Herr Meirelles, Sie haben Ihren Film "City of God" in den Armenvierteln um Rio de Janeiro gedreht, sogenannten Favelas. War die Arbeit gefährlich, haben Sie vielleicht sogar mit Drogendealern, wie sie im Film eine große Rolle spielen, verhandeln müssen?
Meirelles: Also, wir mussten uns schon eine Erlaubnis holen, um in den Favelas drehen zu dürfen. Aber wir mussten nicht mit Drogendealern verhandeln, wir haben das über die Gemeinschaftszentren erledigen können, die es in jedem Favela gibt. Wir haben denen unser Drehbuch gezeigt und erzählt, wie und wo wir den Film gerne drehen würden. Die waren dann meistens einverstanden, aber auch unter bestimmten Bedingungen. Zum Beispiel hat man uns gebeten, Computer zu spenden und dass wir beim Film so viel Menschen aus den Favelas beschäftigen wie möglich. Deshalb stammten beispielsweise all unsere Maskenbildner und Kulissenbauer aus den Favelas. Letztendlich haben 150 Menschen aus den Favelas an diesem Film mitgearbeitet. Für die war das auch eine großes Vergnügen, teil dieses Films zu sein. Alle waren jeden Tag sehr aufgeregt, auch weil es ja ein Film über ihre eigene Umgebung ist. Da brauchten wir uns auch gar nicht um die Drogenbosse zu kümmern, ich war mir sicher, dass nichts passieren würde, eben weil wir mit den Menschen zusammengearbeitet haben.
Es muss ja faszinierend sein, mit so vielen Laien-Schauspielern zusammenzuarbeiten, die dazu noch ihr eigenes Leben darstellen. Das klingt fast wie ein Sozial-Experiment.
Meirelles: Ich habe mich für die Arbeit mit Laien entschieden, weil ich diesen Film so realistisch wie möglich machen wollte. Der Film basiert ja auf dem Buch "Ciudade de Deus" (Die Stadt Gottes), von Paolo Lins. Er ist selbst in einem Favela aufgewachsen, dass "die Stadt Gottes" genannt wurde und er hat acht Jahre gebraucht, dieses Buch zu schreiben, es sind also alles Geschichten, wie er sie in den Jahren erlebt hat. Wenn man das liest, dann merkt man auch, dass es sehr lebensnah geschrieben ist. Diesen Eindruck wollte ich im Film natürlich erhalten und ich habe mir überlegt, dass das nur möglich sein würde, wenn ich mit den Jungs aus den Favelas zusammenarbeiten würde.
Bevor wir angefangen haben zu drehen, haben wir etwa 2000 Interviews mit Menschen aus den Favelas geführt. Von denen haben wir 200 ausgesucht, mit denen wir dann sechse Monate Schauspieler-Workshops gemacht haben. Danach fingen wir an, die Hauptdarsteller auszusuchen, die wir dann noch weitere vier Monate auf den Film vorbereitet haben. Aber: wir haben denen das Drehbuch gar nicht gegeben, alle Dialoge haben die selbst erfunden. Wir haben ihnen immer nur die ungefähre Richtung einer Szene gegeben. So haben die sehr viel von ihren Lebenserfahrungen einbringen können, natürlich auch von ihren Erfahrungen mit der Drogenkriminalität.
Außerdem spielt natürlich ihre Sprache, der Slang und die Redewendungen, eine große Rolle, das hat den Film sehr bereichert. Na ja, wenn man den Film natürlich in Deutsch sieht, dann entgeht einem eine Menge. (Allerdings konnte für die deutsche Fassung u.a. Xavier Naidoo als Sprecher gewonnen werden. Anm. d. Red.).
Die Hauptdarsteller von "City of God" zeigen eine sehr beeindruckende Leistung. Was geschieht heute mit denen, sind die bereits in neue Filmprojekte involviert?
Meirelles: Als wir mit dem Film fertig waren konnten wir natürlich nicht einfach sagen: "Ok, Jungs, das war’s." Also sind wir zu der Theatergruppe "Nos do Morro" (Wir vom Theater) gegangen, die der Schauspieler Guti Fraga in einem Favela gegründet hat und haben ein Büro eingerichtet, dass jetzt Workshops in Beleuchtung, Kameraarbeit, Schnitt und Drehbuchschreiben organisiert. Die haben schon nach vier Monaten zwei Kurzfilme gedreht, dann einen Dokumentarfilm und im vergangenen Sommer haben wir für das Fernsehen einen 4-Teiler gedreht, "City of the Man" wo sie vor und hinter der Kamera standen. Die Arbeit geht also weiter, wir versuchen für sie Arbeit zu finden, suchen nach neuen Möglichkeiten. Einige der Schauspieler haben bereits in anderen Filmen mitgespielt und die beiden Hauptdarsteller sind in Brasilien mittlerweile sehr bekannt, die laufen durch die Straßen und werden nach Autogrammen gefragt. Viele konnten jetzt aus den Slums in die Stadt ziehen, wo sie eine Wohnung haben, wo sie mit ihren Familien leben. Wir versuchen also, diese jungen Menschen so lange zu begleiten, bis sie uns nicht mehr brauchen.
Sie haben schon sehr viel als Werbefilmer gearbeitet und "City of God" fasziniert unter anderem auch aufgrund der eigenwilligen Kameraführung und des Schnitts. Was meinen Sie, inwiefern Sie also von ihren früheren Arbeiten beeinflusst wurden?
Meirelles: Also, bevor ich zum Film kam, habe ich ja Architektur studiert. Dann habe ich mi so experimentellen Video-Geschichten angefangen (lacht) und war später an unabhängigen TV-Produktionen beteiligt, zum Beispiel bei kleinen Dokumentarfilmen, wo wir Journalismus mit Comedy vermischt haben. Schließlich bin ich dann zur Werbung gekommen, wo ich erst mal richtig gelernt habe, wie man eine Kamera einsetzt, wie man im Film Geschichten erzählt. Und heute denke ich, dass die Werbung die beste Schule für Regisseure ist. Die Leute bezahlen dich und du musst dafür deine Hausaufgaben machen. "Mach mal diesen Spot für Teenager, der muss lustig sein." Oder "mach mal schnell diesen Spot, der muss sehr emotional sein, für Frauen über 40"- und dann musst du abliefern. Das könnte gar nicht besser sein, finde ich. Ich habe bei der Werbung gelernt, wie man filmt, wie man präzise ist, seine Intention rüberbringt — das ist eine großartige Schule. Und witzig ist ja, dass die meisten der neuen Regisseure in Argentinien und Mexiko auch aus der Werbebranche stammen.
Mit dem politisch motivierten, sogenannten "Cinema Novo" hatte der brasilianische Film aber auch schon in den 60ern eine Hochzeit. Nelson Pereira dos Santos, einer der Gründer der Bewegung hat damals schon in den Favelas gedreht.
Meirelles: Ja, aber in der Zeit danach gab es gar kein Geld mehr für den Film. In den 70ern hat man ein paar sehr kommerzielle Filme gedreht und Ende der 70er ist unsere Filmbranche dann völlig eingegangen. In den 80ern, also meine Generation, da wollte man natürlich trotz der Misere Filme machen. Und so habe ich zum Beispiel mit Werbung und Videoclips angefangen. Erst in den 90ern wurde es dann wieder möglich, genügend Geld für einen Film zu bekommen, weshalb man heute auch von einer "neuen Generation" von brasilianischen Filmemachern spricht — wir sind ja nicht jung, nicht neu, die Bezeichnung kam eben wegen der Filmkrise in den 80ern zustande.
Wie steht es im Moment um die brasilianische Filmindustrie?
Meirelles: Ich denke, dass sich das brasilianische Kino in den letzten 10 Jahren um einiges verbessert hat, jedes Jahr geht es weiter aufwärts. Allein dieses Jahr kommen vier exzellente brasilianische Werke in die Kinos, mindestens zwei davon könnten auch international Erfolg haben. Und wie in Brasilien etabliert sich auch in Argentinien und Mexiko ein neues Kino. Es entstehen Filme, die sehr frische Portraits vom Leben zeichnen, wo man denkt, so etwas habe ich noch nie gesehen. Man liest ja auch sehr viel über diese neue lateinamerikanische Welle, da passiert sehr viel in Brasilien. In den 80ern, da wurden nur etwa fünf brasilianische Filme pro Jahr gedreht — letztes Jahr waren es dagegen 50. Und von den 50 werden zwei oder drei Filme sehr gut sein. Die Amerikaner produzieren ja 700 Filme im Jahr, weswegen wir jedes Jahr etwa 15 gute amerikanische Filme sehen können.
Denken Sie, dass es eine ernstzunehmende Hoffnung gibt, dass die Menschen, die Sie in ihrem Film portraitieren eines Tages ein besseres leben führen können?
Meirelles: Natürlich denke ich das. Und es passieren sogar schon Dinge, die das Leben in dem Favela, das "Die Stadt Gottes" genannt wird verändern könnte. Im Februar diesen Jahres haben sich Minister aus dem Land Rio und der Bürgermeister von Rio in diesem Favela getroffen, weil sie ein Programm starten möchten, mit dem zum Beispiel viele neue Häuser und öffentliche Einrichtungen gebaut werden können. Die haben sich auch wegen dem Film entschieden, diesen Prozess in "Die Stadt Gottes" zu beginnen, eben weil der Film ein Symbol dafür geworden ist, was in Brasilien verändert werden muss. Für mich war dieses Treffen eine großartige Nachricht, weil es zeigt, dass jetzt Veränderungen auch von oben gewollt sind. Normalerweise, wenn die brasilianische Regierung die Drogendealer bekämpfen will, greift sie zur "George Bush"-Lösung: Armee-Hubschrauber werden eingesetzt, es fließt viel Geld an die Polizei … Aber das funktioniert nie. Wenn du einen Drogendealer verhaftest, dann wird am nächsten Tag ein anderer sein Geschäft übernehmen.
Aber heute haben wir mit "Lula", also unseren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, einen sehr klugen Mann in der Regierung, der als erster die Drogen-Kriminalität nicht mit Repression bekämpft, sondern versucht die Bürger in den Favelas mit einzubeziehen. Er will Schulen aufbauen, Sportanlagen, Kulturzentren, er will die Leute zur Arbeit motivieren. Es sollen allein in der "Stadt Gottes" 500 Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist auf jeden Fall der richtige Weg. Im Vergangenen Jahr wurden in dem Favela 68 Jungen getötet. Ich denke, wenn der Präsident seine Programme durchsetzt, dann wird sich diese Zahl Jahr für Jahr verringern. Das ist Hoffnung!