Herr Stoiber, wann sind Sie heute Morgen aufgestanden? Wie beginnt Ihr Tag?
Stoiber: Der Tag beginnt für mich jetzt etwas später als noch als Ministerpräsident. Ich stehe so um 6 Uhr auf und mache dann erst mal eine halbe Stunde Sport, sitze auf dem Fahrrad-Hometrainer oder halte mich mit anderen Übungen fit, in der aktiven Zeit bin ich dazu fast nie gekommen.
Danach lese ich intensiv Zeitung, den Münchner Merkur, die Süddeutsche, BILD, FAZ und die WELT, daneben auch schon am Abend vorher online, frühstücke mit meiner Frau – und etwa um viertel nach 9 verlasse ich dann das Haus, sofern ich nicht nach Brüssel fliegen muss – dann geht es früher los.
Der Arbeitstag eines Politikers ist lang, viel Zeit für Privatleben und zum Schlafen bleibt nicht. Wie gut ist es Ihnen in der aktiven Zeit gelungen, dennoch einen normalen Familienalltag zu leben?
Stoiber: Ich brauche Gott sei Dank nicht so viel Schlaf. Aber so wie ich gelebt habe, das wäre schwer möglich gewesen, wenn meine Frau voll berufstätig gewesen wäre, mit drei Kindern. Abends war ich in der Regel nicht zu Hause, zusammengekommen sind wir vor allem morgens. Das Frühstück hatte natürlich ein gewisses Tempo, zehn, fünfzehn Minuten, aber da kriegte ich dann mit, wenn es mit den Englisch-Hausaufgaben Probleme gab, ein Lehrer blöd war, oder dass die Tochter Liebeskummer hat.
Es gab gewisse Rhythmen, wie Ski fahren zu Weihnachten, Ostern und Fasching. Ich habe auch versucht, die Sonntag-Nachmittage für die Familie zu blockieren. Und 1982/83, als Franz Josef Strauß wollte, dass ich als Verkehrsminister nach Bonn gehe, habe ich abgelehnt. Meine älteste Tochter war damals zehn, die zweite vier und mein Sohn zwei Jahre alt, da war mir bewusst: Das geht nicht. Der Preis ist zu hoch.
Wie viele Termine hatten Sie während Ihrer Amtszeit am Tag?
Stoiber: Etwa sechs bis sieben, zu unterschiedlichen Sachverhalten, zum Beispiel mit Handwerksverbänden, Europapolitikern, dann kommen persönliche Gesprächspartner, du sprichst in der Fraktion, danach hältst du vielleicht eine 30-minütige Grundsatzrede vor 300 Schülern… Dieser Wechsel ist natürlich reizvoll, bedeutet aber auch sechsmalige Vorbereitung, wenn man Substanz abliefern will. Von der Staatskanzlei bekommt man für jeden Bereich eine Mappe, wo jeweils drin steht, um welches Thema und welchen Schwerpunkt es geht – du musst sie nur lesen. Das ist manchmal ein Zeitproblem.
Wie oft waren Sie krank?
Stoiber: Ich habe das mal nachgeschaut, ich bin in den 14 Jahren als Ministerpräsident keinen einzigen Tag durch Krankheit ausgefallen. Das bedeutet nicht, dass man nicht mal krank ist, aber wenn ich schlecht beieinander war, konnte ich das verdrängen.
In der Politik brauchst du generell eine gute Konstitution. Angela Merkel hat zum Beispiel eine hervorragende Konstitution, sie hat eine schnelle Auffassungsgabe, wo sie geht und steht nimmt sie die Dinge auf.
Helmut Kohl verschob einst eine dringende Operation, um einen CDU-Parteitag leiten zu können…
Stoiber: Bei Kohl war das damals 1989 beim Bremer Parteitag eine Situation, wo er gespürt hat, dass es eine Front gegen ihn gibt.
Hätten Sie auch so gehandelt?
Stoiber: Wohl ja. Das ist vielleicht auch mein Pflichtbewusstsein. Die sogenannten Sekundärtugenden, Disziplin und Fleiß waren mir immer sehr wichtig.
Kann die Kondition eines Politikers letztlich politikentscheidend sein, in einem Verhandlungsmarathon beispielsweise?
Stoiber: Ja klar, wenn Sie mitten in der Diskussion sind und es wird 1 Uhr, 2 Uhr, halb drei, es geht um wichtige Dinge… Da stellt sich schon die Frage: Ist jemand aus konditionellen Gründen zu gewissen Zugeständnissen bereit?
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Stoiber: Es gab zur Regierungszeit Schröders mal eine Situation im Vermittlungsausschuss, wo Joschka Fischer in einer langen Verhandlung plötzlich erklärte, dass steuerliche Belastungen für die Landwirtschaft kein Tabu seien. Da habe ich zum Schröder gesagt: „Der Herr Außenminister scheint die Problematik der Landwirtschaft nicht in ihrer Breite zu kennen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie das so weiter laufen lassen, melde ich eine Grundsatzaussprache zur Landwirtschaft an, die ich eröffnen werde.“ Daraufhin hat Schröder zu Fischer gesagt: „Du, der Stoiber meint das wirklich ernst.“ Das wollte er vermeiden, er hat mir zugetraut, dass ich nachts um halb zwei in dem Kreis eine Stunde lang über die Besonderheiten der Landwirtschaft diskutiere. Ich hätte das sogar gemacht, um eine Abstimmung über diese Frage zu verhindern. So schnell werde ich Gott sei Dank nicht müde.
Zum Politikalltag gehören auch die Reden. Vermissen Sie es, Reden zu halten?
Stoiber: Nein, ich vermisse das nicht. Ich kann mich ja vor Einladungen kaum retten.
Wer lädt Sie ein?
Stoiber: Das geht vom Ehrenamtsempfang in meiner Heimat über die Medientage in München bis zum Wirtschaftsrat der Union in Hamburg oder der Jungen Union Rheinland-Pfalz. Besonders interessiert sind junge Leute, Studierende. Viel Zeit verwende ich für mein Ehrenamt in Brüssel als Vorsitzender der High Level Group zum Bürokratieabbau. Das bedeutet unzählige Veranstaltungen in ganz Europa. Es gibt offenbar eine gewisse Sehnsucht nach Elder Statesmen; Helmut Schmidt gilt als das Gewissen Deutschlands, Kurt Biedenkopf macht Gott sei Dank weiterhin kluge Einwürfe, doch Ministerpräsidenten wie Roland Koch, Erwin Teufel oder Bernhard Vogel haben sich stark zurückgezogen. Auch deswegen habe ich einen Druck an Einladungen und es gibt die Erwartung: Der Stoiber geht ins Grundsätzliche, der ist jetzt vom Zwang der Tagespolitik befreit. Das ist schon klar, man hat jetzt nicht mehr die Verantwortung. Als Parteivorsitzender reden Sie ja nicht für sich.
Was empfinden Sie vor einer Rede?
Stoiber: Es ist bei jeder Rede eine gewisse Anspannung, weil man keine Routine abliefern will, man versucht, seine Botschaft so gut wie möglich rüber zu bringen. Das gelingt nicht immer, das spürt man dann auch, ob es gut läuft. Und es hängt natürlich auch vom Publikum ab.
Politik zu vermitteln ist auch schwieriger geworden, immer weniger Politiker können ein Bierzelt oder einen großen Marktplatz füllen.
Woran scheitert das?
Stoiber: An der Komplexität der Politik. Diskutieren Sie mal über Aufgabe und Mandat der Europäischen Zentralbank. Wie sieht es wirklich aus in Spanien, Portugal, Griechenland? Gelingt es uns, bei den Menschen eine Nachdenklichkeit hervorzurufen, also nicht nur diese Aversion „warum zahlen wir für die Griechen? Die müssen sich mehr anstrengen“, sondern, dass die Menschen auch darüber nachdenken, welche Folgen die Sparpolitik für den normalen Griechen hat.
Man will die Menschen politisch interessieren, auch überzeugen, sich zu engagieren. Das ist bei der Vielfältigkeit, mit der die Menschen heute belastet werden, schwieriger als gestern.
Reden scheinen heute weniger Macht zu besitzen, kaum eine bleibt den Menschen im Gedächtnis.
Stoiber: Das mag sein. Doch Parteitagsreden beispielsweise sind für die Nachhaltigkeit der Partei nach wie vor von großer Bedeutung.
Aber wird nicht immer das Gleiche gesagt?
Stoiber: Nein, man setzt immer andere Schwerpunkte. Allerdings ist es nicht leicht, einen Schwerpunkt zum Beispiel auf den Syrien-Konflikt und dessen Auswirkungen zu setzen, weil die Deutschen Engagement in der Außenpolitik nicht besonders goutieren. Da ist das Interesse wesentlich geringer als bei innenpolitischen Fragen. Wenn es um die Rente oder die demographische Entwicklung geht, erreicht man die Leute eher, wenn ich etwa darüber spreche, dass die Europäische Union gegenwärtig 500 Millionen Einwohner hat, es in vierzig Jahren aber nur noch 450 Millionen sein werden, während die Weltbevölkerung weiter wächst.
Gibt es Tricks, Redensarten bei denen einem die Aufmerksamkeit gewiss ist?
Stoiber: Ich stelle fest, dass man am besten verstanden wird, wenn man Vergleiche aus dem Fußball bringt, wenn man große komplizierte Sachverhalte einfach erklären kann. Sie treffen mit öffentlichen Äußerungen ja auf Menschen unterschiedlichster Erfahrungen und unterschiedlichster Kenntnisse, laut einer Allensbach-Studie sind 50 % der deutschen Bevölkerung politisch desinteressiert. Doch was Champions-League ist, wissen die Leute.
Lula, der brasilianische Präsident hat einmal bei einer Umweltkonferenz (Kopenhagen) zu den europäischen Vertretern gesagt: „Ihr könnt einmal, zweimal mit 10 Mann gegen 11 spielen, aber auf die Dauer wird das schwierig für euch.“ Damit meinte er die demographische Entwicklung in Europa, treffender kann man das Thema gar nicht ansprechen. Wenn ich das den Leuten so erkläre, bekomme ich große Aufmerksamkeit.
Am bekanntesten ist vermutlich Ihre Transrapid-Rede geworden, für die Sie viel Häme haben einstecken müssen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Stoiber: Diese Häme hat mich nie wirklich berührt. Es gibt da ja zwei Welten: Einerseits die Welt derer, die mit Spott und Hohn über so etwas herziehen, eine Medienwelt, die sich Jahre danach an dieser Rede erfreut, mit unglaublichen Klicks und Kult. Aber das hat mich nicht geschmerzt, weil ich auf der anderen Seite immer die große Mehrheit der Bevölkerung hinter mir hatte. Überall wo ich hingekommen bin war die Bude voll, ich habe eine Fülle von Wahlkämpfen gemacht, immer über 50 Prozent geholt.. Für den Politiker zählt der Rückhalt in der Bevölkerung.
Was genau hat Sie damals eigentlich so aus dem Konzept gebracht?
Stoiber: Das war Anfang 2002, ein außerordentlich dichter Tag, an dem ich mehrere Reden zu verschiedensten Themen gehalten habe, und der letzte Termin war abends der Neujahrsempfang der Münchner CSU. Da wollte ich den Leuten nur nochmal klar machen, was der Transrapid als schnelle Verbindung zum Flughafen bedeutet, dass letzten Endes schon der Bahnhof zu einer Art Gate wird und dass damit auch Ostbayern, West- oder Südbayern besser an den Flughafen angebunden werden. Die Leute im Saal haben das übrigens auch so verstanden.
Die „Heute-Show“ sammelt ja solche Versprecher, das ist das Tollste, was der Moderator da rauszieht. Ich sehe das selbst gerne und kann mich darüber amüsieren. Aber jeder will natürlich vermeiden, dort rein zu kommen. Deswegen beginnen viele schon mit der Schere im Kopf zu reden, zu handeln oder sich zu bewegen, damit sie nicht in die Gefahr geraten, als Depp dargestellt zu werden.
Hatten Sie im Laufe Ihrer Politiker-Karriere zunehmend Gefühl, den Gesetzen der Medien gehorchen zu müssen?
Stoiber: Die Medien sind für den Politiker ja entscheidend, sie sind der Transmissionsriemen zur Bevölkerung.
Aber der hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert.
Stoiber: Sicher, früher brauchte ich Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen, heute kann ich mit dem Internet viel schneller viele Menschen erreichen. Das verändert die Politik ganz entscheidend.
Und es gibt keinen Radiergummi mehr. Früher ist ein eckiger Satz in einer Rede verklungen, heute bleibt alles was du sagst, bestehen. Die parteiliche Diskussion ist heute auch viel öffentlicher, was zur Folge hat, dass das Wägen des Wortes immer gewichtiger wird. Du hast dann oft eine politische Debatte mit sehr abgewogenen Äußerungen, die sich von der Diskussion am Stammtisch – wo es die Political Correctness nicht gibt – weit entfernt hat. Auch deshalb ist der Franz Josef Strauß in der älteren Bevölkerung noch so populär. Bei dem haben die Leute gemerkt: Der redet wie wir. Meine eigenen Interviews, die ich früher als Generalsekretär gegeben habe, die könnte ich heute so nicht mehr geben. Die wären heute nicht politisch korrekt, da würde intern und extern nur über die Wortwahl diskutiert.
Politik zu vermitteln ist schwieriger geworden, immer weniger Politiker können ein Bierzelt oder einen großen Marktplatz füllen.
Wie haben Sie Journalisten wahrgenommen, glauben Sie zum Beispiel, dass manche Politikjournalisten gerne mitregieren würden?
Stoiber: Es gibt schon Journalisten der Top-Ebene, die wissen: Wenn sie ihren Leitartikel in eine bestimmte Richtung schreiben, hat der eine gewisse Wirkung, bis in die jeweilige Partei hinein. Es ist allerdings seltener geworden, früher, in den 60er/70er Jahren gab es starke Leitartikler, die sich auch ganz klar geoutet haben, wo sie politisch stehen.
Doch auch heute wittert man hier und da Kampagnen-Journalismus, Christian Wulff beispielsweise musste aufgrund des Drucks der Medien zurücktreten, ohne dass ihm eine Straftat nachgewiesen wurde.
Stoiber: Bei Christian Wullf war mit den staatsanwaltlichen Ermittlungen im Grunde genommen eine gewisse Verurteilung schon gegeben. Sie können als Politiker oft Ihr Recht nicht so geltend machen wie ein Normalbürger. Denn wenn ein Verdacht auf unkorrektes Verhalten aufkommt, wird der von vielen zunächst als gegeben betrachtet. So ein Verdacht wird in den Medien heute auch viel schneller ausgesprochen als früher. Die Recherche mancher Journalisten ist bei weitem nicht mehr so sorgfältig wie bei Ihren Vorgängern. Im Internet, wo stündlich Nachrichten produziert werden, sind die Kollegen immer auf der Suche nach einer absoluten Bombe. Und die schnelle Schlagzeile lässt sich der ein oder andere nicht mehr zerstören, in dem er nochmal gegencheckt.
Hat diese Schnelligkeit die Politik verändert?
Stoiber: Mit Sicherheit. Sie haben ja eine viel geringere Reaktionszeit. Wenn ich an meine Anfangszeiten zurückdenke, da gab es ein Ereignis, das stand am nächsten Tag in der Zeitung und dann hattest du einen Tag Zeit, darauf zu reagieren.
Heute hast du im Netz die Meldung und sofort die Gegenmeldung. Du hast nicht mehr so viel Zeit, um genau zu überlegen: Was sage ich jetzt dazu?
Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass so ein öffentlicher Schlagabtausch niemandem nutzt, außer vielleicht den Medien.
Stoiber: Weil vieles zugespitzt wird. Eine Agentur löst einen Satz aus einem Interview heraus, der vielleicht eine leicht kritische Tendenz hat, auf einmal heißt es „X übt massive Kritik an Y“, und daraus entwickelt sich dann ein Streit, der mit der eigentlichen Aussage nichts mehr zu tun hat. Danach ist man erstmal mit der Abwehr von falschen Eindrücken beschäftigt.
Der ZDF-Moderator Peter Hahne sagte uns im Gespräch: „Der Konkurrenzdruck unter den Medien hat das Tempo in der Politik deutlich erhöht.“
Stoiber: Das ist richtig. Die Idealform wäre natürlich eine völlig sachgerechte, nicht auf Zuspitzung – und damit auf besseren Verkauf – ausgerichtete Meldung. Ich könnte jetzt darüber fachsimpeln, dass Sie als Medien das primär aus wirtschaftlichen Gründen machen, dass eine Zuspitzung mehr Aufmerksamkeit und damit Verkauf, also bares Geld bringt. Aber es gibt für mich da keine Fundamentalkritik, ich kann der Presse nicht vorwerfen, dass sie Nachrichten auch gewinnbringend vermarktet. Mit diesen Bedingungen muss ich als Politiker zurechtkommen, denn die Medien sind Teil unserer Demokratie. Und die Demokratie ist für mich die einzige wahre Staatsform, die Freiheit, die wir in dieser Demokratie haben, ist ein extrem hohes Gut.
Die Öffentlichkeit wiederum sieht diese Freiheit bedroht, wenn Politiker im Verdacht stehen, die Berichterstattung zu beeinflussen, weshalb Christian Wulff und jüngst Hans Michael Strepp in die Kritik gerieten. Welche Lehren sollten Politiker aus diesen Fällen ziehen?
Stoiber: Lehren? Vielleicht, nicht in Redaktionen anzurufen…
Welches durch die Medien verbreitete Klischee über Sie entspricht nicht der Wahrheit?
Stoiber: Dass ich Asket bin, den Genüssen des Lebens völlig abhold, keinen Wein und nur Salbeitee trinke, keine Laster habe, das Gegenstück eines bayerischen Politikers bin… Ich habe aber nie gegen Klischees angekämpft, ich habe nie zum Hörer gegriffen, wenn ich glaubte, ich sei völlig verzerrt wiedergegeben worden.
Es ist allerdings schwierig, wenn Animositäten auf die Familie übertragen werden. Der Preis, den die Familie zahlt, der ist manchmal schon hoch.
Mit einem anderen Familiennamen hätte Ihre Tochter vermutlich weniger Probleme mit ihrer Doktorarbeit bekommen.
Stoiber: Zum Thema Öffentlichkeit kann ich sagen: Als junger Mann habe ich mir keine großen Gedanken darüber gemacht, welche Auswirkungen mein öffentliches Auftreten auf die Familie hat. Heute würde ich meine Familie wahrscheinlich viel mehr abschotten, als ich es damals getan habe.
Sie betonen oft die Erfolge Bayerns, sprechen von Fleiß und Disziplin – woher kommt Ihr politischer Ehrgeiz?
Stoiber: Den Ehrgeiz hatte ich schon als Jugendlicher. Mich hat sehr geprägt, dass Anfang der 50er Jahre Touristen aus dem Ruhrgebiet mit viel Geld zu uns gekommen sind und abfällig dahergeredet haben über Bayern: Die Menschen hier seien zwar nett, aber langsam im Kopf und langsam in der Rede. Später bin ich dann auf Franz Josef Strauß gestoßen, und ab da ging es mir um die Entwicklung dieses Landes.
Was hat die damalige Politiker-Generation ausgezeichnet?
Stoiber: Leute wie der Historiker Strauß waren keine Berufspolitiker. Die gingen in die Politik aus ihren Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Krieg, mit dem Ziel: Nie wieder. Das war die Motivation bei Helmut Schmidt, sicherlich auch bei Egon Bahr oder bei Willy Brandt.
Was für eine Motivation sehen Sie heute?
Stoiber: Heute geht es um Verbesserung der Lebenssituation, eine sichere Rente, bessere Bildung, Hilfe für junge Leute, Familien und Ältere. Heute sucht man den Staat, der die Lebensbedingungen der Menschen von Jahr zu Jahr besser macht.
Die Debatten sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als Sie hier in München noch Trümmer und zerstörte, verruste Häuser gesehen haben, waren ganz andere. Zu der Zeit zu entscheiden, dass wir, aus strategischen Gründen, einen militärischen Arm, ein Heer brauchen, also die Bundeswehr – das waren emotionale Diskussionen, die man sich heute kaum vorstellen kann.
Heute haben wir andere Probleme, etwa das Problem, dass wir Deutsche eine Lead-Nation sind.
Was wir nie sein wollten.
Stoiber: Nie mehr sein wollten, aus der Erfahrung heraus. Deshalb haben wir auch eine starke pazifistische Ader. Und doch wird es uns noch lange anhängen, dass in deutschem Namen fürchterliche Dinge geschehen sind. Während in Deutschland darüber debattiert wird, was uns die Hilfe für Griechenland kostet, müssen wir uns auch bewusst sein, wie unsere Diskussion in anderen Teilen Europas aufgenommen wird. Ich stelle zumindest in Brüssel fest, dass – auch bei der Generation der 35-Jährigen – die geschichtlichen Daten des Zweiten Weltkriegs sehr präsent sind. Es wird schon darauf hingewiesen, dass auch Deutschland in der Vergangenheit große Hilfen bekommen hat. Da ist der Firnis der Geschichte wesentlich dünner als ich dachte.
Wie geht Angela Merkel mit dieser Verantwortung und mit dieser Rolle um?
Stoiber: Diese Kanzlerin steht vor einer Herausforderung, wie noch kein Kanzler vor ihr. Sie entscheidet, also Deutschland entscheidet in hohem Maße, ob und wie es in Europa weitergeht. Ich denke, zum gegenwärtigen Zeitpunkt passt ihr unprätentiöses, nüchternes Auftreten hervorragend zur schwierigen Situation in Europa. Imperiales Gehabe und Gepränge liegen ihr ja fern.
Haben Sie Angst um die Zukunft Europas?
Stoiber: Nein. Ich glaube, dass die europäische Vernetzung so breit und so dicht ist, dass wir bei der Weiterentwicklung der Welt ein wichtiges Wort mitreden werden. Aber es wird schwieriger. Das müssen wir den Menschen auch mitteilen: Dass die Welt sich massiv verändert, dass neue Gewichte entstehen, dass Asien eine außerordentlich dominante Rolle spielen wird, dass Amerika eine wichtige aber zurückgehende Rolle spielen wird und dass auf Europa mit seiner demographischen Entwicklung Schwierigkeiten zukommen werden.
„Für unsere Stärken werden wir bewundert, für unsere Schwächen geliebt“, lautet ein Sprichwort. Trifft es auch auf Politiker zu?
Stoiber: Dass wir für die Schwächen geliebt werden, glaube ich nicht. Die Menschen haben ja ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Politik, sie haben eine unglaubliche Hochachtung vor dem Staat, doch die Repräsentanten stehen nicht hoch im Kurs. Die politische Klasse, diejenigen, die sich als Abgeordnete engagieren, haben unverdienter Maßen ein grundnegatives Image. Wenn Sie in einer Talkrunde einen Witz über Politiker machen oder abfällig über sie reden, ernten Sie automatisch Beifall.
Würden Sie den Beruf trotzdem nochmal ergreifen, wenn Sie die Wahl hätten?
Stoiber: Ja. Für mich war das ein außerordentlich tolles Erleben, dass man das, wofür man sich gerne engagiert, auch berufsmäßig machen kann. Über 30 Jahre in der Politik mitzugestalten, mit allen Höhen und Tiefen, darauf blicke ich mit großer Dankbarkeit zurück.
Wie wollen Sie den Menschen eines Tages in Erinnerung bleiben?
Stoiber: Ach, für so bedeutsam halte ich mich nicht. Mir fällt aber zumindest auf, dass viele Kommentatoren es so sehen: Der Strauß hat die Industrialisierung Bayerns entscheidend vorangetrieben und der Stoiber hat 14 Jahre lang die Innovation, die High-Tech-Entwicklung vorangetrieben – Laptop und Lederhose. Das hat dazu geführt, dass Bayern ein „Premiumland“ ist, wie es Horst Seehofer jetzt nennt, dass wir bei Beschäftigung und wirtschaftlicher Entwicklung weit vorne liegen. Und das in einem Bundesland, wo früher die Kumpels aus dem Ruhrgebiet gesagt haben: „Bayern schön, aber ein bisschen zurückgeblieben.“
Denen haben Sie es gezeigt.
Stoiber: (lacht) Also, wenn ich zurückschaue, damals in Oberaudorf war es ja so, dass viele meiner Schulkameraden weggezogen sind, weil sie keine Arbeit gefunden haben, die sind ins Ruhrgebiet gegangen. Heute kommen viele Leute nach Bayern, wir wachsen jedes Jahr um 30.000 bis 40.000, weil sich die Leute von München, Nürnberg oder Würzburg bessere Arbeitsmarktchancen versprechen als in anderen Regionen Deutschlands.
Mir ging es in meiner Politik auch um die große Frage, was wichtiger ist, die Gegenwartsinteressen oder die Zukunftsinteressen? Wie kann ich in der Politik Dinge durchsetzen, die jetzt gemacht werden müssen, aber erst in zehn Jahren eine positive Wirkung haben?
Vermutlich nicht ohne auch Kritik dafür einzustecken.
Stoiber: Ich habe 1998 gesagt: Mein Ziel ist ein ausgeglichener Haushalt 2006, in acht Jahren machen die Bayern keine Schulden mehr. Das war abstrakt, hatte aber natürlich Auswirkungen, weil man bestimmte Dinge gekürzt hat, in manchen Bereichen auch massiv. Da gab es sicher den ein oder anderen Abgeordneten, der das nicht für besonders klug gehalten hat. Damals gab es aber auch das Beispiel Griechenland noch nicht. Heute weiß jeder, was das für Konsequenzen haben kann, Schulden zu machen.
Ich war unter den Ministerpräsidenten der erste, der dieses Ziel erreicht hat, mein Freund Roland Koch hat dazu mal in der Ministerpräsidentenkonferenz gesagt: „Der Stoiber spielt in einer anderen Liga, das können wir nicht.“
FC Bayern gegen Eintracht Frankfurt.
Stoiber: Da ist etwas dran. In meiner Geburtstagsrede habe ich gesagt: Man muss auch Erster werden wollen. Und ich glaube, signifikant für die Entwicklung Bayerns waren in den Augen der Menschen nicht nur Dinge wie die Neutronenquelle, nicht nur der Aufstieg zum wirtschaftsstärksten Land, sondern für viele auch, dass zu diesem Bayern auch noch dieser FC Bayern München passte.
Ihre Regierungszeit wird häufig mit „Laptop und Lederhose“ beschrieben, wir haben außerdem über Ehrgeiz und Sportsgeist gesprochen. Doch welche Rolle spielte bei alledem die Kirche und die Religion? Gab es Konflikte mit dem Glauben, wenn es zum Beispiel um die Rüstungsindustrie ging, die zum wirtschaftlichen Erfolg Bayerns wesentlich beigetragen hat?
Stoiber: Nein. Wir müssen uns ja selber schützen, wir beliefern die NATO und wir sind in der Frage, wen wir beliefern, außerordentlich zurückhaltend. Die Sicherheit gehört ja zum Leben, auch die innere Sicherheit hier im Land. Natürlich war das damals schwierig, als ich als Innenminister angefangen habe, öffentliche Plätze mit Videokameras zu bestücken, oder die Sicherheitswacht aufzubauen.
Der Waffenlobbyist Karl Heinz Schreiber hat Ihnen einst vorgeworfen, von Zahlungen an die CSU gewusst zu haben, die mit Waffenlieferungen in Verbindung standen…
Stoiber: Das ist ein alter Hut. Es gab dazu 2002 zwei Untersuchungsschüsse in Bundestag und Landtag – danach war klar, dass diese Anschuldigungen alle phantasiert waren.
Schreiber hat damals Politiker bestochen, u.a. um eine Panzerlieferung nach Saudi-Arabien zu ermöglichen. Auch heute sind Waffenlieferungen in dieses Land ein viel diskutiertes Thema. Hatten Sie in Bezug auf Empfängerländer von Waffen eine gewisse Leitlinie?
Stoiber: Ich sehe das wie die Bundeskanzlerin: Bei Rüstungsexporten muss stets auch zwischen Fragen der Menschenrechte und der Stabilität für unser Land abgewogen werden.
Zum Schluss: Welche Rolle sollte die Religion bei der zukünftigen Ausrichtung der CSU spielen?
Stoiber: CSU steht für Christlich Soziale Union. Die Werte, die aus dem Christentum entwickelt wurden, müssen in unserer Partei immer die zentrale Rolle spielen.
[Das Interview entstand im Oktober 2012.]