Herr Wagenhofer, wie waren Sie in der Schule?
Erwin Wagenhofer: Ich habe an meinem letzten Schultag geweint, dass es vorbei ist. Allerdings nicht, weil mir der Unterricht so abgegangen ist, sondern weil meine Freunde dann weg waren.
Welchen Anteil hatte die Schule daran, dass Sie heute ein erfolgreicher Filmemacher sind?
Wagenhofer: Wahrscheinlich gar keinen. Ich habe ja auch nicht auf der Filmhochschule studiert, weil die mich dort nicht genommen haben. Damit habe ich lange, 20 Jahre, immer wieder ein gewisses Problem gehabt, weil das die einzige Prüfung in meinem Leben war, wo ich durchgefallen bin. Und das hat mich in meinem Ehrgeiz irgendwie gestört. Doch in den letzten zehn Jahren habe ich verstanden, dass das mein größtes Glück war.
Ihr größtes Glück ist eine nicht bestandene Aufnahmeprüfung?
Wagenhofer: In der Zeit der Schulung und der Studien lernen sie ja am allermeisten. Aber nicht unbedingt in der Schule. Das ist ja der größte Irrglaube, dass man „Bildung“ sagt und damit einen Ort verbindet, der „Schule“ heißt. Sie lernen unter Umständen in dieser Zeit, weil Sie mit zwei Freunden irgendwo ein Labor aufbauen und davon so begeistert sind, dass dann ein Schulabbrecher wie Steve Jobs Apple-Computer entwickelt. Lernen ist etwas, das ist dem Menschen mitgegeben. Wenn sie Kinder beobachten, die gehen, herumkrabbeln – die lernen ununterbrochen. Es sei denn, es wird ihnen ausgetrieben.
Die einzige Prüfung in meinem Leben, wo ich durchgefallen bin, war die Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule.
Begreifen Sie Ihre Schulzeit als verlorene Zeit?
Wagenhofer: Nein. Ich habe dort tolle Freunde gehabt, tolle Erlebnisse, ich habe auch den ein oder anderen tollen Lehrer gehabt – meine letzte Deutschlehrerin war maßgeblich für mich… Aber diese Ausschluss-Verfahren, die unser Schulsystem so maßgeblich bestimmen, verstehe ich einfach nicht. Wir können uns ja gar nicht mehr vorstellen, dass ein Mensch eigentlich keiner Belehrung bedarf, sondern einer Begleitung. Wir sollten die Perspektive auf die Kinder verändern, wir sollten sie endlich als Subjekte annehmen und nicht als Objekte, in die etwas hineingedrückt wird, damit sie am Ende ihrer Ausbildung zwei Dinge erfüllen: ordentliche Konsumenten zu sein und ordentlich Produkte herzustellen.
Für manche Berufe ist es aber doch essentiell, Wissen „hineingedrückt“ zu bekommen. Ein angehender Pilot kann das Fliegen nicht lernen, wie ein Kleinkind das Laufen.
Wagenhofer: Was die Leute nicht verstehen, ist der Unterschied zwischen Disziplin und Kontrolle. Disziplin ist ganz was Wichtiges, und das ist bei vielen alternativen Schulmodellen und sogenannten Reformschulen vergessen worden. Kinder lieben Rituale. Die Geschichte am Abend kommt um sieben Uhr, wenn das eingeführt ist, dann fordert das Kind um sieben Uhr diese Geschichte ein. Zu solchen Ritualen gehört auch, pünktlich in der Schule zu erscheinen. Ich glaube, das Wesentliche an der Schule ist, dass solche Dinge ganz nebenbei passieren und so gelernt werden.
Mit Disziplin allein kann man noch kein Flugzeug fliegen…
Wagenhofer: Natürlich nicht. Aber erst einmal muss Disziplin nicht aus dem Zwang zur Erfüllung irgendwelcher Normen kommen, sondern aus einem Bewusstsein, aus dem Selbstbewusstsein. Jeder Sportler und jeder Musiker weiß, dass er ein Problem hat, wenn er nicht täglich diszipliniert trainiert. Das ist aber ein völlig anderes Modell, als das schulische, in dem es heißt: Du musst jetzt 45 Minuten Rechtschreibung machen, dann Pause, dann 45 Minuten Mathematik und so weiter. Mit dieser Art von Kontrolle werden Sie nie ein freier Mensch sein. Im Flugzeug brauchen Sie jemanden, der sich das nötige Wissen eines Piloten diszipliniert angeeignet hat, aber auch frei ist, um selbstbewusst denken und entscheiden zu können. Beim letzten Flugunglück in San Francisco ist genau das passiert, was einem Piloten früher nicht passiert wäre: Alle drei haben nur auf ihre Instrumente gestarrt. Hätte nur einer von ihnen rausgeschaut, hätte er sofort gesehen, dass sie zu niedrig sind und zu langsam. Sie haben sich aber nur auf ihre Instrumente verlassen.
Was würden Sie konkret am Schulsystem ändern?
Wagenhofer: Ich bin kein Pädagoge, das hat mich auch nie interessiert. Mein Zugang zu dem Thema war ein anderer. Während der Arbeit an meinen beiden vorhergehenden Filme „Let’s Make Money“ und „We Feed the World“: die dort behandelten Probleme werden von Menschen verursacht, die in der Regel die beste Schuldbildung und Abschlüsse von Elite-Unis haben. Da stellt sich mir doch die Frage: Was steckt dahinter? Warum wollen wir, dass die Kinder dieses und jenes tun? Und unser Hauptproblem ist, dass alles nur noch einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit unterliegt. Wirtschaften an sich ist ja was ganz Tolles, etwas Unternehmerisches, das auch in dem Menschen angelegt ist. Noch in den 80er Jahren hat man Produkte entwickelt, selbst in der technischen Ausbildung. Das war was Feines, da hat man sich gefreut, wenn das funktioniert hat. Das sollte lang halten und man sollte Freude dran haben. Aber über den Zwang zur Verwertbarkeit ist all das zunehmend vergessen worden.
Sie fordern also keine weitere Bildungsreform sondern eine grundsätzliche gesellschaftliche Debatte und Reform?
Wagenhofer: So ist es. „Alphabet“ endet ja positiv, mit einem Aufruf – aber da geht es nicht darum, wieder in irgendeiner Richtung eine Ideologie aufzunehmen. Es braucht ganz was Neues. Es geht in Wirklichkeit um eine Transformation. Wir stehen vor einer anderen Stufe der Evolution. Wir wissen von unserem Körper, dem höchst entwickelten System überhaupt, dass alles miteinander verbunden ist, dass es schlecht um einen aussieht, wenn das Herz mit der Lunge in Konkurrenz tritt. Aber in der Wirtschaft und unserem ganzen Zusammenleben herrscht immer noch das Prinzip der Konkurrenz.
Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es. Wer das Konkurrenzdenken abschaffen will, will den Kapitalismus abschaffen. Ist das nicht eine Utopie?
Wagenhofer: Warum sollte das eine Utopie sein? Welches System hat denn ewig gehalten? Ein neues Gesellschaftssystem wird kommen, ganz automatisch. Es ist nur die Frage, ob wir es mitgestalten oder ob es über uns hereinbricht. Wenn Sie den Klimabericht vor einigen Wochen gelesen haben, dann bricht es über uns herein.
Kann der Mensch wirklich umdenken, oder wird ein gesellschaftlicher Wandel erst in kommenden Generationen möglich sein?
Wagenhofer: Die Frage würde ich so gar nicht stellen. Wir in Mitteleuropa haben bis in die 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts regelmäßig Kriege gehabt, haben unsere ganze Energie ständig in Kriege gesteckt, teilweise auch aus wirtschaftlichen Gründen, weil nach einem Krieg alles wieder aufgebaut werden musste. Nach dem zweiten Weltkrieg hat man gesagt: Nie wieder Krieg! Aber das Wirtschaftssystem hat man nicht umgestellt. Die ganze Energie, die man in die Kriege gesteckt hatte, geht seitdem in die Wirtschaft. Man verwendet dort ja auch die gleichen Begriffe: der CEO ist der Chief Executive Officer. Man spricht von „Feindlichen Übernahmen“ und so weiter. Das ist ein völlig veraltetes, von Angst gelenktes Denken. Dagegen hilft nur das Gegenteil von Angst: Liebe.
Aber doch noch mal konkret: Wie soll sich dieses Umdenken in der Schule niederschlagen?
Wagenhofer: Ich kann Ihnen das nicht beantworten, weil das Entscheidende etwas anderes ist. Die Frage ist: Wie schauen wir auf etwas? Welche Haltung nehmen wir Menschen ein? Momentan herrscht noch diese Kriegshaltung, der Machbarkeitswahn des 20. Jahrhunderts. Alles ist machbar. Der Meeresspiegel steigt? Dann bauen wir halt höhere Deiche. Es gibt keinen Platz mehr für die ganzen Autos? Dann bauen wir halt Stockautobahnen, wie in Shanghai. Drei Autobahnen übereinander. Das ist machbar. Aber sind die Menschen dadurch glücklich geworden? Fahren Sie dort mal mit der U-Bahn in der Früh… Was ist jetzt aus Ackermann geworden? Ist der ein glücklicher, zufriedener Rentner? Bei dem ist doch die Scheiße richtig am Dampfen. Aber zehn Jahre hat ihn jeder in diesem Land super gefunden. Es muss immer erst dazu kommen, dass im eigenen Umfeld etwas geschieht, was nicht mehr so lustig ist, was einen zwingt, umzudenken.
Allerdings scheint die Einsicht in die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels sich bei Menschen in mächtigen Positionen erst einzustellen, wenn sie dabei sind, die Macht abzugeben. Ihre kritischen Interviewpartner sind meistens kurz vor der Rente.
Wagenhofer: Erst einmal ist das das beste Beispiel dafür, dass das System nicht stimmt. Bei Thomas Sattelberger, den ich jetzt für „Alphabet“ interviewt habe, ist das allerdings ein wenig anders. Der ist bei der Telekom zwar ausgeschieden, aber er arbeitet seither viel mehr als zuvor. Und in welcher Richtung arbeitet er? Für Bildung und eine neue Qualität der Arbeit. Es gibt viele Leute die in dieser Richtung schon unterwegs sind.
Gehören dazu auch Politiker?
Wagenhofer: Ich kenn‘ keinen.
Die Grünen/Bündnis 90 schrieben in ihr Programm zur deutschen Bundestagswahl 2013: Nicht die Kinder müssen der Schule angepasst werden, sondern die Schule den Lern- und Entwicklungsbedürfnissen der Kinder.
Wagenhofer: Das klingt schonmal gut. Das Lernen ist ja im Menschen angelegt und zwar in jedem. Es sei denn, es wird einem ausgetrieben, wenn man dem Zweijährigen plötzlich sagt: Stopp! Du darfst nicht mehr spielen, jetzt beginnt der Ernst des Lebens.
Aber bekommt man gewissen Grad an notwendiger Bildung ohne Leistungsdruck hin?
Wagenhofer: Warum reden Sie von Bildung? Sie glauben, dass es nur mit Druck geht. Ich sage Ihnen: Die Konkurrenz, der Wille zum Siegen aktiviert völlig andere Hirn-Areale, als der der Wille zu lernen. Das ist ja genau gegensätzlich. Sie sagen: Ein Pilot muss etwas bestimmtes gelernt haben. Ich sage: Der muss das Ding in- und auswendig können, der muss das Gefühl für ein Flugzeug haben. Andere haben ein besseres Gefühl für eine Trompete. Die Aufgabe der Schule wäre, diese Gaben rauszufiltern. Sie sollte die Kinder begleiten und nicht belehren.
Schwebt Ihnen eine Art demokratischer Schule nach dem Summerhill-Model vor, wo zum Beispiel der Besuch des Unterrichts freiwillig ist?
Wagenhofer: Nein, nein, das hat nichts mit Summerhill zu tun. Man muss was anderes finden. Man sagt „Antikapitalismus“ und schon sagt jemand: „Willst du die DDR?“ Natürlich will das kein Mensch. Das ist doch ein Quatsch. Das heißt aber nicht, dass alles dort schlecht war. Man muss aber eben das Neue entwickeln. Wir leben bereits mitten im Wandel. Darum haben wir all die Krisen, nebenbei bemerkt. Das alte ist noch nicht weg. Mit dem haben wir es den ganzen Tag zu tun, und das Neue ist noch nicht da und in der unangenehmen Situation befinden wir uns. Denn das heißt Veränderung. Veränderung bedeutet Verlust und Verlust ist Angst. Und darum kämpfen wir jetzt so, auch wir jetzt in diesem Gespräch.
Kinder ihren individuellen Gaben nach zu fördern, funktioniert aber doch nur mit kleineren Schulklassen, bzw. mit mehr Lehrern. Fordern Sie generell mehr Budget für Bildung?
Wagenhofer: Eher weniger, wahrscheinlich. Aber noch einmal: Sie wollen mich irgendwie drauf festnageln, als hätte ich einen Film über die optimale Lehre gemacht. Das habe ich aber gar nicht.
Politiker würden Sie aber nun hellhörig machen, wenn Sie sagen: Die Qualität des Lernens kann verbessert werden bei gleichzeitig sinkenden Kosten…
Wagenhofer: Es ist eben nicht alles eine Frage des Geldes. Das ist ja unser Problem. Es hat heute alles nur einen Sinn, wenn es auch gleichzeitig einem materiellen, monetären Wert zurechenbar ist. Alles andere ist sinnlos. Wenn Sie auf der Straße gehen und singen ein Lied – uninteressant. So tickt das ganze System und aus dem Grund sind auch ganz speziell die Männer, nebenbei bemerkt, immer kopflastiger geworden. Thomas Sattelberger sagt im Film: „Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie – das praktizieren wir total.“ In der deutschen Verfassung steht aber: Der Bildungsauftrag ist, den mündigen Bürger zu schaffen, der verantwortungsvoll und solidarisch mit seinem Mitmenschen umgeht, der Probleme angreifen und auf sie zugehen kann.
Sie meinen, man müsste eine Verfassungsbeschwerde einreichen?
Wagenhofer: Ganz genau. Das ist eine super Idee (lacht).
Der Soziologe Jean Ziegler hat Ihren Film „We Feed the World“ als eine „sehr präzise Waffe gegen den Hunger auf der Welt“ bezeichnet. Haben Sie selbst das Gefühl mit Ihren Filmen, eine Waffe in der Hand zu haben? Wagenhofer: Nein. Ich kann mich erinnern, wie der Jean das gesagt hat. Ich habe daneben gestanden. Nein, solche Bilder habe ich nicht. Meine Filme sind ein kleiner Beitrag, sonst nichts. Und sicher keine Waffe.
Ist Ihnen selbst das Konkurrenzdenken völlig fremd? Der Vergleich mit anderen ist doch als Motor der Gesellschaft nicht unwichtig?
Wagenhofer: Wenn ich mich jetzt zum Beispiel mit anderen Regisseuren vergleiche, wer wie viele Filmpreise gewonnen hat, das ist doch auch ein Quatsch. Da sind 20 Filme, einer gewinnt, was ist mit den anderen 19? Das ist lustig, dass das so schwer rüberzubringen ist: Man muss doch immer fragen: Was ist dahinter? Es gibt Filmer, die nur Filme machen, um Preise zu kriegen. Aber dann sind sie ein armer Hund. Wenn Sie arbeiten gehen, des Geldes wegen, dann sind Sie ein armer Mensch. Suchen Sie sich den richtigen Beruf und Sie werden nie mehr arbeiten.
In der heutigen Zeit wird schon in der 1. Klasse (!) Volksschule ein solcher Druck auf die Kinder ausgeübt. Der Lehrer(in) steht dann mit einer Stoppuhr in der Klasse und misst die Zeit die ein Kind für 20 Additionen bzw. Subtraktionen braucht.
Warum nehmen die Psychosomatischen Beschwerden unter Kindern u. Jugendlichen immer mehr zu?
Warum brechen immer mehr Schüler die Schule ab?
Weil wir angeblich so ein tolles Schulsystem haben?
Die Reform zu der Herr Wagenhofer aufruft finde ich erstklassig. Es geht um den Menschen und seinen Fähigkeiten.
Nicht um Züchtungen einer kapitalistischen und nur leistungsorientierten Generation.
sehr geehrte frau weger
ihr kommentar trifft zu, ich gebe ihnen recht