Herr Behles, wie begann Ihre Laufbahn im Musikbereich? Haben Sie ein Instrument gespielt?
Gerhard Behles: Ja, ich habe am Anfang mal Klavier gelernt. Aber das ist gescheitert, wohl auch mangels Talent (lacht). Ich bin eigentlich nur durch Elektronik und Computer zum Musikmachen gekommen.
Schon als Jugendlicher?
Behles: Ja, ich habe mich als Teenager sehr für elektronischen Klang interessiert und dann irgendwann mein Sparkonto leergeräumt und mir einen Synthesizer gekauft. Der kostete furchtbar viel Geld und meine Eltern haben protestiert, weil sie nicht verstehen konnten, was das ist und was das soll. Aber für mich war es nötig. Die Musik, die ich damals hörte, inspirierte mich und ich hatte beschlossen: Ich muss jetzt rauskriegen, wie das alles funktioniert.
Als Autodidakt?
Behles: Nein, ich habe mit 15 zuerst einen Kurs auf der Volkshochschule besucht, wo ich wichtige Dinge gelernt habe. Mit 18 konnte ich dann in Holland ein Jahr lang elektronische Musik studieren, am Institut für Sonologie, eine altehrwürdige Institution, die in den 60er Jahren gegründet wurde. Dort bin ich mit faszinierenden Leuten zusammengekommen, vor allem aber auch mit einer faszinierenden Hinterlassenschaft des kanadischen Komponisten Barry Truax. Der hatte dort früher ein Programm geschrieben, welches noch auf irgendeinem prähistorischen Computer installiert war, mit welchem man Granularsynthese machen konnte. Das war für mich damals etwas völlig Neues, das hat mich umgehauen, weil es anders war, als alles, was ich bisher kannte. Und nach dem Jahr in Holland stand für mich fest: Die elektronische Musik ist mein Ding, das will ich behandeln.
Sie sind dann nach Berlin gegangen…
Behles: Ja, 1990. Weil ich Informatik studieren und die Technik gründlich lernen wollte, aber natürlich auch, weil in Berlin zu der Zeit viel Interessantes passiert ist.
Neben dem Studium entstand mit Ihrem Kommilitonen Robert Henke das Musikprojekt Monolake. Haben Sie da bereits Musik-Software programmiert?
Behles: Robert und ich haben für spezielle Anforderungen mal ein Programm geschrieben. Da hatten wir viel Spaß dran, wir waren Informatiker und konnten das auch. Was dabei heraus kam, war aber sehr spezifisch, damit hätte niemand anderes etwas anfangen können. Allerdings entstehen durch solche Prototypen bereits Ideen.
Somit auch die Idee zu Ableton Live?
Behles: Die Idee entstand aus der Beobachtung heraus, dass das, was man an Programmen von der Stange kaufen konnte, nichts mit dem zu tun hatte, was wir musikalisch machen wollten. Das hat nicht zusammengepasst, Techno ist in der Art der Entstehung und Darbietung vollkommen inkompatibel mit der Vorstellung von Aufnahmestudio. Die Software, die es zu der Zeit gab, kam aber klar aus der Tradition eines Aufnahmestudios und versuchte das zu rationalisieren und in den Computer reinzukriegen. Man guckte auf ein virtuelles Tonstudio, doch das war die falsche Metapher, die war nicht adäquat für die Art von Arbeit, die wir gemacht haben.
Warum nicht?
Behles: Beim traditionellen Tonstudio, das Tonband-basiert ist, habe ich die Vorstellung „hier ist ein Stück Zeit, und das ist zu befüllen“, man kann in diesem Abschnitt rumnavigieren und an der richtigen Stelle etwas tun.
In Ableton Live dagegen hat man das erarbeitete Material in Form von Loops vor sich, die sich wiederholen.
Behles: Ja, das Material ist immer da und währenddessen arbeitet man daran. Diese Idee, mit Loops zu arbeiten, oder im weiteren Sinn mit einer Technik, die von selber Musik macht, die einfach dafür sorgt, dass immer etwas zu hören ist, die ist einfach grundsätzlich anders als ein Tonband, in dem ich spulen muss.
Ist das Loop-Schema bestimmend für das musikalische Ergebnis?
Behles: Sagen wir so: Es ist sehr einfach, mit Ableton Live loop-basiert Musik zu machen. Spannend wird es aber erst, wenn man die Loops hinter sich lässt. Das macht auch ein großer Teil der Nutzer, sie fangen mit den Loops an, bauen damit eine Basis, die sich selber vorantreibt, und während sie es hören denken sie drüber nach, was damit passieren sollte, was sich ändern sollte, welcher Klang hinzukommen sollte usw. Das ist dann eher ein Prozess von Skulptur.
Es ist sehr einfach, mit Ableton Live loop-basiert Musik zu machen. Spannend wird es aber erst, wenn man die Loops hinter sich lässt.
Fördert Ableton Kreativität oder übernimmt es auch Kreativität? Ein Beispiel: Man gibt eine einfache Tonleiter ein, und über ein „Chord-Plugin“ kann man für jeden Ton einen Akkord erzeugen lassen. So entstehen vom Programm vorgeschlagene Harmonien…
Behles: Das ist im Grunde eine ähnliche Diskussion wie jene als Ableton Live rauskam. Von dem Moment an war es plötzlich sehr einfach für jemand, der auf der Bühne Musik darbietet, also ein DJ beispielsweise, Musikstücke zu kombinieren. Denn jetzt gab es eine Technik, die ermöglichte, mit dem Computer das Taktraster von verschiedenen Musiken anzugleichen. Vorher wurden die Platten noch durch die entsprechende mechanische Bearbeitung des Plattentellers synchronisiert, eine Fertigkeit, die ein traditioneller DJ durch jahrelange Übung erlangt hat. So ein DJ hätte die neue Software für Ketzerei gehalten.
Die neue DJ-Generation empfindet es als Erleichterung. Aber wenn eine Erleichterung so weit geht, dass man als Produzent nur noch auf vom Computer vorgeschlagene Harmoniestrukturen zurückgreift, wirft das Fragen auf.
Behles: Die Realität ist, dass sich das Herkömmliche dadurch nicht erübrigt, sondern so eine Funktion ist etwas anderes. Sie ermöglicht Leuten, die Schwierigkeit, aus welcher ein anderer eine kreative Möglichkeit schöpft, weil er mit einem Problem konfrontiert ist, zu überspringen. Doch diese Leute finden dann ein nächstes, anderes kreatives Problem mit dem sie sich befassen.
Ich glaube im Übrigen nicht an diese protestantische Sicht, dass alles schwierig sein muss. Sicher, irgendetwas muss schwierig sein, sonst kommt nichts Interessantes dabei raus. Aber wenn dann bestimmte Sachen einfacher werden, verschiebt sich nur das Niveau, von wo Dinge schwierig sind und wo interessante Antworten auf interessante Probleme gefunden werden.
Durch die vielen Hilfestellungen, die Ableton bietet, hat man den Eindruck, dass man als Anwender relativ schnell zu einem Ergebnis kommt, das schon mal nach etwas klingt…
Behles: Ja, auf jeden Fall. Das ist unbedingt so, es ist auch eine Absicht: Wir möchten dabei helfen, dass ein Musiker an einen Punkt kommt, wo irgendetwas fließt. Wo er etwas aus dem Lautsprecher bekommt, was ihm gefällt. Und dann geht es darum, was er daraus entwickelt. Die Loops an sich können natürlich unendlich dröge und langweilig sein, wenn man nichts anderes macht, als sie aufeinander zu schichten. Aber wenn man über diese Trivialität hinauskommt, hat man die Möglichkeit, erstmal ein Plateau zu schaffen, wo etwas Interessantes draus entstehen kann.
Sie sprachen gerade vom „Musiker“. Ist es auch ein Ziel von Ableton, Leute zu Musikern zu machen?
Behles: Das ist ein so hehres Ziel, das können wir nicht beanspruchen. Wir haben schon einen Kunden vor Augen, dessen Identität wesentlich durch Musik bestimmt ist, Leute die entweder Musik als Erwerbsquelle oder zumindest als Passion haben. Jemand, der jetzt mal in das Thema reinriechen will, kommt vielleicht auch bei uns raus, aber ich glaube, das ist für uns nicht die entscheidende Klientel.
Der dänische Produzent Trentemøller sagte uns, er könne beim Hören eines Tracks oft erkennen, dass er mit Ableton produziert wurde. Woran könnte das liegen?
Behles: Ich glaube, so etwas passiert, wenn man nicht über ein bestimmtes Niveau herauskommt und nur mit dem arbeitet, was sich gerade anbietet, was sofort naheliegt. Dann landet man in einer ähnlichen Gasse, wie viele andere, die auch nur so weit gehen. Die Gefahr besteht.
Welche Rolle spielt bei der Entwicklung von Ableton Live, den Technologie-Aspekt zu verringern, sprich, dass der Musiker sich mehr auf das Musizieren konzentrieren kann, statt auf rein technische Vorgänge im Computer?
Behles: Die Leute wollen natürlich nicht aufgehalten werden, die Beschäftigung mit der Technik soll nicht wegführen von der Musik, soll nicht verwirrend oder undurchsichtig sein. Und es ist schon ein großer Wert, der uns hier beschäftigt, dass die Technik transparent wird, dass der Musiker nicht in die Rolle gedrängt wird, dass er irgendwas bedienen muss, als Diener der Technik. Für uns ist es eher das Bild vom Dialog. Ein typischer Ableton-Nutzer sucht die Interaktion, da gibt es die Frage an die Technik: Was kannst du mir bieten? Was für Ideen kommen raus, wenn ich mich mit dir beschäftige?
Da kann man auch die Parallele zu einem normalen Instrument ziehen, auch da wählt man ja für sich das Instrument, das zu einem passt, das einen vor Herausforderungen stellt.
Stichwort Instrument: Seit 2013 gibt es von Ableton die Hardware Push, mit der sich Ableton Live steuern lässt. Allerdings gibt es auch schon Videos, wo Musiker auf den 16 im Quadrat angeordneten Pads virtuose Jazz-Improvisationen spielen. Ist Push jetzt etwa auch eine Art Klavier?
Behles: Also, das Klavier ist ja ein Instrument, das über hundert Jahre gereift ist, das können wir nicht in Anspruch nehmen. Wobei die Inspiration für diese Art, wie die Töne auf dem Push angeordnet sind, eine lange Tradition hat. Die Idee, Tonhöhen nicht in einer, sondern in zwei Dimensionen anordnen, hat große Vorteile. Sie ist auch nicht neu, sondern es gibt viele Instrumente, die das schon realisieren wie zum Beispiel das Akkordeon.
Wie lautet die offizielle Bezeichnung für Push?
Behles: Technisch gesehen ist es ein Controller, denn man braucht einen Rechner dafür, damit es etwas Sinnvolles tut. Es macht nicht von selber Sound. Wir sind es in der Entwicklung aber immer so angegangen, dass wir Push als ein Instrument sehen, dass weitgehend unabhängig vom Rechner gedacht ist, dass man den Rechner zur Seite schieben und nur mit Push Musik machen kann. Das ist attraktiv, denn das In-den-Rechner-gucken führt ein Element von Ablenkung rein. Im Rechner sind immer unendliche Möglichkeiten und damit auch die Gefahr, dass man sich in Details verzettelt. In einer frühen Phase vom Entwickeln musikalischer Ideen ist es oft hinderlich, wenn man in dieses Level von Details vordringt. Interessant ist viel mehr, wenn man versucht, sich aufs Hören zu konzentrieren und dabei die Details nicht zu sehen kriegt. Deshalb war uns wichtig, dass Push auch funktioniert, ohne dass man auf den Monitor schauen muss.
Gibt es denn etwa auch das Ziel, dass der Bildschirm eines Tages ganz wegfällt?
Behles: Es geht darum, dass er delegiert wird an die richtige Stelle im Prozess. Es ist ja fantastisch, dass wir ihn haben, ohne den Bildschirm wäre vieles sehr schwierig. Er ist aber kein geeignetes Interface, um eine musikalische Idee aus dem nichts heraus, durch die Interaktion mit den Fingern und mit dem, was man sonst als Mensch mitbringt, entstehen zu lassen.
Ein wirtschaftlicher Vorteil der Hardware Push ist auch, dass es keine Raubkopien wie bei Software gibt. War das Thema Piraterie jemals bedrohlich für Ableton?
Behles: Es ist natürlich ein immerwährendes Problem für die Software-Industrie. Am Ende muss ich aber sagen, können wir uns nicht beschweren. Ich denke, es gibt bei Musikern auch noch ein anderes Verhalten, weil man weiß, dass die Firmen hinter so einem Programm keine großen Konzerne a la Microsoft sind, sondern letztlich kleine Unternehmen, die es irgendwie auch auf die Reihe kriegen müssen. Im consumer- und business-orientierten Bereich ist die Piraterie sicher ein viel größeres Problem.
In der elektronischen Musik gibt es zahlreiche Live-Acts, die nur mit Laptop auf der Bühne stehen. Können Sie dem immer etwas abgewinnen?
Behles: Sicher ist es schwierig allein hinter dem Rechner eine tolle Show zu machen. Andererseits habe ich schon großartige Performances von Leuten gesehen, die nichts Anderes als einen Rechner hatten, und wo ich das Gefühl hatte: Hier fehlt gar nichts. Das sah charmant und total musikalisch aus – so etwas gibt es durchaus.
Die Demokratisierung der Produktionsmittel ist in der elektronischen Musik weit vorangeschritten, Programme wie Ableton Live kosten nur wenige hundert Euro. DJ Koze sagte uns dazu: „Es ist natürlich ein Segen für viele Leute, die Musik machen wollen, aber für die Musik an sich ist es vielleicht gar kein Segen.“ Koze sagt, dass die Quantität an guten Produktionen nicht angewachsen sei, er aber das Gefühl habe, „dass die Kanäle verstopfen“. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Behles: Ich würde mich da bekennen: Ich finde diese Demokratisierung uneingeschränkt super. Ich glaube immer daran, dass neue Möglichkeiten entstehen, wenn mehr Leute ein Privileg genießen können, das vorher nur wenigen vorbehalten war. Es ist ja nicht so, dass diejenigen Leute, die Zugang zu Ressourcen wie Geld, Beziehungen etc. haben, automatisch die interessanteren Ergebnisse erzielen. Es kommt immer wieder vor, dass ich Musik höre, von jemandem, den kein Mensch kennt, die aber trotzdem genial ist. Und ich finde es unglaublich toll, dass so etwas heute möglich ist. Denn diese Menschen wären der Welt ansonsten entgangen, als Künstler.
Warum ist Ableton beim Demokratisierungsprozess auch in wirtschaftlicher Hinsicht so weit vorn mit dabei?
Behles: Wir hatten das Glück, zur richtigen Zeit mit der richtigen Idee an die Weltöffentlichkeit zu gelangen. Es war auch das Glück, dass Leute an uns geglaubt und uns Geld gegeben haben. Und in der zweiten Stufe hat wahrscheinlich auch Geschick eine Rolle gespielt, allerdings nicht in der Form, dass sich da eine Wirkung konkret auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen ließe.
Was schätzen Sie, wie viele DJs, Produzenten und Live-Acts in Berlin Ableton nutzen?
Behles: Oh, das ist schwer zu sagen, das weiß ich nicht.
Gehen Sie im Club denn oft hinter das DJ-Pult um einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen?
Behles: Immer. Ich kann nicht anders, ich probiere immer, einen Blick hinter der Bühne zu kriegen. Das ist eine blöde Angewohnheit, geht auch nicht in jedem Club, aber man versucht’s halt.