Fatih Akin

Völkermord verjährt nicht.

Der Regisseur Fatih Akin erzählt im Interview, wie er vom türkischen Völkermord an den Armeniern erfuhr, spricht über den Umgang mit Waffen in den USA, Vergangenheitsbewältigung und seinen Film „The Cut“, der gerade in den deutschen Kinos gestartet ist.

Fatih Akin

© Vanessa Maas / bombero international

Fatih Akin, Ihr neuer Film „The Cut“ erzählt von einer Familie, die durch den türkischen Völkermord an den Armeniern in der Zeit des Ersten Weltkriegs fast ausgelöscht wird. Warum haben Sie sich dieses Thema ausgesucht?
Akin: Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht, es hat mich ausgesucht. Als Kind türkischer Eltern hat es mich beschäftigt, vor allem wegen seine Tabuisierung. Immer, wenn etwas verboten ist, werde ich hellhörig und neugierig.

Sie sind mit dem Regisseur Atom Egoyan befreundet, der 2002 mit „Ararat“ einen höchst komplexen Film über den Umgang mit diesem Völkermord gemacht hat. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Akin: Atom und ich haben uns 2010 in Armenien kennengelernt, auf dem Filmfestival „Goldene Aprikose“, das dort in der Hauptstadt Jerewan stattfindet. Damals hatte ich gerade entschieden, meinen eigenen Film zu diesem Thema zu machen. Das Projekt steckte aber noch in den Kinderschuhen.

Egoyan ist der Sohn armenischer Eltern, Ihre Eltern sind Türken. Wann haben Sie miteinander über dieses Kapitel Ihrer Geschichte gesprochen?
Akin: Wenn man einen Armenier und einen Türken zusammenbringt, vor allem wenn die beiden Filmemacher sind, dann gehen eigentlich 70, 80 Prozent der Gespräche nur über den Völkermord, beziehungsweise über den Umgang damit. Ich habe ihn ja nie bestritten. Wir hatten damals gleich ein intensives Gespräch über die Frage: Wie könnte man mit den Mitteln des populären Kinos diesen Völkermord behandeln? Atoms Sohn hatte vorgeschlagen: Warum könnte man mit dem Thema nicht mal so umgehen, wie es Quentin Tarantino mit Nazideutschland in „Inglourious Basterds“ gemacht hat? Ich meinte: Ich würde diesen Film gerne als Western machen. Wir haben sehr leidenschaftlich und sehr lange darüber diskutiert. Das war der Beginn einer Freundschaft.

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Ich habe gedacht: Meine Leute machen sowas nicht.

Fatih Akin

Sie haben eben kurz erwähnt, dass Sie den Völkermord „nie bestritten“ hätten. Wie kam das?
Akin: Wenn ich ihn jemals bestritten habe, dann in dem Moment, wo ich zum ersten Mal von ihm gehört habe, mit 14, 15 Jahren: Meine Leute machen sowas nicht, habe ich gedacht. Ich habe dann aber viel darüber gelesen, eigentlich alles, was ich zu dem Thema in die Finger bekommen konnte. Auch Bücher von Leuten, die den Völkermord bestritten haben.

Wie sind Sie mit diesen Positionen umgegangen?
Akin: Hinter den Argumentationen steckt immer eine bestimmte Motivation, sie haben einen gewissen Tonfall. Da muss man erstmal fragen: Warum bestreitet jemand so etwas? Dann schaut man sich eben die entsprechende UN-Konvention an, in der Raphael Lemkin, ein Jurist, Völkermord als Straftatbestand definiert hat. Was er da alles erwähnt deckt sich ja auch mit der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung. Es wird ja zugegeben, was passiert ist. Man nennt es nur nicht Völkermord, weil dieser Terminus eben strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Völkermord verjährt eben nie.

Das heißt, die offizielle Haltung der Türkei wird in diesem Punkt von Anwälten bestimmt?
Akin: Ja, es ist ihnen aus bürokratisch-politischen Gründen nicht möglich, ihre Verantwortung einzugestehen. So ist der Völkermord leider zu einem Spielball der Politik geworden. Überall. Im Westen versucht man bisweilen mit allen Mitteln den EU-Beitritt der Türkei zu verhindern und spielt dann die Völkermord-Karte. Das ist leider zu etwas sehr Oberflächlichem mutiert. Deswegen ist mir die offizielle Postion der Regierung auch relativ egal. Selbst wenn die Türkei sagen würde: Wir geben zu, das war ein Völkermord – damit wäre die Geschichte nicht erledigt. Wichtig ist, dass die Gesellschaft, die Menschen auf der Straße von ihrer eigenen Geschichte erfahren. Eine Gesellschaft muss annehmen, was in ihrem Namen geschehen ist, sie muss ihre Geschichte kritisch reflektieren.

Fatik Akin bei Dreharbeiten zu "The Cut" © Pandora Film

Fatik Akin bei Dreharbeiten zu „The Cut“ © Planet Interview


Was bringt manche Menschen dazu, sich so stark mit der Geschichte zu identifizieren, dass sie einen nicht loslässt, während andere die Vergangenheit hinter sich lassen wollen? Kann Verdrängung unter Umständen auch legitim sein?

Akin: Ich glaube, Verdrängung ist nicht gesund. Sie ist eine Erklärung dafür, warum Völkermorde wieder und wieder und wieder passieren. Geschichte und Zukunft sind ja jetzt. Sie und ich sitzen hier und sind das Ergebnis von Geschichte. Unsere Gegenwart ist von Geschichte geprägt. Wir werden die Zukunft prägen. Darum ist man nicht irgendwie nostalgisch, wenn man an die Zeit vor 100 Jahren erinnert, man ist im Hier und Jetzt. „The Cut“ ist jetzt. Und wenn man das als Gesellschaft nicht intensiv genug erarbeitet, verarbeitet, realisiert, versteht, begreift, dann hat man Zustände, wie es sie heute im Nahen Osten gibt. Dort hat aus mangelndem Wohlstand heraus keine kulturelle Reflexion der eigenen Geschichte und der eigenen Gegenwart stattgefunden.

Eine Art moralischer Schuldenschnitt, wie ihn zum Beispiel die Bibel mit der Geschichte von Noah andeutet, wäre nicht praktikabel? Man könnte als Weltgemeinschaft nicht sagen: Lasst uns die Vergangenheit begraben und gemeinsam neu anfangen?
Akin: Letzteres würde nur funktionieren, wenn man sich „das Begraben“ erarbeitet hat. So funktioniert ja die individuelle Psychologie: Ich habe ein Trauma, irgendwas Schlimmes in meiner Kindheit erlebt und deshalb tu ich anderen Leuten nun schlimme Dinge an. Wenn ich diesen Zusammenhang ignoriere, mache ich damit weiter. Wenn ich mich aber damit konfrontieren, eine Gesprächsanalyse durchführen und mein eigenes Krankheitsbild analysieren würde, wäre die Erfolgsaussicht geheilt zu werden größer. Das ist bestätigt in der Psychologie und in der Medizin.

Was für das Individuum gilt, gilt auch für die Gesellschaft?
Akin: Auf jeden Fall, weil eine Gesellschaft eben aus Individuen besteht. Man muss sich doch nur den Umgang der USA mit ihrer Geschichte angucken. Dort hat man bis heute keines der kolonialen Verbrechen an den Ureinwohnern als Völkermord bezeichnet. Ich glaube, einer der Gründe, warum heute Jugendliche in den USA mit Gewehren in Highschools gehen und um sich schießen können, ihre Mentalität, das Beharren auf dem Recht sich zu bewaffnen, hat mit der Verklärung ihrer eigenen Geschichte zu tun. Ohne Waffen hätte Nordamerika niemals erobert werden können. Darüber will niemand reden. Aber wenn man das als Gesellschaft kritisch hinterfragen würde, müsste auch der Gesetzgeber reflektierter mit dem Waffengesetz umgehen.

Wo wir von den USA sprechen, vor einigen Jahren zeigten Sie sich überrascht, dass ein Großvater von Bob Dylan Türke war und ein Nachbar Ihres Großvaters hätte sein können…
Akin: Das habe ich aus Dylans Buch „Chronicles“ herausgelesen, genau.

The CutIm Zusammenhang mit „The Cut“ betonen Sie nun, wie wichtig der US-amerikanische Regisseur Elia Kazan für Sie ist – Kazan wurde als Sohn griechischer Eltern im heutigen Istanbul geboren. Was bedeutet Ihnen die Herkunft von Menschen, die Sie beeinflusst haben?
Akin: Letztlich überraschen mich diese Zusammenhänge nicht so sehr. Sie sind ja eine logische Folge aus der Geschichte der USA. Wahrscheinlich wäre man eher überrascht, wie amerikanisch ich trotzdem bin. Ich mag, wie praktische vieles in den USA ist. Ich finde praktische Dinge einfach… ganz praktisch (lacht). Ich habe zum Beispiel immer Schwierigkeiten, in irgendeiner fremden Stadt Auto zu fahren. In Istanbul – Oh, Gott! Oder Autofahren in Rom… Die einzige Stadt, in der ich wirklich mit dem Auto klar komme, ist Los Angeles. Da geht’s nur geradeaus, im rechten Winkel nach links oder rechts und dann wieder nur geradeaus. Vieles in den USA folgt diesem vereinfachten, sehr praktikablen Prinzip. Die Haltung: Schmeiß alles weg, was unnütz ist und nimm nur noch das, was nützlich ist, die halte ich für einen richtigen Ansatz.

Solange man sie nicht in eine politische Ideologie übersetzt, ist pragmatische Verdrängung also durchaus zu begrüßen?
Akin: Ja klar. Man muss eben nur differenzieren. Auch im Kino darf man nicht nur von diesem ideologischen Standpunkt ausgehen, dass das Hollywood-Kino schlecht und das europäische Kino besser ist. Es gab da ja immer einen fruchtbaren Austausch zwischen den USA und Europa. Godard und Co haben sich auf US-Filme von Howard Hawks und anderen bezogen. Die Impulse des europäischen Kinos der Sechziger Jahre führten dann zur Ära des New Hollywood, zu den besten US-Filmen überhaupt. So ein Austausch ist immer fruchtbar.

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