 10.02.2018) Wie hat sich Ihre Haltung in dieser Frage entwickelt?

Kosslick: Das ist ein extrem kompliziertes Thema, zu dem durch die MeToo-Bewegung auch viele neue Aspekte hinzugekommen sind. Wir hatten bei der Berlinale regelmäßig Fälle, wo diese Diskussion aufkam und haben immer von Fall zu Fall entschieden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kosslick: 2018 hatten wir den koreanischen Regisseur Kim Ki-duk zu Gast. Das sorgte für Diskussionen, weil eine Schauspielerin ihn beschuldigt hatte, sie 2013 geohrfeigt und zu einer Sexszene gezwungen zu haben, die nicht im Drehbuch stand. Da haben wir uns den Kopf drüber zerbrochen und uns am Ende entschieden, seinen Film „Human, Space, Time and Human“ nicht im Wettbewerb zu zeigen, um ihm nicht das große Scheinwerferlicht zu geben – was aber in meinen Augen eine hilflose Argumentation war. Er war zu einer Geldstrafe verurteilt worden, die er beglichen hatte, darüber hinaus gab es kein Urteil, aus Mangel an Beweisen. Und solange jemand wegen sexueller Nötigung nicht verurteilt ist, kann man nicht einfach behaupten, er sei schuldig. Auf der anderen Seite können sich solche Prozesse auch über sehr viele Jahre hinziehen.
Wir haben damals Kim Ki-duk 2018 eingeladen, drei Jahre später hätten wir uns vielleicht anders entschieden. Wichtig ist, dass man jeden Fall individuell betrachtet und genau prüft. Und ich bin heilfroh, dass ich heute nicht mehr entscheiden muss, wer eingeladen wird und wer nicht.

Was sind für Sie die Vorteile dieser gewachsenen Sensibilisierung hinsichtlich Fehlverhalten von Filmschaffenden?

Kosslick: Natürlich ist es ein Vorteil, wenn Diskriminierungstatbestände, Repression, Ausbeutung, Unterdrückung oder Ausnutzung von Positionen thematisiert und angeprangert werden. Auf der anderen Seite gibt es dann Diskussionen wie um Pippi Langstrumpf, wo man irgendwann nicht mehr weiß, was man mit dem Mohrenkönig nun machen soll.
Grundsätzlich finde ich es aber gut, dass die Sensibilisierung so ein Ausmaß angenommen hat.

Ist es ein Nachteil, dass zum Beispiel Oscar-Gewinner Kevin Spacey, der nie verurteilt wurde, auf kein Festival mehr eingeladen wird?

Kosslick: Er wurde ja auch aus Filmen herausgeschnitten… Sicher ist es schade, dass Kevin Spacey nicht mehr auf dem Roten Teppich ist. Aber wenn die Vorwürfe gegen ihn stimmen, ist für ihn auf dem Roten Teppich kein Platz, dann kann man ihn nicht ins Scheinwerferlicht rücken.

Sie selbst hatten bei der Berlinale häufiger mit Harvey Weinstein zu tun…

Kosslick: Ja, er war oft auf der Berlinale. Mit ihm habe ich den Kontakt abgebrochen, nicht wegen der MeToo-Vorwürfe, die ich zu der Zeit noch nicht beurteilen konnte, sondern weil er sich mir gegenüber als jemand benommen hat, der mich fertig machen wollte.

Warum das?

Kosslick: Weil ich den ein oder anderen Film von ihm nicht gespielt habe. Er versuchte daraufhin, mich aus dem Verkehr zu ziehen, in dem er mich boykottierte. Es war für mich als Festival-Leiter nicht einfach, Filme von Weinstein nicht zu zeigen, die dann auf anderen Festivals liefen. Aber ich bin froh, dass ich aufgrund der eigenen Unterdrückungsgeschichte, die ich mit ihm erlebte, den Kontakt abgebrochen habe. Seitdem habe ich auch nie mehr mit ihm gesprochen.

Der Literaturkritiker Denis Scheck sagte uns im Interview: „Man kann Blödsinn über Jugoslawien reden und schreiben und dennoch Weltliteratur produzieren. Das hat Peter Handke getan und deshalb geht der Nobelpreis für mich in Ordnung.“ Wie sehen Sie das?

Kosslick: Peter Handke ist sicher ein gutes Beispiel: Er ist ein großer Literat, gleichzeitig bin ich nicht einverstanden damit, was er über Milošević gesagt hat. Es kommt immer auf den einzelnen Fall an. Wenn es heute zum Beispiel einen Autor gibt, der permanent den Klimawandel leugnet – von dem würde ich wahrscheinlich kein Buch lesen.
Bei Denis Scheck trenne ich übrigens auch zwischen Autor und Literaturkritiker: Wenn man sein Buch „Sie & Er“ liest, in dem die These aufgestellt wird, Männer und Frauen hätten unterschiedliches Essverhalten, was man am Teller nachweisen könne, wundert man sich schon ein wenig, dass er ein so guter Kritiker ist.

Oskar Roehler hat einmal in einem Interview beschrieben, dass in der Filmbranche Beziehungen häufig funktionalisiert würden. War das auch für Sie problematisch?
Kosslick: Klar, das ist die schwierigste Aufgabe, die man hat. Man darf sich nicht funktionalisieren lassen. Ich habe deswegen einige Freunde verloren, die mit mir nicht mehr sprechen und die später zum Teil auch auch gegen mich intrigiert haben, weil ich ihre Filme, die wirklich anerkannt schlecht waren, nicht gezeigt habe.
Natürlich passiert es oft, dass Menschen versuchen, eine freundschaftliche Beziehung für sich auszunutzen. Die Berlinale lehnt pro Jahr etwa 6000 Filme ab, damit gewinnen Sie nicht 6000 neue Freunde. Besonders beim Wettbewerb kann es zu persönlichen Verwerfungen kommen, denn der macht einen Film ja auch finanziell wertvoll. Und die Entscheidung, ob sein Film dort läuft, kann für einen Filmemacher durchaus existenziell sein. Da wird es dann plötzlich ganz ernst.
Einige Freundschaften von mir sind daran zerbrochen, bis heute.

Viele Filme bei der Berlinale gehen an die Grenzen der Kunstfreiheit. Gab es einen Film, bei dem die Ausnutzung der Kunstfreiheit für Sie nicht mehr erträglich war?

Kosslick: Es gab „Oldboy“ von Park Chan-wook. Diesen Film hatten wir 2004 als Berlinale zuerst, aber wir haben ihn nicht gezeigt: Weil ich die Gewalt darin nicht ertragen konnte. Ein paar Monate später hat er dann in Cannes den Großen Preis der Jury gewonnen – und auf mich hat man geschimpft.

Mit welchen Gefühlen schauen Sie eigentlich heute auf den „Boulevard der Stars“, entlang der Potsdamer Straße?

Kosslick: Der Initiator Gero Gandert hat das damals mit viel Engagement betrieben und es stand auch zur Debatte, ob sich die Berlinale als Gesellschafter an dem Projekt beteiligt. Wir haben das aber nicht gemacht. Weil es bestimmte Dinge gibt, die am Potsdamer Platz nicht funktionieren, auch nicht, wenn gerade Berlinale ist. Ich finde es sehr ehrenwert, wie sich Georgia Tornow dafür eingesetzt hat, aber für mich hat man bei diesem Boulevard von Anfang an zu wenig bedacht, dass die Reinigungskosten viel höher sein werden als die Baukosten. Von solchen Geschichten finden Sie allerdings einige am Potsdamer Platz.

Zum Schluss: Popcorn süß oder salzig?

Kosslick: Ich finde beides OK, esse aber weder das Eine noch das Andere. Ich verstehe, dass es für viele Menschen zum Kinobesuch dazugehört und denen will ich nicht die Freude nehmen.

Bei der Berlinale allerdings gibt es kein Popcorn…

Kosslick: …aber nicht wegen mir, sondern weil wir sonst die Kinos nicht sauber bekommen hätten, für die nächste Vorstellung. Wenn sie bei der Taktung und den vollen Sälen Popcorn verkaufen würden, bräuchte man wahrscheinlich die gesamte Flotte der Berliner Stadtreinigung BSR, um das einigermaßen zu bewältigen.

[Das Interview entstand am 21.04.2021; Mitarbeit: Ralf Krämer]

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