Dirk Neumann

Es macht einen Heidenspaß „schwer verletzt“ zu sein

LARP-Spieler Dirk Neumann über die Dokumentation „Wochenendkrieger“, Kunstblut im Lazarett, Rollenklischees, verwandelte Nerds und Durchhalteparolen

Dirk Neumann

© Axel Schneppat

Herr Neumann, als Mittelalter-Fan könnte ich doch einfach historische Bücher lesen, Filme schauen oder ein Computerspiel spielen. Was ist das Besondere am selber spielen?
Dirk Neumann: Erstmal würde ich ganz stark unterscheiden zwischen der LARP-Szene und der Mittelalter-Szene. Die würden sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, mit uns Liverollenspielern in einen Topf geworfen zu werden. Es gibt sicherlich Überschneidungen, aber die Reenactment-Szene (Reenactment meint die möglichst authentische Inszenierung historischer Ereignisse, Anm. der Red.) organisiert Mittelaltermärkte und stellt Lagerleben dar, und legt dabei großen Wert auf Authentizität. Bei uns Liverollenspielern gibt es dieses mittelalterliche Setting nur, weil die Fantasy-Geschichten in diesem Rahmen spielen.

Was macht beim Liverollenspiel den Reiz aus, selbst in Rollen zu schlüpfen?
Neumann: Ich glaube: Die Interaktion, das Spielen miteinander. Das hat man heutzutage zwar auch bei Online-Rollenspielen, aber es ist etwas ganz anderes, wenn ich mit Tastatur und Maus einen Held durch eine Schlacht führe oder wenn ich selber der Kämpfende bin, Metall am Körper habe und auf jemanden „eindresche“. Es ist auch die Bewegung an der frischen Luft und die körperliche Herausforderung: bei 35 Grad eine Rüstung zu tragen, ist nicht immer angenehm. Aber so ein Wochenende Liverollenspiel ist tatsächlich wie ein Kurzurlaub.

Es ist also auch entspannend?
Neumann: Es ist extrem entspannend. Man hat seine Armbanduhr nicht um, sein Handy nicht dabei, man hat nicht den Zwang, abends seine Facebook-Seite zu checken. Man ist wirklich weg von allen „Segnungen“ des modernen Kommunikationslebens.

Ist das eine feste Regel, dass man das Handy aus lässt?
Neumann: Nein. Es liegt sicherlich im Zelt, aber man trägt das Handy nicht offen bei sich und wenn man spielt, holt man es auf gar keinen Fall raus. Das ist ein definitives No-Go, weil es nicht In-time ist. In-time ist alles was in der Rolle ist, Out-time, was drumherum im realen Leben passiert. Das Handy ist also Out-time, eine Dose mit einer Strippe als Kommunikationsmittel wäre In-time.

Wenn man zu einem Liverollenspiel anreist, wo genau fängt dann die Rolle an?
Neumann: In der Regel gibt es einen festgesetzten Zeitpunkt für ein „Time-In“. Davor gibt es noch eine Ansprache und dann heißt es: „So jetzt geht es los“. Theoretisch ist man dann 24 Stunden In-time, aber das hält man meistens nicht ganz durch. Gerade wenn mal ein bisschen Langeweile reinkommt, dann fängt man an, sich über den Job zu unterhalten, möglichst leise, damit kein anderer gestört wird. Das sind die sogenannten Out-time-Blasen, die eigentlich verpönt sind, weil sie natürlich mit der Atmosphäre brechen.

Was gibt es neben Fantasy noch für Genres für Liverollenspiele?
Neumann: Alles Mögliche: Star Trek, Star Wars, auch Western ist inzwischen sehr beliebt. Es gibt Endzeitszenarien, in denen zum Beispiel die Menschheit durch einen Atomkrieg oder eine Seuche dahingerafft wurde. Es gibt natürlich auch ganz dem Geiste der Zeit folgend Zombie- und Splatter-LARPS. Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Aber das Fantasy-Setting ist immer noch am weitesten verbreitet.

Als Laie habe ich das Gefühl, dass beim Liverollenspiel die meiste Zeit nur gekämpft wird. Auch im Film „Wochenendkrieger“ läuft es letztendlich auf eine große Schlacht hinaus. Geht es hauptsächlich um Kämpfe?
Neumann: Nein, definitiv nicht. Der Kampf als solcher ist Bestandteil, aber nicht einziger Inhalt des Liverollenspiels. Da geht es ganz viel um Interaktion, um Darstellung, darum, sich hineinzufinden in ein Setting und in eine andere Person. Man nimmt eine  Perspektive ein, die man im realen Leben eher schwer einnehmen kann. Zum Beispiel, einfach mal ein Arschloch sein: „Der Bauer hat mich gerade angerempelt, den bringe ich jetzt um.“ (lacht) „Ferien vom Ich“ könnte man es nennen.

Mit was für Waffen wird gekämpft?
Neumann: Die bestehen aus einem Fiberglasstab mit einem festen Schaumstoff drumherum, der der Waffe die Form gibt. Über dem Schaumstoff ist eine Latexschicht, die gibt der Waffe die Farbe. Wir kämpfen ja auch nicht wirklich, wir simulieren nur den Kampf. Nach den Regeln ist es zum Beispiel auch verboten, nach dem Kopf des Gegners zu schlagen. Wir hauen nicht auf die letalen Stellen und stechen nicht. Trotzdem gibt es aber auch mal eine Blessur.

Wie kommt die Handlung beim Liverollenspiel zustande?
Neumann: In der Regel gibt es ein Setting mit einer Einladung. Ein ganz einfaches Setting wäre: Da wird ein Dorffest gefeiert und der Dorfschulze hat in jeder größeren Stadt in der Umgebung einen Aushang gemacht: „Fremde willkommen.“ Das ist die Ausgangssituation, damit der Charakter, den ich spiele, einen Grund hat, dahinzugehen. Vor Ort gibt es dann meistens irgendeine Bedrohung zum Beispiel durch Orks und die Spieler müssen diese beseitigen.

Weiß man denn vorher, wie die Sache ausgeht?
Neumann: Nein, einen feststehenden Ausgang gibt es grundsätzlich nicht.

Aber ein Bedrohungsszenario ist immer dabei, oder?
Neumann: Meistens, es gibt aber auch Liverollenspiele, wo nur gefeiert wird. Da spielt man dann wirklich nur seine Rolle und feiert als diese Person.Wie feiert ein Magier, der eigentlich eher ein bisschen distinguiert und abgehoben ist? Hat der Spaß am Feiern? Man unterhält sich den ganzen Abend darüber, wie es ist, ein Söldner zu sein, ohne dass man wirklich einer ist, und über seine Kriegsabenteuer, die man natürlich nie erlebt hat. Und man trinkt keinen Wodka, sondern Met (Honigwein, Anm. der Redaktion) und Bier. Es gibt keine Cevapcici vom Grill, sondern ein halbes Schwein am Spieß.

Gibt es jedes Mal eine andere Handlung oder gibt es bestimmte Geschichten, die immer wieder gespielt werden?
Neumann: Das sind jedes Mal andere, man ahnt aber meistens was passiert. Die Plot-Stränge sind in der Regel eher komplex und haben sehr viele Zugangspunkte für die verschiedenen Rollen und Verwicklungen, so dass man als Spieler manchmal verzweifelt, weil man nicht weiterkommt. Die große Kunst für die Spielleitung ist es, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten ohne einen Spieler zu frustrieren. Und viele Spielleitungen neigen dazu, den Spielern am Ende den Sieg und das Erfolgserlebnis zu geben.

Kann man sich denn seine Rolle aussuchen oder sind die Rollen festgeschrieben?
Neumann: Es gibt die Unterscheidung zwischen Spieler-Charakteren, SC, und den NSC, den Nicht-Spieler-Charakteren. Letztere sind die Statisten, die die Spielleitung vor Ort lenkt. Sie stellen die Bedrohung dar, zum Beispiel einen Ork, der im Wald lauert, oder sind Informationsgeber, wie eine Kräuterfrau, die im Dorf vorbeikommt. Als NSC wird mir meine Rolle durch die Spielleitung zugewiesen. Bei kleineren Veranstaltungen wechsle ich dann oftmals zwischen drei oder vier Rollen im Laufe des Wochenendes. Als Spieler-Charakter suche ich mir eine Rolle aus, allerdings innerhalb eines bestimmten Regelwerks wie dem „DragonSys“.

Was ist das?
Neumann: Das ist ein Handbuch mit Regeln und einem Punktsystem, damit eine Spieler-Figur auch wachsen kann. So und so viele Veranstaltungs-Tage bringen so und so viele Punkte und wenn ich eine bestimmte Zahl angesammelt habe, kann ich mir eine neue Eigenschaft kaufen.

Wenn ich also nicht genügend Punkte habe, dann darf ich bestimmte Fähigkeiten, die ich im realen Leben eigentlich habe, nicht spielen?
Neumann: Genau. Ich spiele zum Beispiel auch einen Söldner, der bis heute nicht gelernt hat, Feuer zu machen, weil ich nie Punkte dafür ausgegeben habe. Out-time kann ich natürlich Feuer machen, aber ich mache es im Spiel nicht, weil der Söldner nicht weiß, wie es geht.

Braucht man für ein LARP bestimmte Qualitäten, die man im Vorfeld  beweisen muss?
Neumann: Nein, es gibt keine Schauspielprüfung im Vorhinein. Man muss den Mut haben, sich auszuprobieren und darf keine Angst davor haben, in der Darstellung der Rolle zu scheitern. Man sollte sicherlich auch Spaß am Verkleiden haben und daran, in eine andere Rolle zu schlüpfen, in dieser Rolle zu denken, zu fühlen und zu handeln.
Es gibt Leute, die wollen einen hohen Adligen darstellen, kriegen aber keinen Satz gerade raus. Oder man hat einen schlaksigen 16-jährigen, der ein Berserker oder ein Riese sein will. Die merken dann auch, dass sie nicht als solcher wahrgenommen werden. Das Beste, was einem passieren kann, ist, wenn einen ein erfahrener Spieler zur Seite nimmt und Feedback und Tipps gibt. Ich selbst habe mal versucht, einen Magier darzustellen, dann aber gemerkt, dass ich es nicht kann. Ich bin überhaupt nicht spirituell veranlagt.

Im Film sieht man Sie als „Fürst des Untoten Fleisches“ in einer Anführer-Rolle. Bringen Sie die Charaktereigenschaften, die Sie in dieser Rolle haben, also bereits mit?
Neumann: Gute Frage. Das weiß ich nicht genau. Ich habe mich eigentlich nie als Anführer gesehen. Ich war nie derjenige, der vorneweg gerannt ist und „Mir nach“ gerufen hat. Ich habe eigentlich immer anderen den Raum gelassen. Das mit der Rolle war im Grunde genommen eher ein Ausprobieren: Ich wollte sehen, ob ich das kann. Und es hat geklappt: Offensichtlich kann ich Leute motivieren, begeistern und mitreißen, ein bisschen bemuttern und betüdeln.

Zitiert

Bei 35 Grad eine Rüstung zu tragen, ist nicht immer angenehm.

Dirk Neumann

Sie sagen im Film, dass das Hobby Außenseiter anzieht. Warum ist das so?
Neumann: Ich glaube dieses Hobby ist attraktiv für diejenigen, die man neudeutsch als „Nerds“ bezeichnet. Menschen, die im realen Leben vielleicht nicht die Bestätigung finden, die sie brauchen – ohne jetzt alle über einen Kamm scheren zu wollen. Die können beim Liverollenspiel aus ihrem Leben ausbrechen. Da sind sie dann ein großer Magier oder großer Krieger und finden Bestätigung. Für die ist es eher eine „Flucht vor dem Ich“, als „Ferien vom Ich“. Ich weiß nicht, ob ich da jetzt sehr vielen Klischees aufsitze, aber die Szene ist glaube ich offen für diese Menschen. Es wird nicht auf Coolness gesetzt.

Und die sind beim Rollenspiel-Treffen dann wie verwandelt?
Neumann: Es ist oftmals wirklich frappierend, wenn man die Leute nach so einem Wochenende wieder trifft und denkt: „Oh, das ist der? Das hätte ich jetzt nicht gedacht!“ Das geht los mit der Körperhaltung: Wenn die Leute eine Rüstung anhaben, machen sie plötzlich einen geraden Rücken und sobald sie die Rüstung ablegen, ziehen sie den Hals ein.

Im Ankündigungstext zu „Wochenendkrieger“ heißt es: „Der Film gibt Einblick in eine Welt, in der die großen Sehnsüchte der Menschen von heute sichtbar werden.“ Was sind das für Sehnsüchte?
Neumann: Die heutige Welt wird von vielen als nicht mehr durchschaubar und überkomplex wahrgenommen. Es gibt eine gewisse Orientierungslosigkeit. Es gibt vielleicht auch eine Sehnsucht heutzutage, dass die Welt wieder so einfach sein mag, wie sie vor 50 Jahren war. Uns sind in den vergangenen Jahren die Feindbilder abhanden gekommen. Im Westen war es der böse Russe, im Osten die böse NATO oder der böse Amerikaner. Diese Strukturierung ist weggebrochen. Auch die Gesellschaft ist divergenter geworden. Viele Menschen haben eine Sehnsucht nach Orientierung in irgendeiner Form, nach Handlungsprämissen, die gesellschaftlich akzeptiert sind.
Das Setting beim Liverollenspiel ist viel einfacher gestrickt. Es gibt eine sehr klar strukturierte Welt: da sind die Bösen, dort die Guten. Und daraus leiten sich ganz klar Handlungsrahmen ab: Das Böse wird mit allen Mitteln bekämpft.

Am Ende des Films „Wochenendkrieger“ gewinnt dann ja auch das „Gute“.
Neumann: Ja, wir bewegen uns natürlich schon in einem sehr klassischen Setting. Das Liverollenspiel lebt von Klischees. Es ist eine sehr geradlinige schwarz-weiß Denke: „Der hat eine schwarze Kutte an, also ist er böse.“

Im Film halten Sie eine kriegerische Ansprache an Ihr Heer. Erinnert Sie das manchmal an Durchhalteparolen von Politikern?
Neumann: Ich glaube ganz so platt machen es die Politiker – zumindest in unserem Land – nicht. Wir bedienen uns ja auch Bildern, die grenzwertig sind. In der Rolle der Untoten zum Beispiel „folgen wir der Knochenkönigin bis in den Tod.“

Das heißt, im historischen Setting ist auch die Sprache möglichst alt?
Neumann: Ja, man versucht natürlich „mittelalterlich“ zu sprechen. Man sagt nicht: „Wir gehen da jetzt mal rüber“, sondern: „Wir schreiten hinüber“. Auch, um deutlich zu machen, dass das jetzt In-time ist und man in seiner Rolle spricht. Ich versuche immer ein oder zwei Shakespeare-Zitate einzustreuen, ohne seine Sprache zu benutzen. Die Ansprache, die Heinrich IV. bei Shakespeare vor seinen Truppen hält, die sind genial und sehr gut dafür geeignet.

So was verwendet eine Claudia Roth ja vermutlich nicht.
Neumann: Seltener.

Aber Joschka Fischer damals?
Neumann: Der vielleicht. Wobei ich glaube, dass ein Alexander Dobrindt oder eher noch ein Jean-Marie le Pen so reden würde. Parteien, die versuchen ein einfaches Weltbild zu vermitteln, mit einfachen Lösungsansätzen, die neigen natürlich auch dazu zu simplifizieren. Und da sind die Botschaften dann auch einfacher. „Schlagt sie tot!“ ist eine einfache Botschaft. Die macht ein Holger Apfel genauso wenn die Kamera aus ist, wie es der Fürst des Untoten Fleisches tut.

Gibt es mehr Männer als Frauen, die dieses Hobby betreiben?
Neumann: Ja, es gibt einen leichten Überhang, es ist schon noch ein eher männerdominiertes Hobby. Über die Ursachen kann man nur spekulieren. Männer haben vielleicht eher einen Zugang, weil sie mehr Computerspiele spielen als Frauen – was aber wiederum auch daran liegen könnte, dass das Angebot nicht so ist, wie es Frauen mögen. Ich kenne aber genug Frauen, die auch sehr viel Spaß am Liverollenspiel haben.

Können Männer Frauen spielen und umgekehrt?
Neumann: Ja, aber es ist selten, dass man sein Geschlecht verlässt. Rollenklischees werden im Liverollenspiel allerdings weniger bedient. Es gibt sicher mehr Heilerinnen als Heiler, aber genauso viele Kriegerinnen wie Krieger. Das finde ich sehr angenehm.

Vermischen sich Realität und Spiel auch manchmal beim Liverollenspiel? Kann aus einem gespielten Kampf auch ein ernster Konflikt werden?
Neumann: In der Regel nicht. Im Liverollenspiel herrscht eigentlich immer ein sehr fairer Umgang unter den Teilnehmern. Selbst wenn man gegeneinander kämpft, spielt man ja miteinander. Das ist auch der Grundsatz. Es kommt mal vor, dass man – gerade in Kampfsituationen, wo ein Haufen Adrenalin im Spiel ist – sein Gegenüber unglücklich trifft und der aggressiv reagiert, aber das ist in der Regel verbal. Ich habe noch nie erlebt, dass sich Leute dann geprügelt haben. Es ist aber schon passiert, dass wir Leute nach Hause geschickt haben, weil sie es nicht hinbekommen haben, ihr Adrenalin unter Kontrolle zu halten.

Kommt es denn auf den Sieg an?
Neumann: Nein. Es gibt schon einen sportlichen Ehrgeiz und es macht natürlich auch Spaß, dem Gegner einen guten Kampf zu liefern. Aber in erster Linie geht es um die Darstellung von Kampf. Wenn ich gegen Statisten kämpfe, ist es einfacher, weil die gelenkt werden. Da gibt die Spielleitung Anweisungen wie: „Jetzt nochmal feste drauf, die Spieler haben noch nicht genug!“ oder „Zieht euch zurück!“ Bei Spielern gegen Spielern kann es schonmal ein bisschen schwieriger werden. Da kommt es darauf an, ob die zum Beispiel auch ausspielen, dass sie getroffen sind. Manche sind unkaputtbar, da kann man das zwanzigste Mal draufschlagen und die zucken nicht mal. Wenn mir das keinen Spaß mehr macht, gehe ich eben weiter und suche mir einen anderen Spieler.

Es ist also kein reales Kräftemessen.
Neumann: Nein, im Vordergrund muss der Spaß stehen. Und es macht einen Heidenspaß, aufzuschreien, sich ans Bein zu fassen und sich in den Dreck zu werfen, weil man „schwer verletzt“ ist. Da macht auch Verlieren Spaß, insbesondere wenn tolle Heiler da sind, man danach im Lazarett liegt, auf ein Beißholz beißt und sich von denen zusammenflicken lässt. Man wird mit Kunstblut eingesaut und die fangen dann wirklich an, mit Nadel und Faden, die Wunde zu versorgen. Das ist großartig!

Gibt es trotzdem so etwas wie reale Angst vor oder in so einem Kampf?
Neumann: Ja. Ich kann mich an meine ersten Kämpfe erinnern, bei den großen Schlachten mit 400 Statisten gegen 800 Spieler. Das ist schon sehr beeindruckend, wenn so viele Leute aufeinander zu rennen und brüllen. Wenn man nicht gerade ein geübter Straßenkämpfer vom 1. Mai ist, kriegt man da schon Schiss. Allerdings nicht so viel, dass man weg möchte. Gerade jüngeren Spielern, die das zum ersten Mal machen, sagen wir aber immer, dass sie rausgehen sollen, wenn ihnen das zu eng wird. Man kriegt schon mal irgendwo einen Schlag hin, wo man ihn nicht hin haben möchte. Aber für den Notfall sind auch immer Sanitäter dabei.

Die Kamera ist ja eigentlich bei den Liverollenspielen nicht dabei, doch nun gibt es den Film und große Aufmerksamkeit. Wie ist das Verhältnis zur Öffentlichkeit bzw. zur Presse?
Neumann: Die Szene als solche ist sehr medienscheu, was damit zu tun hat, dass sich manche Liverollenspieler in so einer Rolle eben auch ausleben und das nicht irgendwo dokumentiert sehen wollen. Am liebsten möchten sie keine Zuschauer, was sich aber nicht immer verhindern lässt, da mal der Förster vorbeikommt und nach dem Rechten schaut oder die Familie, die ihren Sonntagsspaziergang macht. Aber ein Lokalreporter der vorbeikommt und knipst, der ist da nach wie vor nicht besonders gerne gesehen. Auch weil es in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit den Medien gab.

Inwiefern?
Neumann: Als das Hobby noch relativ neu war, gab es die Vorstellung, dass Liverollenspieler seltsame Esoteriker sind, die schwarze Messen im Wald feiern. Gerade in der Lokalpresse war das am Anfang sehr schwierig darstellbar, was beim LARP eigentlich abläuft. Das Liverollenspiel ist erst in den letzten Jahren stärker in den medialen Fokus auch großer Qualitätsmedien gerückt.  Großveranstaltungen wie das Conquest of Mythodea tun ihr übriges, weil sie viel PR-Arbeit machen, auch für das Hobby. Es gibt inzwischen viel mehr Menschen, die zumindest mal von davon gehört haben und dem aufgeschlossen gegenüberstehen. Vermutlich auch, weil es heute auf jedem Dorf- oder Stadtteilfest einen Mittelaltermarkt gibt.

Das Liverollenspiel wird auch im pädagogischen Bereich eingesetzt. Was steckt hinter dieser Idee?
Neumann: Das Liverollenspiel als pädagogisches Konzept kommt aus den skandinavischen Ländern. In Dänemark gibt es zum Beispiel ein Internat, das das anbietet. Ich glaube, da geht es um den spielerischen Umgang mit bestimmten Themen. Und Kinder lieben es, im Wald unterwegs zu sein. Auch da ist das Konzept eine einfach gestrickte Welt. Die Kinder stellen dann natürlich eher die Guten dar und über die Darstellung des Guten können Werte wie Kameradschaft und Solidarität vermittelt werden. Es wird gemeinsam ein Ziel verfolgt, ohne dass dabei jemand untergebuttert wird. Solche Ansätze sind im Liverollenspiel sehr gut umsetzbar.

Was haben Sie persönlich durch LARP gelernt?
Neumann: Ich habe herausgefunden, dass ich offensichtlich 150 Leute motivieren kann. Im normalen Leben hat man selten die Gelegenheit dazu, das herauszufinden. Alles andere ist irgendwie schon da gewesen: Ich habe mich als Kind bereits gerne verkleidet, Fasching in der Schule fand ich super. Ich mochte am liebsten die Verkleidung, wo man mich nicht erkannt hat. Von daher ist mein Hobby nur die konsequente Weiterführung dessen, was ich als Kind schon mochte.

Wäre LARP eine gute Therapie für Kinder, die nicht vom Computer wegkommen?
Neumann: Ich glaube schon. Man kann beim LARP merken, dass so ein Hobby auch zusammenschweißen kann, wenn die Leute neben mir stehen und nicht tausend Kilometer entfernt sind. Wir beobachten allerdings, dass der Aspekt des Rollenspiels und des Interagierens miteinander bei den Heranwachsenden, die heute neu dazukommen, etwas in den Hintergrund und das Gewinnen-wollen oder das Sammeln von Punkten in den Vordergrund tritt. Die Neueinsteiger sind 15, 16 Jahre alt, kommen sehr häufig aus dem Computerspiel-Bereich und da geht es darum, Punkte zu machen, um das nächste Level zu erreichen.

Wir hätten da noch eine Idee für ein LARP: Der 1. Mai in Berlin. Wäre das ein Setting?
Neumann: Nein, ich glaube für ein Liverollenspiel nicht, weil es zu dicht an der Realität ist. Es wäre ja auch nur ein reines Kampfsetting, da gebe es keine Interaktion. Man hätte zwei Reihen: die bösen Randalierer und die guten Polizisten. Oder andersrum. Aber man will ja schon eine ganze Geschichte spielen.
Die Bereitschaftspolizei übt so etwas natürlich in Rollenspielen, um sich auf den ersten Mai vorzubereiten.

Wäre das Setting 1. Mai auch zu nah an der Gegenwart?
Neumann: Ja, ich glaube auch das. Da ist nicht der Reiz da. Und ich sag es jetzt mal ganz böse: wer so etwas haben will, der geht einfach ganz real zum 1. Mai. Da ist das Adrenalin dann auch noch echter.

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