Herr Professor Nagel, Sie haben unter anderem in Hannover, in den USA und Frankreich studiert, dozieren jetzt in Bayreuth – inwiefern hat sich die Art und Weise, wie der christliche Glaube an diesen Orten gelebt wird, voneinander unterschieden?
Nagel: Bei den unterschiedlichen Verortungen des kirchlichen Lebens im gesellschaftlichen Alltag muss man differenzieren. Das betrifft zum einen das Alltagsleben, zum anderen die Situationen in den Krankenhäusern und an den Universitäten. Was das alltägliche Gemeindeleben angeht, da gleichen sich alle Länder, in denen ich war. Es gibt überall sehr aktive Gemeinden und auch Regionen, wo man vom gemeindlichen Leben nicht viel erkennen kann.
Das ist in den Institutionen anders?
Nagel: In Großbritannien war ein Bezug zu christlichem Alltagsleben für einen Studenten wie mich, der sechs Monate vor Ort war, kaum heraus zu spüren. Allerdings war ich in Schottland, vielleicht ist das in Zentralengland wieder etwas anders. In den USA hingegen gibt es gerade an den Universitäten ein sehr starkes, vielfältiges religiöses Leben, das auch weit über das hinaus geht, was wir aus Deutschland kennen. Das geht auch in den Alltag hinein, bis hin zur Strukturierung der Woche, je nachdem, welcher Konfession, welcher Religion die Studierenden angehören. Atheisten neben Muslimen, Juden, Christen und so weiter, sie leben das alles ganz offen und unvoreingenommen nebeneinander – das ist für mich jedenfalls sehr ermutigend gewesen.
Sie sehen eine Trennung von Staat und Glauben also nicht als Ideal an?
Nagel: Es gibt bestimmte Länder, insbesondere in Frankreich, wo man diese strikte Trennung für unabdingbar erachtet. Wenn ich zu einer Vorlesung in eine französische Universität eingeladen werde und zum Beispiel über die geschichtliche Entwicklung des medizinischen Fortschritts referiere, wird meine Bezugnahme auf das Christentum im Hinblick auf die Entwicklung des Gesundheitswesens zum Teil scharf kritisiert, weil das ein Gegenstand sei, der in einer Vorlesung an einer französischen Universität nicht thematisiert werden dürfe. Das halte ich schon für sehr ausgrenzend, weil es sich da ja nicht um Glaubensinhalte handelt, sondern um Kulturgeschichte.
Inwiefern unterscheidet sich das von den deutschen Universitäten?
Nagel: In der Praxis haben wir die Säkularisierung der Wissenschaft weitgehend realisiert. An Universitäten ohne theologische Fakultät hängt es von den einzelnen Hochschullehrern ab, ob sie, aus welchen Gründen auch immer, Bezüge zu Glaubensinhalten herstellen. Wenn das dann jemand tut, regt sich hier allerdings niemand darüber auf. Über solche individuelle Fälle hinaus lassen sich konkrete Glaubensinhalte an einer Universität mit einer liberalen Grundeinstellung natürlich nicht unterbringen. Ähnliches gilt es auch im Krankenhaus. Besonders in Frankreich, aber auch in England ist eine aktive Klinikseelsorge eigentlich nicht vorhanden.
Das heißt, wenn ein Krankenhaus nicht von der Kirche finanziert wird, ist dort ein geistlicher Beistand für Kranke und Sterbende oder auch für die Behandelnden nicht vorgesehen?
Nagel: Ja, ob dieser Beistand angeboten wird, ist dort in der Regel abhängig von den Trägern des Krankenhauses. In Deutschland gibt es ein ganz klares Nord-Südgefälle. In Hannover erkannte ich eine durchaus sichtbare Klinikseelsorge an der medizinischen Hochschule, die in der Größenordnung vergleichbar war mit dem Angebot, das es zum Beispiel in Augsburg gibt. Nur ist der Stellenwert dort ein anderer. In Norddeutschland haben Menschen eine größere Scheu, sich zum Beispiel mit einer Pastorin oder einem Pfarrer zu unterhalten. Das ist ein klarer Unterschied zu Süddeutschland, da gehört es – im Moment noch – zum Alltag. Auch da kann man Veränderungen, ein Zurückdrängen dieser Normalität feststellen, was ich natürlich bedaure.
Inwiefern ist es bezeichnend, dass zu Beginn unseres Gesprächs, in der Beschreibung des Alltags, die unterschiedlichen christlichen Konfessionen eigentlich keine Rolle gespielt haben? Wozu braucht die Ökumene, also der gemeinsame Dialog zwischen christlichen Konfessionen, eine Bewegung, einen eigenen Kirchentag?
Nagel: Mann muss nochmal sehr differenzieren, gerade im Hinblick auf die verschiedenen Generationen, zwischen der Realität konfessioneller Trennung und der Situation der alltäglichen Akzeptanz heute. Wenn jemand wie Johannes Rau von seinem Elternhaus in Wuppertal gesprochen hat, dann hat er immer wieder berichtet, wie noch in den 50er und 60er Jahren die Realität für Reformierte oder Protestanten in einem zum Teil stark katholisch geprägten Umfeld aussah. Da waren die Feiertage, die jeweils nur evangelische oder katholische Feiertage waren, auch Kulturkampftage, in denen sich die jeweils andere Seite bewusst provozierend verhalten hat, um gegenüber der anderen Konfession deutlich zu machen: mit euch wollen wir nichts gemeinsam machen.
Es ist auch noch gar nicht lange her, dass Ehen zwischen Katholiken und Protestanten zumindest gefühlt ein Problem dargestellt hätten…
Nagel: … gar nicht davon zu reden, dass sie mal versucht hätten, als evangelischer Pfarrer eine katholische Frau zu heiraten. Die Grundvoraussetzung war noch in den 70er Jahren die Konvertierung der Katholikin, sonst musste der Pfarrer sein Amt abgeben. Da hat sich in Sachen Akzeptanz unheimlich viel getan, vor allem auch auf protestantischer Seite. Allerdings weniger, weil man sich „auf gleiche Augenhöhe“ begeben hätte, wie man das immer so schön formuliert, sondern weil die Differenzen im Alltagsleben keine so große Bedeutung mehr haben, beziehungsweise weil die Kirchen das Alltagsleben zunehmend weniger prägen.
Welche Aufgabe hat dann die Ökumenische Bewegung heute noch?
Nagel: Ich persönlich bedauere, dass bisher die institutionellen Zusammenschlüsse ausgeblieben und eigentlich noch sehr viele der trennenden Punkte erhalten geblieben sind. Denn parallel dazu, dass für die Majorität die Unterschiede zwischen den Konfessionen in der Tat unwichtiger geworden sind, gibt es in allen Konfessionen Minderheiten, die um so stärker die Unterschiede betonen. Wenn eine Identität verloren geht, gibt es in aller Regel eben eine kleinere Gruppe, die versucht, diese Identität im Sinne eines Wertes an sich zu verteidigen.
Also wird der Großteil der Gläubigen, die den ökumenischen Gedanken im Alltag praktizieren, von einer Minderheit verwaltet, für die eine Aufweichung der konfessionellen Gegensätze eine strukturelle Bedrohung darstellt. Welche Folgen hat dieser Widerspruch?
Nagel: Ich persönlich glaube, dass die Kirchen einen großen Fehler machen, wenn sie unter Verweis auf langwierige geschichtliche Prozesse an ihren Standpunkten festhalten und generell von Ökumene auch nur dann sprechen wollen, wenn sie wesentliche Grundsätze ihrer eigenen Traditionen erhalten können. Dann wird jeder für sich bleiben, wo er ist, dann wird es keine Gemeinsamkeit geben und das bedeutet für die Institution Kirche, sie wird an Bedeutung verlieren.
Ich bin fest davon überzeugt, dass das Thema Ökumene für diejenigen, die 50 Jahre und älter sind, ein großes Thema ist und bleiben wird. Für viele jüngere Menschen ist es ein zunehmend irrelevanteres Thema und für viele Jugendliche ist Ökumene ein Thema mit zum Teil nur noch historischer Bedeutung.
Davon abgesehen ist der Ökumenische Kirchentag eine sehr junge Veranstaltung, er findet nun in München erst zum zweiten Mal statt. Wie unterscheidet sich Ihr jetziges Amt von dem des Präsidenten des Evangelischen Kirchentags, das Sie 2005 ja auch schon einmal inne hatten?
Nagel: Der Ökumenische Kirchentag ist ein Treffen der kirchlichen Laienverbände und wird nicht von den Amtskirchen veranstaltet. Gleichwohl wird er in der Öffentlichkeit oft als Treffen der Kirchen wahrgenommen. Was die Unterschiede angeht, so muss man bedenken, dass da nicht nur Kirchen zusammentreffen, sondern verschiedene Kulturen. Wenn ich auf der einen Seite gesagt habe, wir haben im christlich konfessionellen Kontext eine Minimierung von Differenzen was das Alltagsleben angeht, dann ist das zwar völlig richtig, aber es wäre viel zu kurz gesprungen, wenn man daraus schlussfolgern würde, dass der Schritt, wieder zusammen zu gehen nicht so wahnsinnig groß sein könnte. Das würde nämlich ausblenden, dass wir in der Evangelischen und Katholischen Kirche eine unterschiedliche kulturelle Entwicklung von jetzt 500 Jahre hinter uns haben, zur Orthodoxen Kirsche gibt es eine kulturelle Differenzierung von über 1000 Jahren. Und diese unterschiedlichen Kulturen haben Menschen, ganze Staaten geprägt, Regionen charakterisiert und das kann man natürlich nicht in einigen wenigen Grundsätzen zusammenfassen. Es sind zwar manchmal nur Nuancen, die uns unterscheiden, aber die sind nicht trivial.
Wie machen sich diese Unterschiede, zum Beispiel in der Planung eines Kirchentages bemerkbar?
Nagel: Der Kirchentag hat ein sehr partizipatives Grundelement: das Präsidium beruft Arbeitsgruppen und diese Arbeitsgruppen verantworten autonom, was für Veranstaltungen sie organisieren. Dieses autonome Element ist in der katholischen Tradition weniger ausgeprägt und nicht unbedingt selbstverständlich. Nicht selten wird überprüft, ob eine Veranstaltung, die katholischen Laien untersteht, auch tatsächlich den Grundsätzen der übergeordneten Organisatoren entspricht. Das kann man sich bei Protestanten kaum vorstellen.
Bis hierhin zusammengefasst: wenn die Kirche der Zukunft jene Einheitskirche werden soll, als die sie im öffentlichen Alltag heute schon teilweise wahrgenommen wird, wäre der Ökumenische Kirchentag dann paradoxer Weise dazu da, sich dieser Entwicklung eher zu widersetzen, indem er in der direkten Konfrontation die Differenzen der Konfessionen besonders deutlich zu Tage treten lässt? Dafür spräche, dass die Priester, die auf dem ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003 das Abendmahl auch an Nichtkatholiken ausgaben, für diese praktizierte Ökumene später suspendiert wurden.
Nagel: Zum letzten Punkt will ich einfach nur sagen, dass damals, in der Vorbereitung des Kirchentages die Laienverbände das gemeinsame Abendmahl ganz klar auf ihrer Agenda hatten. Ich kann aus meiner Sicht nur sagen: Toll, dass die das damals gefordert haben, aber gleichzeitig ist diese Forderung einfach unrealistisch gewesen. Vielleicht war das auch eher ein psychologisches Phänomen – man meinte, die Menschen so überhaupt erst motivieren zu können. Aber es ist weder die Aufgabe der Laienorganisationen, noch haben sie die Möglichkeit dazu, konkrete Schritte zu realisieren, die nur die Amtskirchen selber verantworten können.
Was also ist die Zielsetzung des Ökumenischen Kirchentags?
Nagel: Statt sich an etwas abzuarbeiten, was nicht realistisch ist, sollten die Kirchen durch gelebte Gemeinsamkeit, durch ein emotionales Miteinander, durch Realisierung geteilter Ansichten und Werte soweit gebracht werden, zu sagen: entweder gehen wir gemeinsam weiter, oder wir verlieren einen Großteil derer, die uns als Kirche brauchen, denen wir als Kirche auch Heimat bieten können, um christlichen Glauben zu leben.
Das heißt mit der praktischen Realisierung des ökumenischen Gedankens, mit einem Selbstverständnis als Einheitskirche, in der verschiedene Traditionen parallel lebbar sind, aber langfristig auch zur Disposition stehen, ist letztlich die Existenzfrage der Amtskirchen verbunden?
Nagel: Das können wir so artikulieren, das werden wir auch in München deutlich machen. Wir sollten und wollen in Deutschland zukünftig einen sehr viel weiteren Ökumene-Begriff leben als bisher. Die Kirchen haben ein berechtigtes Interesse, ihre Mitglieder zu behalten und neue dazu zu gewinnen und das werden verständlicherweise in einer sichtbaren Anzahl nur solche Mitglieder sein können, die auch die Lebensrealität einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft widerspiegeln. Eine andere Gesellschaft haben wir nicht mehr. Wir müssen uns auf Pluralität und auf die Integration vieler Lebensentwürfe einstellen.
Wir haben in der evangelischen und katholischen Kirche eine unterschiedliche kulturelle Entwicklung von jetzt 500 Jahren hinter uns.
Wäre der konsequenteste Ökumenische Kirchentag in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft nicht ein „Religionstag“?
Nagel: Der Ökumene-Begriff kann unterschiedlich weit verwendet werden. Ich meine hier eine Ökumene, die nicht auf ein Zwiegespräch zwischen Katholiken und Protestanten verengt ist, sondern als eine Verbindung verschiedener christlicher Konfessionen gelebt wird. Diese erweitere Ökumene kommt zum Beispiel im Bild der Tischgemeinschaft zum Ausdruck. Das ist noch etwas anderes als eine Ökumene aller Religionen, auch wenn dieser Schritt sicher auch zur Verbesserung eines interreligiösen Dialogs beitragen kann.
Der Dalai Lama hat auf dem letzten Ökumenischen Kirchentag in Berlin die Waldbühne gefüllt.
Nagel: Der Dalai Lama trat als Gastredner auf. Wir haben eine intensive Kultur des Dialogs. Wir haben klare und eindeutige Stellungnahmen, dass Kirchentage keine Orte sind, wo wir missionieren wollen, sondern der gegenseitige Respekt tragend ist. Das dient dem Kennenlernen, das dient dem Engagement von Christen und Christinnen in der Gesellschaft, das dient aber auch der Konturierung des Verständnisses der eigenen Glaubensinhalte in Differenz zu dem, was andere Konfessionen oder andere Religionen anbieten. Religionstage wollen und werden wir nicht sein. Aber wir wollen natürlich thematisieren, was religiöses Engagement in unserer Gesellschaft bedeutet, insofern gibt es da natürlich Schnittmengen.
Warum sind Sie denn evangelischer Christ?
Nagel: Die Frage ist erstmal relativ einfach zu beantworten: weil mich meine Eltern als Kind haben taufen lassen. Man kann die Taufe nicht ungeschehen machen. Ich habe mich aber ganz bewusst auch konfirmieren lassen, weil ich ein selbstbestimmtes Teil einer Gemeinde sein wollte. Ich habe mich auch irgendwann entschieden, aus meiner Glaubensüberzeugung kein Geheimnis zu machen, sondern sie auch öffentlich zu thematisieren, primär im Kontext meiner beruflichen Tätigkeit – einfach, weil es gerade in meinem Fachbereich, der Transplantationsmedizin sehr häufig um existentielle Bedrohungen geht. Da habe ich mich entschieden, meine Glauben dort, wo es mir angebracht und hilfreich erscheint, gegenüber den Patienten auch auszudrücken. Ich habe gemerkt, mein Glaube ist keine Privatangelegenheit. Er hat Implikationen für meine berufliche Alltagssituation, darüber hinaus auch zum Beispiel dafür, wie ich mir wünsche, dass unsere Kinder erzogen werden, wie ich mir wünsche, dass politisch eine Struktur wie das Gesundheitswesen organisiert ist. Diese Verbindung zwischen Glaubensüberzeugungen, kulturellen und politischen Zielsetzungen hat mich eben ganz bewusst dazu gebracht, evangelischer Christ zu sein.
Bis hierhin könnte das auf einen katholischen Christen genauso zutreffen.
Nagel: Evangelisch bin ich, weil ich in meiner Glaubensüberzeugung ein Menschenbild habe, das davon ausgeht, dass unser Leben ein Geschenk von Gott ist, dass ich eine Verantwortung trage, mit diesem Geschenk und darum auch mit meinem Nächsten sorgsam umzugehen. Ich bin in die Verantwortung genommen, mein Leben auf der Basis dessen, was Gott mir mitgegeben hat, auch im Zwiegespräch mit ihm zu realisieren. Dass das authentisch geschieht und nicht nur in Abhängigkeit von einer aus der Tradition und Geschichte heraus begründbaren Institution, ist ein möglicher Unterschied zum Leben als Katholik, der einer Kirche angehört, die ein Amts- und Menschenverständnis hat, das oft einer aufgeklärten und demokratischen Grundeinstellung an gewissen Punkten zuwider läuft.
Sie sprachen vom Gesundheitswesen – auf dem Ökumenischen Kirchentag sprachen Sie am 13. Mai auch bei der Veranstaltung „Lieber reich und gesund als arm und krank“. Mein neuer Zahnarzt hat neulich zu mir gesagt: „Sie sind doch privat versichert, warum sind dann ihre Füllungen so schlecht?“ Was hat die Kirche damit zu tun?
Nagel: Zuallererst sollte die Kirche als Arbeitgeber ein klares Bekenntnis zur gesetzlichen Krankenversicherung abgeben, ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gesetzlich krankenversichern und nicht in einen privaten Kontext stellen. Das wäre ein klares Bekenntnis zum Solidaritätsgedanken innerhalb der Krankenversicherung und man muss sich kirchlicherseits fragen lassen, warum das nicht der Fall ist.
Haben Sie schon gefragt?
Nagel: Noch nicht, aber die Veranstaltung steht ja noch aus. Wichtig ist, dass Kirchen und Christenmenschen sagen: nach unserem Menschenbild muss jeder gleiche Rechte und Zugangsmöglichkeiten zum medizinischen Versorgungssystem haben. Da es sich bei Gesundheit um ein konditionales Gut handelt, ähnlich wie Bildung, darf der Zugang dazu nicht vom sozialen Status abhängen. Das heißt ja nicht, und das wird oft verkannt, dass wir in eine Situation kommen, in der alle gleich sind, alle das Gleiche bekommen. Bei einem Loch in Ihrem Zahn kann es ja unterschiedliche Strategien der Behandlung geben, die aus ärztlicher Sicht indiziert sind. Es geht nur um die Frage, habe ich die gleichen Möglichkeiten, die notwendige und wirtschaftlich akzeptable Therapie auch zu bekommen?
Ist das nicht in erster Linie die Verantwortung des Staates, weniger der Kirchen?
Nagel: Ich war vor kurzem im Gesundheitsministerium und da hat die Leitung des Hauses nochmal unterstrichen, dass unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die Gleichheit des Menschen auch in der medizinischen Versorgung immer gewahrt werden muss. Und das schreibt unsere Verfassung vor, weil sie eine christlich geprägte Verfassung ist. Umso mehr sollten Kirchen, die ja dankenswerterweise noch oft als Träger von Krankenhäusern in Erscheinung treten, genau damit Ernst machen, gleiche Zugangsvoraussetzungen zu schaffen und zu realisieren.
Woran wäre zu messen, dass diese Haltung praktisch umgesetzt wird?
Nagel: Das erweist sich vor allem im Alltag des Einzelnen. Im großen Rahmen muss man sagen, dass alle Aktivitäten in den letzten Jahrzehnten nicht dazu geführt haben, dass eine gerechtere medizinische Versorgung auch zu einer Lebenserwartung führen würde, die unabhängig von der sozialen Lage wäre. Warum das so ist, wissen wir noch nicht genau, wir forschen aber intensiv. Hoffentlich finden wir Indikatoren, an denen wir drehen können, damit sich diese Situation nicht festsetzt in der Gesellschaft. Im Moment müssen wir aber bedauerlicher Weise zur Kenntnis nehmen, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen arm und reich eher größer werden als kleiner.
Man kann über die Situation der Kirche momentan nicht reden, ohne den Missbrauchsskandal zu thematisieren. Welche Fragen ergeben sich daraus an die Kirche?
Nagel: Selbstverständlich wird der Ökumenische Kirchentag in seiner Vorbereitung und in der Wahrnehmung von außen ganz stark von diesen Ereignissen geprägt, die erschütternder nicht sein könnten. Warum sind die so erschütternd? Erstmal natürlich angesichts dessen, was passiert ist, aber dann eben auch, weil es in der Kirche passiert ist. Es ist zwar ein richtiges Argument zu sagen: Misshandlungen an Kindern kommen vor allem in den Familien, auch in Sportvereinen oder anderen Institutionen vor. Überall dort ist es genauso unerträglich, genauso unvorstellbar, wenn man von außen drauf blickt. Aber es führt zur individuellen Infragestellung der individuellen Situation. Bei der Kirche führt es auch zur generellen Infragestellung der Institution, zu einer fundamentalen Krise, weil in diese Ereignissen tatsächlich die Kernbotschaften des Christentums ausgehebelt wurden.
Es wird in München mehrere Veranstaltungen dazu geben. Worum wird es da gehen?
Nagel: In München, wie an vielen anderen Orten im Moment muss diskutiert werden: Wie konnte das passieren? Was sind die möglichen Erklärungszusammenhänge? Was kann man tun, damit die Vorfälle aufgearbeitet werden, dass am Ende alles, was bislang vertuscht worden ist, ans Tageslicht kommt. Ich hoffe, dass aus dieser Krise neue und menschenwürdige Strukturen erwachsen.
Im Fokus des Skandals steht allerdings die Katholische Kirche.
Nagel: Vordergründig handelt es sich um ein Problem der Katholischen Kirche, das sich womöglich auch aus bestimmten Strukturen der Institution ergibt. Das darf einen evangelischen Christen aber in keiner Weise beruhigen; er sollte mit dieser gesamtgesellschaftlich relevanten Problematik nicht anders umgehen, als ein katholischer Christ. Auch in der Evangelischen Kirche gibt es vereinzelt Missbrauchsfälle, die aber weniger ein institutionelles, als vielmehr ein individuelles Problem in der jeweiligen Situation darstellen. Aber auch hier gilt: in der öffentlichen Wahrnehmung stehen die christlichen Ideale aller Konfessionen zur Disposition. Deshalb ist es eine Krise der Kirche insgesamt und keine Krise, die nur die Katholische Kirche betrifft.
Was sind die konkreten Schritte auf dem Weg aus der Krise?
Nagel: Es bedarf dringend einer Aufarbeitung, die auch diese Infragestellung letztendlich löst und die nochmal deutlich macht, dass Christen ein Menschenbild haben, das getragen ist von Nächstenliebe und Respekt. Dazu gehört auch die absolute Integrität und Erhaltung der Integrität der in die Verantwortung Gestellten. Und die können wir nur wiedergewinnen, und ich meine wirklich wieder gewinnen, denn die haben wir in der öffentlichen Wahrnehmung verloren, wenn wir uns radikal zu diesen Werten bekennen und auch so handeln.
Das heißt, die aktuelle Krise könnte zu einem Wiedererstarken der Kirche, zu einer Erneuerung aus sich selbst führen?
Nagel: Dieser Verlust an Integrität ist ja auch das Ergebnis eines schleichenden Prozesses in den letzten Jahrzehnten, in denen die Kirche an vielen Stellen nicht abbilden konnte, wie sie für soziale Gerechtigkeit eintritt, wie sie kulturell bedingte Ungleichheiten anprangern und dann auflösen will. Menschen unvoreingenommen tatsächlich in Respekt, in Liebe, in unterstützender Haltung zu begegnen, das hat sie Stück für Stück immer weiter verloren und darum muss sie jetzt kämpfen. Wenn ihr das nicht nachhaltig gelingt, wird sie die Welt in Zukunft nicht mehr so prägen, wie sie das bisher getan hat. Und Kirchentage haben ihren besonderen Erfolg, weil es in einem Ereigniskontext von fünf Tagen leichter gelingt, die grundlegenden christlichen Botschaften konkret werden zu lassen.
Was unterscheidet die von Ihnen gewünschte Rolle der Kirche von Anforderungen, die man zum Beispiel an politische Parteien stellen könnte? Bräuchte eine ideale Gesellschaft die Kirche überhaupt?
Nagel: Unser Zentrum ist der christliche Glauben. Wir müssen uns ja nochmal vergegenwärtigen: Wo kommt denn das Primat der Nächstenliebe her? Das ist ja keine ethische Präambel einer politischen Partei, sondern eine klare Zusage und Botschaft, die man nur durchhalten und erhalten kann, wenn man sie selbst aufgenommen und wahrgenommen hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass es dem Menschen nicht möglich ist, zu lieben, wenn er nicht das Gefühl hat, selbst geliebt zu werden. Und diese Zusage Gottes, dass er den einzelnen liebt, respektiert, ihm beisteht, das ist die konkret gewordene Grundlage, in der sich ein Christ einem anderen Menschen zuwendet. Das ist kein politisches Programm, das ist kein den jeweiligen Verhältnissen anzupassendes Verhalten, das ist eine innere Überzeugung, ein Glaube, der einen befähigt, so zu handeln. Und der ist auch deshalb nicht ersetzbar durch andere kulturellen Kontexte, weil er nicht mit dem Tod des Menschen, mit den Grundlagen der materiellen Wahrnehmung des Einzelnen endet. Unser Glaube hat seinen Sinn eben auch in der spirituellen Erfahrung einer Perspektive, die weiter ist, als Zeit und Raum. Dennoch denken wir in Zeit und Raum und sind von Gott befähigt, vernünftig zu handeln. Aber darauf beschränkt sich eben jemand, der keine Glaubensüberzeugung hat, sondern sich an den Parametern der reinen menschlichen Existenz orientiert.
Auf einer weiteren Veranstaltung des Kirchentages, am 14. Mai, suchen Sie mit Bundeskanzlerin Merkel „Eine Formel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Sie halten offenbar in dieser Formel den christlichen Glauben für eine unverzichtbare Größe.
Nagel: Unbedingt. Dass er, wie gesagt, politisch nicht ersetzbar ist, sehen Sie ja in den Diskussionen über den Stellenwert der Politik in den zurückliegenden Jahrzehnten. Die geht beständig mit den Fragen einher: Was bewegt eigentlich die Politik? Wo sind denn die Werte, an denen die Menschen ihr Handeln ausrichten und warum tun sie das überhaupt? Kein Grundsatzprogramm einer Partei ist dafür Begründung genug, um sich als Gesellschaft insgesamt damit zu identifizieren oder daraus ihre Werte abzuleiten, nicht zuletzt ihre Gesetzgebung. Dazu braucht es eine andere Basis und diese andere Basis kann das Christentum liefern. Das Christentum ist so liberal und so undogmatisch, dass es tatsächlich die Freiheit des Einzelnen, die Freiheit der Positionierung und der Entscheidungsfindung zulässt. Das unterscheidet den christlichen Glauben von anderen ideologischen Prägungen, auch religiöser Art.
Welche Grenzen sind Ihnen auf dieser Basis in Ihrem Beruf als Mediziner gezogen?
Nagel: Da gibt es selbstverständlich bestimmte klare Positionen meinerseits aus meinem Würdebegriff heraus, der sich eben speist aus dem Verständnis des geschenkten Lebens. Nehmen wir mal die embryonale Stammzellenforschung. Da kommen wir sicherlich zu anderen Schlüssen, als ein Materialist oder selbst zu anderen Schlüssen als ein Jude, der einen anderen Zeitpunkt des Lebensbeginns aus seiner Glaubensüberzeugung ableitet. Ich kritisiere nicht, dass man in einem anderen Glauben zu anderen Schlussfolgerungen kommt. Ich habe das zu respektieren, auch wenn es für mich eine nicht akzeptable Instrumentalisierung des menschlichen Lebens ist, wenn man zum Beispiel embryonale Stammzellen aus gezüchteten Embryonen gewinnt.
Was bedeutet das für die Wissenschaft und Forschung?
Nagel: Ich bin niemand, der generell Bedenken gegenüber dem medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt hat, weil ich fest davon überzeugt bin, und alles andere wäre nicht konsequent, dass das, was Menschen entdecken und erkennen können etwas ist, das Gott zur Erkenntnis freigibt. Und solange das so ist, solange wir in der Lage sind, mit dem uns von Gott geschenkten Leben neue Erkenntnis zu gewinnen, solange ist es auch in Ordnung, dass wir sie gewinnen. Was wir dann damit machen, was wir letztendlich umsetzen, das muss sich wieder hinterfragen lassen im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den christlichen Werten. Aber Erkenntnis an sich kann gar nicht verboten sein.
Vertrauen in Erkenntnis würde demnach regulierende Verbote ersetzen?
Nagel: Meines Erachtens fehlt es gerade denjenigen in der Kirche, die fordern, dass Wissenschaftler sich selbst beschränken, das Vertrauen in die von Gott geschenkte Freiheit des Denkens und die Möglichkeiten des menschlichen Handelns.