Fatih Akin

Humor hat viel mit Timing zu tun.

Fatih Akin über das Bruder-Thema in seinen Filmen, sein neuestes Werk „Soul Kitchen“, Heimat als Zustand, Essen auf der Leinwand und warum Komödien schwieriger als Dramen sind

Fatih Akin

© corazon international / Achim Kröpsch

Herr Akin, warum haben Sie „Soul Kitchen“ im Abspann Ihrem Bruder gewidmet?
Fatih Akin: Der Film behandelt das Bruder-Thema, was ich in der Vergangenheit schon einmal behandelt habe, was mir damals aber nicht so geglückt ist. Nämlich mit dem Verhältnis der Brüder bei „Solino“. Mit dem Film hatte ich die Möglichkeit das wieder gut zu machen.

Aber die Verhältnisse sind ja doch unterschiedlich. Wo im Film der Bruder im Knast war, steht Ihr Bruder gut situiert im Leben…
Akin: In „Solino“ brechen die beiden Brüder in einem Fotoladen ein – damals gespielt von Barnaby Metschurat und Moritz Bleibtreu. Bleibtreu hält das Tor auf, Metschurat geht rein und klaut die Super-8-Kamera, die er haben will und dann sagt der Bruder: Und jetzt räumst du noch die Kasse aus. Metschurat sagt: Nein, das kann ich nicht. Bleibtreu erwidert: Doch, du musst. In dem Moment kommt die Polizei und Bleibtreu rennt weg. Er lässt das Gitter fallen und der Bruder wird erwischt. So ein Bruder-Verhältnis kenne ich nicht! Ich hatte jahrelang ein schlechtes Gewissen wegen der Szene, weil meine Filme immer sehr persönlich sind. Ohne in den Kopf meines Bruders, der auch Filmemacher ist, schauen zu können projizierte ich, dass er unser Verhältnis so wahrnehmen könnte. Nun hatte ich die Möglichkeit mich in dieselbe Situation zurück zu versetzen, wie bei „Die Tür“ von Anno Saul. Bleibtreu und Bousdoukos brechen ein, wieder rennt Bleibtreu weg und Bousdoukos bleibt zurück, weil er einen Bandscheibenvorfall hat. Bousdoukos wird von der Polizei abgeführt, aber dieses Mal stellt Bleibtreu sich, weil er seinen Bruder nicht alleinlassen möchte. So hätte mein Bruder auch gehandelt! Mein Bruder hätte nicht so gehandelt wie Bleibtreu in „Solino“. So kenne ich das. Ich hatte das Gefühl, das hätte einen schalen Beigeschmack gehabt. Ich habe nur einen Bruder, den ich liebe, da wollte ich ihm das so widmen.

Der Film zeigt, wie sich neben der eigenen Bluts-Familie eine Wahl-Familie bilden kann…
Akin: Die einzige Familie, die ich neben meiner wahren Familie habe, ist meine Film-Familie. Mein Kameramann Rainer Klausmann ist wie ein Onkel von mir, meine Kostümbildnerin Katrin Aschendorf ist wie eine Tante von mir und mein Ausstatter Tamo Kunz ist wie ein verrückter Bruder für mich. Das ist meine Film-Familie. Mit der ist der Umgang auch familiär. Ich definiere das nicht als Familie. 

Was ist für Sie der Unterschied zwischen den Familien?
Akin: Die einen rennen davon und die anderen lassen sich von der Polizei mit-erwischen.

Sie drehen oft nicht nur mit dem gleichen Team hinter der Kamera, sondern auch mit den gleichen Darstellern, wie Moritz Bleibtreu oder Birol Ünel. Denken Sie schon beim Drehbuchschreiben an die?
Akin: Bei vielen war das so. Bei Moritz war das so, die Rolle war für ihn geschrieben. Mit Bousdoukos, mit dem ich das Buch zusammen geschrieben habe, war klar, der spielt das. Er hatte ja auch das Restaurant gehabt, die griechische Taverna in Hamburg, an der wir uns orientierten. Für Birols Rolle als Koch konnte ich mir auch niemand anderes vorstellen, das war für ihn geschrieben. Die anderen waren Drehbuchfiguren, selbst die Frau vom Finanzamt, die Catrin Stiebeck spielt, die auf einem tatsächlichen Vorfall in der Taverne beruht. Wotan Wilke Möhring entdeckten meine Frau Monique und ich auf der Geburtstagsfeier eines Freundes, als wir gerade auf der Suche nach dem Film-Makler waren. Monique zeigte auf Wotan und meinte: Das ist doch ein guter Makler für dich. Die drei Frauen Anna Bederke, Pheline Roggan und Dorka Gryllus sind gecastet worden. Die gab es nicht vorher.

Welchem Genre würden Sie Ihren Film zuordnen. Ist er ein Märchen?
Akin: Er hat märchenhaftes mit diesen Versöhnungen am Ende. Dazu läuft der Song „The Creator has a Masterplan“ von Louis Armstrong und alles wendet sich zum Guten. Das war die Aussage von dem Film. Jeder Film hat eine andere Aussage.

Als Genre käme auch der Heimatfilm aus Hamburg in Frage. Von Ihnen stammt der Satz: „Heimat ist ein Zustand und nicht ein Ort.“ Hamburg spielt in Ihren Filmen dennoch immer eine Rolle. Was bedeutet Heimat für Sie?
Akin: Im Fall von Hamburg ist der Zustand geographisch messbar und erreichbar. Dieses Heimatgefühl muss aber nicht zwangsläufig mit dem Ort verbunden sein, in dem man geboren ist oder wo man den grossteil seines Lebens verbracht hat. Ich liebe die tolle Stadt New York und bin da gerne. Die meisten New Yorker sind nicht aus New York, bezeichnen sich aber als New Yorker. Daraus besteht New York. Fragst du den Taxi-Fahrer, wo er herkommt, antwortet er: New York. Fragst du ihn, wo seine Eltern herkommen, antwortet er Bangladesch. Das meine ich mit Zustand. Man kann auch aus einem kleinen Ort kommen, den man hasst und aus dem man nur raus will. Dann ist die Herkunft nicht die Heimat. In meinem Fall deckt sich das mit dem Ort, wo ich geboren bin, lebe und auch weiterhin leben und arbeiten will. Ich hatte dennoch den großen Wunsch einen Film zu machen, bei dem der Drehort nicht austauschbar und einer der Hauptdarsteller ist. Bei „Auf der anderen Seite“ und „Gegen die Wand“ ist der Ort austauschbar. Die Ausnahme ist „Kurz und schmerzlos“. Was ich erzähle ist nicht abhängig von der Stadt. Obwohl in „Soul Kitchen“ Phänomene zu bewundern sind, wie die Gentrifizierung, die es etwa in Berlin auch gab, ist mir wichtig, mit dem Film eine Zäsur zu setzen. Ich wollte, bevor ich ins Ausland gehe, einen Film machen, der sich mit meiner Heimatstadt auseinandersetzt.

Liegen denn Angebote aus dem Ausland vor?
Akin: Es gibt keine Angebote, aber es gibt Material mit dem ich arbeite, das eben nicht in Hamburg und nicht in Deutschland spielt. Aber ich kann es wunderbar von Deutschland aus mit meiner Crew machen. Das macht die Filme zu nicht-amerikanischen Projekten, zu nicht Gewerkschafts-Projekten. Thematisch möchte ich mich für mindestens zwei Filme von Deutschland entfernen. Diese Projekte schwirren schon länger in meinem Kopf herum, wie die meisten meiner Filme circa drei, vier Jahre in meinem Kopf gebraucht haben und parallel entstanden sind. Genau genommen habe ich „Soul Kitchen“ dazwischen geschoben.

Also auch keine Rückkehr in die Türkei?
Akin: Selbst wenn ich in Zukunft etwas deutsch-türkisches drehen wollte, würde ich versuchen dafür Synonyme zu finden. Meine Helden machen da eine Entwicklung durch: Waren die ersten noch Eierdiebe, war er bei „Auf der anderen Seite“ ein Germanistik-Professor. Bei „Soul Kitchen“ habe ich jemanden, der weiß, wo er hingehört, der nicht sucht, wie die anderen Figuren und seine Heimat verteidigt – wenn nötig auch gegen sich selbst. Logische Konsequenz müsste das Thema Vertreibung aus der Heimat sein. Darüber würde ich gerne erzählen. Dabei soll der Schwerpunkt meiner Geschichten aber nicht auf diesem Rahmen der Geschichte liegen, daher möchte ich dafür in Zukunft Bilder finden. Wie in „Soul Kitchen“ nicht nur Hamburg die Heimat symbolisiert, sondern eben das Restaurant.

Heimat wird auch durch gutes Essen symbolisiert. Im Film-Restaurant zieht mit Koch Birol Ünel eine neue Esskultur ein. Was bedeutet Ihnen gutes Essen?
Akin: Ich habe bei Helke Sander studiert, da war „Essen im Film“ ein halbes Jahr lang unser Thema. Das nächste halbe Jahr folgte „Sex im Film“ und das ging ineinander über. Bei beiden Themen geht es um den Menschen. Der Mensch muss sich fortpflanzen, sonst kann er nicht existieren und der Mensch muss auch essen. Alles andere ist sekundär. Der Mensch muss zum Beispiel nicht saufen. Er braucht keinen Rausch. Aber: Essen und Vögeln – das muss sein. Die Natur hat das sehr schlau eingerichtet. Sie belohnt uns mit Glücksgefühlen beim Sex, wie beim Essen – jeweils im günstigsten Fall. Das hat mit Sinnlichkeit zu tun. Es bietet sich an, das filmisch umzusetzen. Jeder kennt das. Das verbindet alle Menschen nicht nur international, sondern anthroposophisch. Ich selbst mag Sex gerne und mag Essen gerne. Das heißt, ich mag das Leben gerne! Symbolisch lassen sich damit viele Sachen interpretieren. Es gibt gute und es gibt schlechte Filme. Film ist nicht Film, auch wenn er mit denselben Zutaten gemacht wird. Das Schi-Schi-Essen muss nicht für das Bessere oder das Versnobte stehen. Wir hatten das einmal in Adams Taverne, als seine Mutter da kochte: Das war das beste Essen, das es da je gab, aber die Leute haben das nicht angenommen. Die haben den Schrott vorgezogen. Beim Fernsehen ist das ja auch so.

Zitiert

Ein Studio-Filmer zu sein ist für mich nicht das Gelbe vom Ei.

Fatih Akin

Sie sprachen von guten und schlechten Filmen. Was macht für Sie einen guten Film aus?
Akin: Ich erkenne es, wenn ich ihn sehe. Eine Wahrhaftigkeit wahrscheinlich. Das kann alles sein. So lange ein Regisseur wahrhaftig an seinem Film arbeitet, tut das dem Film gut. Der Zuschauer kann unterscheiden, wenn etwas nur noch Produkt ist. Damit will ich nicht sagen, dass das Autoren-Kino das bessere Kino ist. Im Autoren-Kino gibt es unheimlich viel Illusion, genau wie es im Mainstream-Kino Wahrhaftigkeit gibt. Die Grenzen sind fließend.

Lässt sich diese Wahrhaftigkeit auch auf Schauspieler anwenden? Was gefällt Ihnen an Schauspielern und was nicht?
Akin: Ich mag nicht, wenn sie ihren Text nicht lernen. Sonst kann ich vieles in den Griff kriegen. Ich liebe die Arbeit mit Schauspielern. Wahrhaftig. Das und Drehbuchschreiben sind die beiden Faktoren im Film, die ich am meisten liebe. Ich mag auch Kamera, Ausstattung und die Arbeit mit Musik, aber gute Schauspieler und ein gutes Drehbuch sind 85 Prozent eines Films. Den Rest verzeiht dir das Publikum. Wenn das Licht nicht okay ist oder das Kostüm. Das ist nicht so zentral wie Drehbuch oder Schauspiel.

Was ist das Schöne an der Arbeit mit Schauspielern?
Akin: Wie Truffaut gesagt hat: Filme machen ist mit schönen Frauen und schönen Dingen zu tun zu haben. Mit schöneren als in der Realität. Daran glaube ich. Realismus hin oder her, Kino muss Illusion sein. Die Hackfressen sehe ich im Alltag. Gehe ich ins Kino, will ich Marlene Dietrich im Gegenlicht sehen.

Ihr Film war der letzte gemeinsame Film von Moritz und Monica Bleibtreu, die Ihnen beide sehr nahe stehen bzw. standen. Wie schwer ist es mit einem Film umzugehen, der bei Erscheinen schon ein Vermächtnis ist?
Akin: Ich sehe das nicht so sehr als Vermächtnis. Das Leben ist, wie es ist und die Regeln des Lebens sind, wie sie sind. Menschen werden geboren und Menschen sterben. Wir müssen lernen zu trauern, aber auch erkennen, dass das Leben weitergeht. Unbarmherzig weitergeht. Letztendlich bin ich sehr froh, dass ich noch mit Monica arbeiten konnte. Eigentlich wollten wir Theater am St. Pauli Theater machen, weswegen wir uns auch schon getroffen und rumgesponnen hatten. In „Soul Kitchen“ wollte ich sie auch als Geste, weil der Film ein Familienfilm ist und ein Moritz wie ein Bruder von mir ist. Da gehörte seine Mutter mit dazu. Keiner von uns wusste, dass sie sterben wird. Monica war so ein fröhlicher Mensch. Sie hatte keine Grundtraurigkeit, sondern eine Grundfröhlichkeit. Keine Melancholie, sondern etwas Witziges. Wie ich sie gekannt habe, ist das für sie in Ordnung mit einem Lachen abzutreten, wie im Film. Der war sicher nicht die wichtigste Arbeit, die sie gemacht hat, aber er war eine lustige Arbeit. Man kann sich auch mit einem Lächeln verabschieden.

Sie drehte ja auch noch „Tannöd“…
Akin: Ja, wir drehten gleichzeitig. Wir hatten da einige Schwierigkeiten, weil ich die Szene im Restaurant zweimal gedreht habe, weil sie beim ersten Mal wegen dem Drehbuch nicht funktioniert hat. Daher mussten wir noch mal Drehen. Mit all den Schauspielern in diesem Restaurant und sie hatte „Tannöd“… Das war nicht einfach unter einen Hut zu bekommen. Meine Aufnahmeleiterin meinte, ich solle jemand anderen finden, weil sie das mit dem Drehplan nicht hinbekommen würde. Ich sagte: Nö, mach ich nicht. Ich halte so lange die Luft an, bis etwas passiert. Ich drehe das nicht mit jemand anderem. Dann gehe ich eben nicht nach Cannes. Letztlich haben wir es dann am allerletzten Drehtag, am 23. Dezember, noch mal gedreht. Jetzt wo Monica nicht mehr da ist, bin ich sehr froh, darauf beharrt zu haben.

Berlinale, Cannes, Jury in Cannes,… ergibt sich daraus etwas für einen Filmemacher? Oder ist das eher eine Art Kür?
Akin: „Gegen die Wand“ öffnete mir schon die Tür für einen globalen Kontext. Das ist ja auch ein Markt. Meine Filme sehen hier durchschnittlich eine halbe Million Zuschauer. Aber meine Filme werden teurer. Wenn ich dann in Frankreich, Italien, Amerika und der Türkei einen ähnlichen Durchschnittswert schaffe, dann ist das einerseits profitabel, führt aber andererseits auch dazu, dass ich im Kopf behalte: Der Film muss überall funktionieren.

Gibt es denn Signale aus Amerika dort einen Film zu drehen?
Akin: Schon sehr früh, nach „Im Juli“ kamen diese Signale – und es werden mehr. Ich will weiter als Autoren-Filmer arbeiten. Für mich ist das kein Elfenbeinturm, ein Autoren-Filmer zu sein. Ein Studio-Filmer zu sein ist für mich nicht das Gelbe vom Ei. Wollte ich Studio-Filmer sein, hätte ich das schon längst gemacht. Es gibt gute deutsche Filmemacher, die das gemacht haben oder machen. Das sind überwiegend Handwerker, die ein Buch von einem Studio bekommen und sich mit 70 Millionen Dollar ihre Schauspieler aussuchen sollen. Das interessiert mich nicht. Ganz wahrhaftig nicht. Ich lese auch irre wenige Drehbücher, die mir angeboten werden, weil ich meistens das Material habe, mit dem ich mich selber beschäftige. Natürlich gibt es Dinge drüben, die mich interessieren: Bestimmte Schauspieler oder Strukturen. Filme zu vermarkten und zu verkaufen – aber nicht um jeden Preis. Nur weil meine Filme jetzt auch in Indien im Supermarkt zu kaufen sind, heißt das nicht, dass ich ein fremdes Drehbuch annehmen und im Studiosystem arbeiten muss. Das fehlt mir nicht zum Leben. Wenn ich es schaffen würde meine Autorenschaft auch drüben beizubehalten, würde mich das schon eher interessieren.

Der große Unterschied zwischen „Soul Kitchen“ und seinem Vorgänger „Auf der anderen Seite“ ist der Ton. Ist es schwieriger einen ernsten Film oder eine Komödie zu drehen?
Akin: Eine Komödie! In jeder Hinsicht. Die Komödie hat vielmehr mit Genre-Gesetzen zu tun, während man im Drama in seinem Ausdruck viel freier ist. Hält man sich nicht an Konventionen, was häufig als Autorenschaft gefeiert wird, fällt das im Drama leichter, als in einer massentauglichen, das größtmögliche Publikum erreichen wollenden Komödie. Das erfordern Regeln des Genres. Du musst innerhalb der ersten 15 Minuten deinen ersten Akt auf die Reihe kriegen. Nach fünf Minuten musst du wissen, worum es geht. Der Wendepunkt muss in der Mitte sein und auf den Höhepunkt zusteuern. Bis dahin muss alles verloren sein, damit der Zuschauer mit dem Helden bangen kann. Ich kenne diese ganzen Drehbuchbücher, die erklären, wie man was dreht. Aber lesen ist etwas anderes, als diese Techniken auch zu beherrschen. Ich konnte das nicht. Die unkonventionelle Art des Erzählens bei „Gegen die Wand“ und „Auf der anderen Seite“ hatte nichts damit zu tu, dass mich die Konventionen gelangweilt hätten, sondern damit, dass ich die Konventionen nicht beherrsche. Mein Ziel muss sein das für meine Zukunft als Filmemacher zu beherrschen. Da möchte ich hin. Humor hat viel mit Timing zu tun, im Drama lässt du die Kamera laufen und bittest Frau Schygulla jetzt zu leiden. In zwei Takes musst du damit fertig sein, weil danach die Wahrhaftigkeit durch ist. Es kostet sehr viel Konzentration dieses Level an Wahrhaftigkeit wieder zu erreichen. Bei einer Komödie ist das anders: Der Satz ist zu früh, der Satz zu spät. Der Schritt ist zu früh… Um das Timing zu beherrschen nimmst du viel gesammeltes Material mit in den Schnitt. In ein, zwei Einstellungen eine Szene zu drehen konnte jemand wie Wilder – aber die Klasse habe ich noch lange nicht.

Zur Frage des Tons zurück: Ein Filmemacher, der auch DJ ist und seinen Film „Soul Kitchen“ nennt… Welche Rolle soll Musik in Ihrem Film übernehmen?
Akin: Musik ist für mich als Filmemacher der Zugang zum Material. Wenn ich weiß, wie der Film klingen wird, weiß ich auch, wie er sich anfühlen wird und soll. Er soll sich anfühlen, wie der und der Track. Das kann man mit verschiedenen Songs und Genres probieren, wo in verschiedenen Konstellationen verschiedene Emotionen entstehen. Ich wollte einen Film über meine Heimat Hamburg machen und keinen Film, in dem der Regisseur seine Zuschauer mit seiner Lieblingsmusik zuknallt. Das hört man auch heraus, wie bei Guy Ritchie. Das finde ich relativ konzeptlos. Ein musikalisches Konzept zu erarbeiten, wie Hamburg für mich klingt. Hamburg war schon immer eine Soul-Stadt für mich. Hamburg ist keine Hiphop- oder Elektro-Stadt, obwohl es das bei uns auch gibt. Durch eben Hamburger Läden wie den abgerissenen Mojo Club oder einen legendären Club, der Soul Kitchen hieß. Außerhalb von Nordamerika ist Hamburg die Stadt mit den besten Soul-DJs. Warum das so ist, weiß ich nicht. In meinen Ausgehstrukturen war Soul immer da.

Ist ein Film mit einem DJ-Set vergleichbar?
Akin: Wie ein DJ-Set. Soul ist nicht meine Lieblingsmusik, auch wenn ich viele Soul-Platten habe. Aber ich habe noch mehr Hiphop-Platten. Das ganze Artwork zum Film ist auch Soul, gerade wenn man das Plakat ankuckt. Das sieht nach Blaxploitation aus. Wie „Shaft“. Da wollten wir hin. Das ist unsere Definition von urbaner Ausgehkultur. Vielleicht haben wir so viel mit Soul zu tun, weil wir als Ausländer in dem Land geboren wurden. Wir konnten uns als Ausländer immer mit der afroamerikanischen Kultur identifizieren. Erstmal mit Hiphop als Teenies, aber eben auch mit Soul, da kommt Hiphop ja her.

Glauben Sie, dass Ihre türkischen Wurzeln etwas mit Ihrer Kreativität zu tun haben?
Akin: Vielleicht hat die Form des Erzählens eine südländische Haltung den Figuren gegenüber. Ich liebe Bergmann und liebe auch vieles, was aus Deutschland kam, hatte aber immer eher einen Zugang zum italienischen Neo-Realismus, zu Italo-Amerikanern wie Scorsese oder dem jungen Coppola. Auch zum Jüdischen von Woody Allen, wie „Radio Days“, wo alle auf Coney Island leben und die ganzen Verwandten zu Besuch kommen. So ist das bei uns auch mit all den Feiertagen. Das kommt aus dem Mittelmeerraum und ist mir genetisch näher. Die andere Seite bewundere ich eher, von der kann ich mich mehr inspirieren lassen. 

„Soul Kitchen“ ist Ihr erster Film, vielleicht abgesehen von „Solino“, der die türkische Gemeinde verlässt. Ist das eine Befreiung?
Akin: Ja, so sehr! Wann immer ich in den nächsten zehn Jahren etwas deutsch-türkisches erzählen möchte, werde ich das nicht so benennen. Ich habe es benannt und bin auch gut behandelt worden, aber es gab auch Frustrationserlebnisse. Wie bei einem Maler wollte ich, dass auf meine Bilder gekuckt wird, aber es wurde vielmehr auf den Rahmen gekuckt. Ich bin da definitiv in einer anderen Phase angekommen und muss das auch nicht mehr erzählen. Ich bin damit einverstanden, da kann Sarrazin erzählen, was er will.

Ein Kommentar zu “Humor hat viel mit Timing zu tun.”

  1. ralf |

    Sarrazin

    Ha! Sehr schön, gerade auch der letzte Satz. Alles gesagt.

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