Senhor Meirelles, die Charaktere in Ihrem Film „360“ sind sehr speziell, der Zuschauer mag sie nicht sofort. Partner, die sich betrügen, Menschen die sich ausnutzen – ist der Mensch gemein?
Meirelles: Als ich das Drehbuch las, mochte ich jeden von denen. Ich halte alle für gute Menschen. Selbst der Vergewaltiger, der dafür verhaftet wurde, will kein Vergewaltiger sein. Er will ein guter Mensch sein und nie wieder jemanden vergewaltigen. Meine Figuren versuchen gute Ehemänner und Ehefrauen zu sein, aber irgendwas ist in uns, das uns zwingt eine andere Richtung zu gehen. Das ist das Interessante am Film. Es gibt keinen klassischen Bösewicht, denn der lauert in uns allen.
Auch in Ihnen…
Meirelles: Ich will ein guter Ehemann sein, bereue aber manche Dummheit meines Lebens. Es ist ein Kampf mit uns selbst. Gute Menschen tun manchmal schlechte Dinge, weil uns irgendetwas in uns dazu bringt. Jeder versucht sein Bestes zu geben. Aber das ist ziemlich schwierig. Deshalb tun wir es nicht immer. Wir sind eine sehr primitive Spezies. Wir kontrollieren uns recht gut, folgen aber dennoch häufig unseren Instinkten.
Reisen von einem Land zum nächsten in einer globalisierten Welt bilden die Basis von „360“. Ihr Drehbuchautor Peter Morgan wundert sich wie „überflüssig Grenzen mittlerweile sind“. Er spricht von „multinationalen Milieus“ und einer „einzigen Weltgemeinde“. Stimmen Sie mit ihm überein?
Meirelles: In der Zukunft, so wir eine Zukunft erleben, werden Grenzen verschwinden. Gerade für Menschen die sehr viel reisen, wie Peter oder mich, haben Grenzen ihre Bedeutung verloren. Ich hoffe, dass wir uns dennoch lokale Eigenheiten erhalten können. Die machen den Reiz des Reisens schließlich aus. Sonst wird die Welt zu einem einzigen, gleichen Ding.
Ihr Film „360“ vertritt diese These, dass alles mit allem zusammenhängt…
Meirelles: Ja, er zeigt, wie wir alle miteinander verbunden sind. Peter war es wichtig, von weltweiten Verknüpfungen zu erzählen. Wir erleben das in der Wirtschaft, bei der Umweltverschmutzung oder auch wenn ein Virus sich ausbreitet. Aus dieser eng mit einander verbundenen Welt haben wir persönliche Beziehungen abgeleitet. Ich glaube fest daran, dass das, was ich hier heute tue, jemand in China beeinflussen kann. All das, was im Film passiert, kann tatsächlich passieren. Das sind weniger Fantasien, als Möglichkeiten.
Hat dieses Zusammenwachsen der Welt Einfluss auf das, was für die Menschen Heimat bedeutet?
Meirelles: Wir alle wissen, wo unsere Heimat ist. Das hat nicht unbedingt mit Ländern zu tun. Mein Zuhause ist, wo meine Frau ist. Wenn ich bei ihr bin, bin ich Zuhause. In England genauso wie in Brasilien. Unsere Beziehung gibt mir das Gefühl von Heimat – nicht Grenzen, Nationalitäten oder Pässe.
Ich halte alle für gute Menschen. Selbst der Vergewaltiger, der dafür verhaftet wurde, will kein Vergewaltiger sein.
Wie lassen sich in dieser modernen Welt Sitten und Bräuche konservieren?
Meirelles: In erster Linie, durch Leute, die nicht reisen… und nicht fernsehen. Die keinen Zugang zum Internet haben. Das sind diejenigen, die ursprüngliche Kultur erhalten. Ich lebe im kosmopolitischen Sao Paolo, einer internationalen Großstadt mit Millionen von Einwohnern. Wir sehen dort die gleichen Sachen im Fernsehen, essen die gleichen Dinge wie überall auf der Welt in großen Städten. Aber einmal im Monat mache ich mich auf zu einer Farm in einem kleinen Dorf, das 500 Kilometer von Sao Paolo entfernt ist. Die Leute dort leben recht abgeschnitten von der restlichen Welt. Sie haben ihr eigenes Timing. Ihr Tag ist länger. Sie sind es, die Kultur erhalten werden. Dort esse ich das Essen der Einheimischen und spreche wie sie. Die Kultur ist eine ganz andere dort.
Was zieht Sie zu dieser Farm?
Meirelles: Mich reizt, dass es dort anders ist. Sao Paolo ist gut vernetzt. Das bedeutet für mich Emails, Internet und Meetings. Im Dorf habe ich kein Telefon und kein Internet. Es ist wie eine Zeitreise, 20 Jahre in die Vergangenheit. Dort weiß ich, dass ich von Montag bis Freitag bleibe und jeder, der mich erreichen will, muss eben warten. Ich mag dieses Gefühl. Diese moderne Welt mit ihrer modernen Technik hat uns verarscht. Vor 20 Jahren dachte man, dass Technik für Freiheit sorgen wird. Dass die Menschen Zeit haben werden, um zu Schreiben und zu Lesen, für Kultur. Die Maschinen würden für uns arbeiten. Das Versprechen lautete: Technik wird uns von Arbeit befreien. Genau das Gegenteil ist eingetroffen. Wir sind zu Sklaven geworden. Die Arbeit verfolgt uns.
In Deutschland forderte zuletzt die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen eine Regelung zum Schutz der Angestellten, damit diese nicht ständig erreichbar sein müssen…
Meirelles: Genau das meine ich. Ohne die Maschinen hätten wir mehr Freizeit. Aber der Job folgt uns. Ich persönlich benutze kein Handy. Ich habe nicht mal eines. Ich bin gerne nicht erreichbar. Das ist eine tolle Erfahrung, um zu entspannen. Wir müssen lernen damit umzugehen.
Ihr Film verknüpft Kurzfilme verschiedenster Genre miteinander. Haben Sie die auch wie unterschiedliche Kurzfilme, also einen nach dem anderen, gedreht?
Meirelles: Es war tatsächlich wie Kurzfilme-Drehen: In zig Städten mit unterschiedlicher Besetzung vor und hinter der Kamera. Eine meine größten Sorgen war, dass der Film sich wie ein Kurzfilmfestival anfühlen könnte, mit verknüpften Enden. Die Herausforderung bestand darin, die Geschichten organisch miteinander zu verbinden und zu vermischen, indem Charaktere an Stellen wieder auftauchten, wo man sie nicht erwartet hätte.