Geraldine Chaplin

Mit einem Sinn für Humor fällt manches leichter.

Geraldine Chaplin über Rollen und Eigenheiten ihres Vaters, die Aktualität seiner Filme und die Zukunft des internationalen Kinos

Geraldine Chaplin

© private

Mrs. Chaplin, im Juli 2011 sind in Berlin erstmals all 80 Filme Ihres berühmten Vaters Charlie Chaplin im Rahmen einer Retrospektive zu sehen. Was bedeutet Ihnen das?
Chaplin: Sein Schaffen ist zeitlos! Diese Ausstellung ist etwas besonders, alle seine 80 Filme werden in nur 24 Tagen gezeigt. Zum ersten Mal gibt es die Gelegenheit all das, was der kleine „Tramp“ über Jahrzehnte erlebt hat, mit ihm in seinen Filmen zu erleben und zu sehen, wie unglaublich gut er war. 1918 drehte er „Shoulder Arms“ („Gewehr über“) über den 1. Weltkrieg. Ein fantastischer, wenig politisch korrekter Film. Mit „Modern Times“ („Moderne Zeiten“, 1936) lieferte er den Film zur Großen Depression. Und dann „The Great Dictator“ („Der große Diktator“,1940)! Wer sonst hätte sich an so einen Film in dieser Zeit gewagt? Wir reisen gemeinsam mit diesem kleinen Kerl durch die Geschichte.

Sie sagen zeitlos. Wo begegnet er Ihnen?
Chaplin: Ich komme aus Moskau, dort habe ich im Fernsehen zum ersten Mal seit Langem „Monsieur Verdoux“ („Der Frauenmörder von Paris“, 1947) gesehen. Der Film handelt von einem Banker, einem kleinen Kassierer, dem nach 30 Jahren braven Dienstes gekündigt wird, weil die Bank in einer Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten gerät. Er hat eine Frau und ein Kind, aber keine Zukunft. Klingelt es? Der Film könnte von heute sein. Darin löst Verdoux seine Probleme, indem er ältere Witwen heiratet und anschließend tötet. Vor der Guillotine erklärt er schließlich: Mein Problem war, dass ich nur ein Amateur bin. Mord ist für ihn die einzig logische Folge vom rücksichtslosen Business. Wie könnte ein Film aktueller sein? So geht es mir mit vielen seiner Filme. Nach kurzer Zeit bemerkt man, dass sie in der Gegenwart spielen.

Kennen Sie tatsächlich all seine Werke? Hat einer der Filme für Sie eine besondere Bedeutung?
Chaplin: Ich habe sie alle gesehen. Besonders sind viele. Zum Beispiel „The Kid“ (“Der Vagabund und das Kind”, 1921) oder „The Circus“ („Der Zirkus“, 1928). Es fällt mir schwer einen hervorzuheben. Für mich sind alle absolute Meisterwerke.

Wie war Charlie Chaplin als Vater?
Chaplin: Er war ein toller Vater und mein Held, der kleine „Tramp“. Ich durfte ihn allerdings erst kennen lernen, als er schon recht alt (55; Anm.d.Verf.) war. Zu Hause schauten wir seine Filme gemeinsam, dann hatte er auch nichts mehr mit seinen Figuren zu tun, sprach von ihnen immer in der dritten Person. Er war ein echtes Arbeitstier. Wir wussten, dass er der berühmteste, der am meisten verstandene und beliebteste Mensch der Welt war. Wir waren alle sehr stolz auf ihn.

Waren Sie immer nur stolz oder fürchteten Sie auch manchmal seine Popularität?
Chaplin: Nein, nie. Mein Vater war alles andere als der größte, stärkste und am besten aussehende Mann, aber er war schlicht und ergreifend der großartigste Mensch auf der Welt. Genau wie meine Mutter die hübscheste Frau der Welt war. Der Tramp ist mein Held! Ich wollte nie jemand anderen als ihn zum Vater.

Auch Eugene O’Neill, Ihr Großvater mütterlicherseits, war ein sehr bekannter Mann. Wie war sein Verhältnis zu Ihrem Vater?
Chaplin: Ich selbst habe ihn nie getroffen. Als meine Mutter Charlie heiratete, kam es zum Zerwürfnis. Mein Großvater wollte nichts mit diesem Typen, der mit seiner 17-jährigen Tochter zusammen war und diese mit 18 heiratete, zu tun haben. Er verbannte sie aus seinem Leben. Meine Mutter wuchs allerdings auch ohne ihn auf, da sich meine Großeltern schon früh hatten scheiden ließen.

Ihr Vater war sehr politisch. Wurde in Ihrem Elternhaus über Politik diskutiert?
Chaplin: Diskussionen gab es keine, es waren eher Schulstunden. Wir hätten uns ihm nie widersetzt. Ich habe erst sehr spät erfahren, dass er aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen wurde, weil er dort als Kommunist galt. Als ich das als Schulkind hörte, fand ich das ziemlich cool. Zuhause sprach ich ihn darauf an und er sagte sofort, dass er natürlich kein Kommunist sei, weil er gegen diesen Konformismus sei. Aber er war politisch. Ich erinnere mich gut, als ich ihn nach Spanien einlud, wo ich lebte und arbeitete, und er sagte er, er könne nicht kommen, weil dort Franco herrsche und sein Besuch bedeuten würde, dass er ihn respektieren würde. Er sagte, er hoffe, dass Franco vor ihm sterben würde und er mich dort besuchen könnte. Tat er tatsächlich, aber es war leider zu spät für ihn.

Sie lebten in vielen Ländern, gelten als Kosmopolitin. Wo fühlen Sie sich heimisch?
Chaplin: Nirgendwo wirklich, aber überall, wo die Sonne scheint. Ich liebe Miami und klar bin ich in Spanien verwurzelt. Letztlich bin ich aber überall Ausländerin. In den USA denken sie, ich sei Britin, wegen meines Akzentes. In England dagegen glauben sie, ich sei Amerikanerin – wegen meines Akzentes.

Wie sind Sie Schauspielerin geworden? Gab Ihnen Ihr Vater Tipps?
Chaplin: Ich begann mit der Schauspielerei, weil ich faul war. Eigentlich wollte ich Tänzerin werden. Das war meine erste große Liebe. Ich war eine so leidenschaftliche Tänzerin! Und ich war eine tolle Tänzerin – allerdings nur in meinem Kopf, der Körper spielte nicht mit. Als mein Ensemble bankrott ging, nicht wegen mir übrigens, fand ich keine neue Stelle. Für eine Zeit lang arbeitete ich im Zirkus, was romantisch klingt, aber nicht romantisch war. Irgendwann fragte ich mich, ob ich nicht einfach Schauspielerin werden sollte. Es klingt so einfach, wie es tatsächlich war. Einen Augenblick später fand ich einen Agenten, der beschloss, ich müsse meinen ersten Film gemeinsam mit dem angesagten Jean-Paul Belmondo drehen und nur wenig später dreht ich meinen ersten Film an der Seite von Belmondo („An einem heißen Sommermorgen“, 1964), Kurz darauf folgte „Doctor Schiwago“ (1965) und alles lief von selbst.

Zitiert

Er war ein echtes Arbeitstier.

Geraldine Chaplin

In einem Interview, das Sie 1971 der Münchener Abendzeitung gaben, sagen Sie, dass Sie ohne Ihren Namen „nie“ Karriere gemacht hätten. Wie sehen Sie das heute?
Chaplin: Heute würde ich die Aussage doppelt unterstreichen.

Im gleichen Interview beschreiben Sie Ihre Arbeit als Schauspielerin mit den Worten: „Ich möchte ein perfektes Instrument sein.“
Chaplin: Auch das stimmt genau so. Das ist auch der Grund, warum ich nie begonnen habe, Regie zu führen. Ich liebe es, angeleitet zu werden.

Welche Projekte planen Sie gerade?
Chaplin: Im letzten Jahr habe ich fünf Filme gedreht und dieses Jahr auch schon wieder einen. Morgen reise ich wegen eines Films nach Paris, in dem ich mit Salma Hayek spiele. Er heißt „Americano“, Regie führt Mathieu Demy, der Sohn von Agnes Varda und Jacques Demy. Dazu kommt demnächst der französische Film „Et Si On Vivait Tous Ensemble", den ich mit Jane Fonda, Pierre Richard und dem liebenswerten Daniel Brühl gedreht habe. Ein Film über alte Menschen. Und mein persönlicher Favorit „Memorias de mis putas tristes“, nach der Buchvorlage von Gabriel García Márquez. Eine tolle Geschichte über einen alten Mann, der sich zu seinem 90sten Geburtstag eine 14-jährige Jungfrau wünscht.

Sie haben im letzten Jahr mit „The Wolfman“ erstmals einen großen Hollywood-Film gedreht …
Chaplin: Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber ich glaube nicht, dass er sonderlich gut ist.

Wollten Sie einfach mal bei einem solchen Blockbuster mitspielen?
Chaplin: Mein Agent hat mir dazu geraten. Er meinte: Ich will dich einmal in einem richtig großen Studio-Film sehen. Ich stimmte zu. Es war eine sehr merkwürdige Erfahrung. Am Set gab es gleich sieben Produzenten, die immer alles im Auge hatten. Dann feuerten sie den ersten Regisseur, dann die Dame von der Maske … alles um uns herum war in Wolfman-Farben gestrichen und ich dachte mir: Mit dem Geld, was all die Farbe gekostet hat, könnten wir einen kompletten Film drehen. Aber Benicio del Toro war sehr liebenswürdig und Anthony Hopkins, den ich schon sehr lange kenne, war ein echter Schatz. Es hat Spaß gemacht.

Die Retrospektive in Berlin begann mit „The Great Dictator“. Hitler soll den Film gesehen haben…
Chaplin: Er hat ihn wohl gesehen. Wie gerne hätte ich dabei Mäuschen gespielt. 

War Ihr Vater nach Ende des Weltkrieges in Berlin?
Chaplin: Ich weiß nicht genau. Ich erinnere mich aber, wie ich einst ein Gespräch belauschte, in dem er einem Bekannten erzählte, dass er sich in Berlin verliebt habe. Ich hörte ihn einen Namen sagen, der nicht der Name meiner Mutter war. Es war schockierend. Wie konnte das sein? Der Name war Nofretete. Er verliebte sich in Nofretete in dem Moment, in dem er sie sah. Bei mir hat es damals allerdings nicht klick gemacht. Er ließ sich später eine Büste von ihr fertigen, die er immer mit sich herumschleppte.

Glauben Sie, dass Film oder Humor die Welt verändern können?
Chaplin: Ich denke nicht. Kein Film verändert die Welt, aber die Art, wie man auf die Welt schaut. Mit einem Sinn für Humor fällt manches leichter. Das Einzige, was Politik beeinflusst, ist die Wirtschaft. Politik ist so zynisch.

Viele Schauspieler sehen in Ihrem Vater ein Vorbild. Sehen Sie einen, der ihm das Wasser reichen könnte?
Chaplin: Johnny Depp gibt in „Fluch der Karibik“ sein Bestes. Vor einigen Jahren drehte ich mit seiner damaligen Freundin Wynona Ryder „Zeit der Unschuld“. Sie suchte ein Geburtstagsgeschenk für ihn und wusste, dass er Unsummen für einen Hut von Charlie Chaplin ausgegeben hatte. Sie erzählte mir, dass er sein Vorbild war. Ich gab ihr einen französischen Verdienstorden, den mein Vater einst verliehen bekommen hatte, als Geschenk für Johnny Depp. Generell fällt jeder Vergleich mit ihm schwer, da er bei seinen Filmen alles außer der Kamera-Arbeit selbst machte, auch die großartige Musik. Alles. Ich denke, das macht heute niemand so und wird auch nie mehr jemand machen, wie er es tat. Es wurden so tolle Sachen über ihn als Vorbild gesagt. Jean Renoir sagte einst: „Es gibt nur drei wirklich große Filmemacher: Charlot, zweitens Charlot und drittens Charlot.“ Charlot ist Charlie Chaplin. Berthold Brecht wurde nach Vorbildern gefragt und er antwortete: „Es gibt nur zwei große Regisseure und der andere ist Charlie Chaplin.“

Wie hat sich die Film-Industrie in all den Jahren verändert?
Chaplin: Ich war gerade Vorsitzende der Jury beim Filmfest in Moskau und wir hatten Filme aller Art im Wettbewerb, von Hollywood über Experimentalfilme bis hin zu Indie-Produktionen. Es waren eine Menge Filme dabei, die stark polarisierten. Alle Juroren waren älter, im Schnitt über 60. Über die drei Sieger waren wir uns merkwürdigerweise einig. Drei vollkommen unterschiedliche, aufregende und wunderbare Filme von Regisseuren, die unheimlich jung waren, 27 und 19. Wir haben alle genug von Hollywood mit seinen Predigten und der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Seit langer Zeit spüre ich wieder Hoffnung für das internationale Kino. Film ist für das 21. Jahrhundert wie die Oper für das 20. Jahrhundert. Und an jungen Talenten mangelt es nicht.

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