Zu Beginn: Wer ist Friedrich von Borries?
Friedrich von Borries: Na das ist relativ einfach zu beantworten. Das bin ich, der vor Ihnen sitzt (lacht). Wahrscheinlich steckt dahinter eine andere Frage. Entweder: Wer ist Friedrich von Borries alles nicht oder was ist Friedrich von Borries eigentlich sonst noch? Das große Paradigma unserer Zeit ist der Unverwechselbarkeitsaufruf. Wir leben in einer Zeit, in der alle individuell sein sollen. Ich glaube da nicht so ganz dran. Wörtlich gesehen heißt individuell, dass man wie ein Atom ein unteilbares Ganzes ist. Ich halte es für eine große Freiheit unserer Zeit, dass man nicht unteilbar ist, sondern aus verschiedenen Aspekten, Möglichkeiten und Facetten besteht.
Sie bezeichnen sich als Architekt, doch über Ihre Arbeit als Architekt weiß man nur wenig.
von Borries: Mein Büro macht seit vielen Jahren städtebauliche Planungs- und Beratungsprojekte, die sind medial nicht so catchy und sexy und werden deshalb nicht im Feuilleton besprochen, aber sie sind in der Fachwelt durchaus bekannt. Und ja, ich habe jetzt zwei Romane geschrieben, deshalb bin ich noch lange kein Romanautor. Ich schreibe zuweilen auch für Zeitungen und kritisiere auch andere für das, was sie tun, aber deshalb bin ich kein Journalist und auch kein Kritiker. Das Feld, in dem ich – bezieht man das Studium ein – seit 20 Jahren tätig bin, ist Architektur. Ich bin in der Architektenkammer als freischaffender Architekt eingetragen und ich bin Hochschullehrer. Vieles andere sind Fremdzuschreibungen.
An welchem Projekt arbeiten Sie aktuell in Ihrem Planungsbüro?
von Borries: Wir begleiten seit 2009 die Stadt Frankfurt bei Grünflächenprojekten und entwickeln urbane Zukunftskonzepte. Neu dazu gekommen ist ein langfristiges Freiraumkonzept für München, dass wir zusammen mit dem Berliner Landschaftsarchitekturbüro bgmr bearbeiten, außerdem planen wir die Außenflächen für die Hamburger Theaterfabrik Kampnagel. Als Architekt macht man eben nicht nur Hochbau.
Ihr Roman „RLF – Das richtige Leben im falschen“ ist in der hippen Werbewelt angesiedelt, die Sie bereits in Ihrem Buch „Wer hat Angst vor Niketown?“ kritisch beleuchteten. Warum ist diese Sphäre für Sie so interessant?
von Borries: Ich unterrichte Designtheorie und ich glaube, man muss sich, wenn man sich mit Design und Kulturproduktionen beschäftigt, mit den Sphären auseinandersetzen, in denen sie verwertet, vermarktet und ökonomisiert werden.
Das große Paradigma unserer Zeit ist der Unverwechselbarkeitsaufruf.
Ihr Roman enthält die Idee, durch Konsum die Welt zu verbessern. Wie funktioniert das?
von Borries: RLF als Unternehmen versucht das Experiment, mit sehr teuren Konsumprodukten Geld für revolutionäre Bewegungen zu generieren. Das klingt nach einem Widerspruch in sich, es wird aber erst in der Praxis zeigen, ob es einer ist.
Welche Produkte vertreiben Sie und was ist daran revolutionär?
von Borries: Das Ursprungszitat, auf das sich das ganze Projekt bezieht, „es gibt kein richtiges Leben im falschen“, kurz RLF, entstammt einem Text, der unter dem Titel „Asyl für Obdachlose“ das bürgerliche Wohnen thematisiert. Deshalb dreht sich die Kernkollektion von RLF mit Wohn- und Esszimmer ums bürgerliche Wohnen. Und da sich RLF als ganzheitliches Projekt versteht, haben wir zusätzlich noch eine Körperbekleidungslinie, so dass wir insgesamt zehn Produkte haben: Ein paar Schuhe, ein Overall und ein Schmuckstück als Bekleidung, ein Esstisch, Stühle, ein Teeservice, ein Teppich, eine Couch, eine Tapete und ein Bücherregal.
Seit 18. Oktober bieten Sie RLF-Produkte in einem Laden in der Potsdamer Straße in Berlin an, holen die Gedanken aus dem Roman in die Wirklichkeit. Warum sollte man sich die total überteuerten Produkte kaufen?
von Borries: Das müssen Sie die Käufer fragen. Es gibt natürlich viele Gründe, warum das sinnvoll ist. Zum Beispiel, weil sie total schön sind. Oder, weil sie total exklusiv sind. Oder, weil sie aufgeladen sind mit einem Mehrwert, den andere Produkte nicht haben, nämlich weil sie eben nicht nur teuer und exklusiv und gut gestaltet sind, sondern, weil sie eine innere Widersprüchlichkeit haben und weil man mit dieser ganzen Aufladung revolutionäre Bewegungen finanziert.
Mit RLF wollen Sie die oberen Zehntausend ansprechen, glauben Sie wirklich, dass die oberen Zehntausend diejenigen sind, die die Revolution vorantreiben möchten?
von Borries: Die oberen Zehntausend sind diejenigen, die sich die Produkte leisten können. Die Frage ist, wer bei uns in der Gesellschaft politische Entwicklungen bestimmt. Wir haben`s jetzt gerade der Presse entnehmen können: Die Großaktionäre eines Automobilkonzerns haben der Regierungspartei eine nicht unwesentliche Geldspende zukommen lassen – zufälligerweise zeitgleich mit den Verhandlungen über CO2-Reduktion in der Automobilindustrie. Dagegen geht keiner auf die Straße, es demonstriert keiner dafür oder dagegen. Insofern stellt dieses Projekt hier Fragen ohne Fragen zu stellen, es illustriert bestimmte Phänomene der Gegenwart und verdichtet sie.
Sie bieten die RLF-Produkte für reiche Kunstliebhaber an, parallel dazu läuft ein Online-Spiel, bei dem die „Shareholder der Revolution“ einen speziellen Turnschuh gewinnen können. Sind die Leute zu faul um zu revoltieren, so dass Sie sie durch Gamification locken müssen? von Borries: Das ist erstmal ein Experimentalaufbau, ein Setting, das in allen Bereichen bewusst versucht, eine Schmerzgrenze und einen Perversitätsfaktor zu erreichen: Die Produkte für die Revolution gibt es nur für die oberen Zehntausend, für die anderen bleiben Brot und Spiele mit Belohnungen und Punkten. Da fangen die spannenden Fragen an: Was ist einem lieber? Dass man „Deutschland sucht den Superstar“ kuckt oder dass man mit der gleichen Konsumhaltung ein RLF-Spiel spielt und erfährt wie politischer Protest möglich sein könnte? Oder diskreditiert man einen politischen Protest in einer solchen Form? An dem Punkt überschreitet das Projekt Grenzen, die es dadurch natürlich auch in Frage stellt.
Woran erkennt man, dass RLF mehr ist als nur ein toll konzipiertes und schick gebrandetes Kunstprojekt?
von Borries: Vielleicht ist es ja nur ein toll konzipiertes und schick gebrandetes Kunstprojekt.
Letztlich klingt das RLF-Konstrukt nach einer guten Werbekampagne, aber nicht nach etwas Gegenständlichem…
von Borries: Das ist jetzt kein ernst gemeinter politischer Handlungsaufruf dazu, wie wir die Probleme unserer Gesellschaft überwinden können, sondern es ist eine Form von Kritik und Reflektion über unsere Gesellschaft in Form eines vielschichtigen Projektes. Ob man das deshalb als Kunstprojekt bezeichnet, als fleischgewordene Theorie oder metafiktionale Erzählung – das kommt auf die Perspektive an. Es ist ein Projekt, das sich mit Marketing und Branding auseinandersetzt, beides kritisiert – und gleichzeitig einsetzt. Das ist für manche ungewohnt, sollte aber nicht dazu führen, es gleichzusetzen. Das Projekt arbeitet sehr gezielt mit Verwirrung und Irritation.
Was erwarten Sie sich davon?
von Borries: Es soll die Leute, die sich damit auseinandersetzen in ein Unbehagen versetzen. Was bei manchen passiert, ist, dass dieses Unbehagen auf das Projekt projiziert wird, anstatt dass sie angeregt werden, über die eigenen Widersprüchlichkeiten, die dieses Projekt ausdrückt, nachzudenken. Denn alles, was dieses Projekt macht – und das ist in dem Buch als „kapitalistischer Realismus“ beschrieben – ist, die Lebensbedingungen und Handlungsweisen in unserer Gesellschaft pointiert darzustellen.
Sie erwähnen Unbehagen gegenüber dem Projekt. Entsteht das nicht vor allem durch die Widersprüche, die es in sich birgt?
von Borries: Auch bei uns im Team gibt es Leute aus der linksalternativen Szene, die das Projekt aus bestimmten Gründen gut und schrecklich, furchtbar, eklig und zum Kotzen finden und genauso wie ich abwägen müssen: Was macht man, um was wo zu erreichen? Ich behaupte jetzt mal, niemand ist glücklich mit so einer absurden Konstellation wie: „Gewinne einen Adidas-Turnschuh, indem du künstlerisch-politisch gegenkulturellen Protest machst.“ Es ist so widersprüchlich, dass jedem klar ist, das ist keine Marketingkampagne für irgendjemanden. Auch die beteiligten Unternehmen werden ihre Bauchschmerzen mit diesen Sachen haben – aber das macht das Projekt ja auch so spannend.
Sie sind Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis wie auch Autor des Revolutionsromans „RLF“ – Wie bringen Sie das zusammen?
von Borries: Aus einer bestimmten Perspektive ist RLF ein Forschungsprojekt über Marketing im heutigen Kunst- und Kulturbetrieb mit der Fragestellung: „Welche gesellschaftliche Relevanz und Wirkung kann Gestaltung haben?“ Das ist methodisch ein bisschen ungewohnt und wird auch sicherlich nicht von allen Kollegen als sinnvoll und zielführend verstanden, aber für mich ist das die Form, in der ich Arbeit interessant finde. Insofern hat es auch etwas damit zu tun, dass ich in einer Kunsthochschule für Designtheorie tätig bin.
Zwar ist RLF ein Forschungsprojekt, aber es werden tatsächlich Produkte verkauft und Geld ist auch im Spiel. Was passiert mit diesem Geld?
von Borries: Da gibt es zwei Antworten: Als ernsthafter Ökonom kann man sich ausrechnen, um was für Volumina es in dieser ersten, limitierten Kollektion geht. Auf den ersten Blick klingt das nach ganz viel, aber wenn man weiß, was eine gute Umsatzrendite ist – irgendwas zwischen 10 und 15% – dann weiß man, wie viel Gewinn übrig bleibt. Das werden, wenn wir alles verkaufen, vielleicht 100.000 Euro sein. Die Mikronation werden wir davon nicht kaufen können. Und ich glaube auch ehrlich gesagt nicht, dass wir alles verkaufen. Die andere Antwort ist die, dass wir dann mit den Shareholdern, den Käufern und den Leuten, die im Spiel sitzen, in Diskussion treten werden: Reinvestieren, also kapitalistisch handeln, oder verausgaben?
In was würden Sie investieren?
von Borries: Das weiß ich noch gar nicht. Ich finde es erstmal total spannend, ob die Leute kaufen. Auch: Wer kauft? Warum? Wer macht mit? Was für Ideen kommen da? Vielleicht machen irgendwelche Leute, Wirtschaftsexperten, Juristen mit, die tolle Ideen haben, was man mal machen sollte. Da bin ich echt gespannt. Wenn ich jetzt schon wüsste, was ich mit dem Geld machen würde – wenn es überhaupt welches gibt – dann hätte man das nicht als kommunikatives Projekt aufziehen müssen. Außerdem ist RLF jetzt ja auch so was wie eine „Marke“, die viel mehr wert ist als der Gewinn, der jetzt durch den Verkauf erzeugt wird. Es wird spannend, wohin sich RLF entwickelt.
Wo haben Sie das letzte Mal öffentlich demonstriert?
von Borries: Vor einer Woche in Mexiko, als ich per Zufall bei meinen Stadtspaziergängen in eine Demonstration hineingeraten bin von der dortigen linkspolitischen Bewegung der indigenen Bevölkerung. Es geht hier aber nicht um mich als Privatperson und was ich mache. Jeder hat seine Formen, wie er politisch handelt und sich kundtut. Über meine öffentliche reden wir gerade.
Sehen Sie es noch als wichtig an, wählen zu gehen?
von Borries: Wahl ist ein extrem schwieriges Thema. Wir stehen vor dem Dilemma, dass wir einerseits in einem relativ gut funktionierendem Staatswesen leben, auf der anderen Seite es mit einer institutionalisierten Politik zu tun haben, die die Tendenz zur Entdemokratisierung hat, weil sie entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, die wirklich relevanten politischen Themen zu adressieren und zu behandeln. Dann stellt man sich die Frage, ob man dann an einer symbolischen performativen Handlung der Selbstvergewisserung wie der Wahl, in der nicht tatsächlich politische Alternativen zur Disposition stehen, teilhaben möchte. Da gibt es verschiedene Strategien von „das kleinste Übel“ wählen bis hin zu ungültig wählen oder eben nicht zu wählen.
Auf Ihrer Webseite sprechen Sie von einem „umstürzlerischen Zeitgeist“, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben. Worin erkennen Sie den?
von Borries: Wir sehen, wie sich viele Leute, sowohl national als auch im globalen Kontext, die sich auch als demokratisch verstehen, versuchen jenseits des bestehenden Systems politischer Willensbildung zu organisieren. Ob das jetzt die „Piraten“ sind, die versucht haben, in das parteipolitische System einzudringen oder Bewegungen wie „Occupy“, die das außerhalb des parlamentarischen Systems machen mit neuen Formen der Verhandlungen von Meinungen und Positionen. Nicht die Demokratie steht zur Verhandlung, aber die Frage, wie man die Demokratie tatsächlich lebt. Leute sind am Suchen, am sich bewegen und sie organisieren sich neu. Ob`s klappt, ob es tatsächlich umbricht oder ob der Protest versickert – schauen wir mal.
In Ihren Projekten beschäftigen Sie sich hauptsächlich mit der Zukunft – die Gegenwart reizt Sie nicht?
von Borries: Ich bin Architekt, der in gesamtstädtischen, baulichen Dimensionen denkt. Für verschiedene Berufe gibt es verschiedenen Zeithorizonte. Der Fußballer denkt ans nächste Spiel, ein Modedesigner an die nächste Saison, ein Automobildesigner im nächsten Produktzyklus, so drei bis sieben Jahre je nach Produkt. Ein Architekt denkt, wenn er ein Haus baut, an mindestens 25 Jahre, bis es sich amortisiert, ein Landschaftsarchitekt, der einen Baum pflanzt, denkt in Zeiträumen von 80 bis 100 Jahren. Mein Zeithorizont ist jedenfalls nicht die nächste Saison.