Gerhard Trabert

Vor dem Virus sind nicht alle gleich.

Seit über 25 Jahren versorgt der Arzt Gerhard Trabert Menschen ohne Obdach und ohne Krankenkasse. Hier spricht er über seine Arbeit in der Corona-Pandemie, ein spätes Masken-Angebot, Politiker ohne Lebenserfahrung, einen AfD-Slogan und darüber, welchen Luxus er sich gönnt.

Gerhard Trabert

© Andreas Reeg

Gerhard Trabert engagiert sich als Arzt für sozial benachteiligte Menschen. In Mainz, wo er 1997 den Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ gründete, behandelt er Obdachlose im Arztmobil, ebenso besucht er Flüchtlingslager etwa in Bosnien oder Griechenland, um vor Ort Hilfe zu leisten. An der Hochschule RheinMain ist Trabert Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie.

Herr Trabert, genau ein Jahr nach dem ersten Corona-Fall hat man in Deutschland hilfsbedürftigen Menschen kostenlose Masken zugesichert. Ist das eine gute Nachricht?

Gerhard Trabert: Es ist eine längst überfällige Nachricht. Dass es dieses Angebot erst jetzt gibt, macht in meinen Augen deutlich, dass die Lebenssituation von sozial benachteiligten und einkommensschwachen Menschen in der Politik immer noch nicht angekommen ist. Wir haben mit unserem Verein „Armut und Gesundheit“ bereits im Mai 2020 kostenlose Masken gefordert, ich habe die Landesregierung in Rheinland-Pfalz auch darauf hingewiesen, dass im Hartz4-Satz kein Budget für Masken enthalten ist. Wie bitte soll ein Hartz4-Empfänger diese finanzieren? – Als Antwort bekam ich zu hören, man könne ja auch einen Schal benutzen. Aber ein Schal hat eben nicht den Sicherheitsfaktor wie eine medizinische oder FFP2-Maske. Sprich, es ist eine weitere Benachteiligung dieser Menschen.

Seit Mai 2020 sind auch schon acht Monate vergangen. Wie erklären Sie sich, dass es so lange gedauert hat?

Trabert: Ein Punkt ist, immer wieder, dass Menschen am Rande unserer Gesellschaft keine Lobby haben. Ein anderer, dass die Lebensrealität der Politiker weit entfernt ist von dieser Bevölkerungsgruppe. Diese Gruppe ist aber nicht gerade klein: Fast 16 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind von Einkommensarmut betroffen, sie gelten nach der EU-Definition als einkommensarm.
Das hätte man schon längst ernst nehmen und handeln müssen. Wir haben schon vor längerer Zeit gefordert, dass der HartzIV-Satz um 100 Euro erhöht werden muss. Unser Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil will an der Stelle jetzt initiativ werden – das ist absolut überfällig! Es war absehbar, dass diese Menschen, die ohnehin von unserer Versorgungsstruktur benachteiligt werden, es in der Pandemie-Zeit noch schwerer haben werden.

Zitiert

Es gibt für mich kein Argument, dass die Krankenkasse die Masken nicht bezahlt.

Gerhard Trabert

Die meisten Menschen zahlen an ihre Krankenkasse einen dreistelligen Betrag im Monat. Welches Argument haben die Krankenkassen, Masken für ihre Beitragszahler nicht zu finanzieren?

Trabert: Für mich ist das nicht nachvollziehbar. Es gibt für mich kein Argument, dass die Krankenkasse die Masken nicht bezahlt.
Grundsätzlich besteht das Problem, dass unser Gesundheitssystem zu sehr kurativ ausgerichtet ist, sprich man handelt erst, wenn jemand erkrankt ist. Wir haben zwar seit 2016 das Präventionsgesetz, da hapert es aber immer noch an der Umsetzung. Es muss generell ein Umdenken stattfinden: Wir müssen viel mehr in Prävention und Gesundheitsförderung investieren, um Krankheiten zu verhindern. Das ist leider bei vielen großen Playern im Gesundheitswesen noch nicht angekommen, auch nicht bei den Krankenkassen. Ein Beispiel: Sehhilfen werden ab dem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr von der Krankenkasse finanziert. Was soll das? Wenn jemand, der schlecht sieht, stolpert und sich das Bein bricht, übernehmen das die Krankenkassen. Aber ihm präventiv eine Brille zu finanzieren geht nicht?

Einen Berechtigungsschein für Masken bekommen Hilfsbedürftige von ihrer Krankenkasse. Doch die Menschen, welche Sie auf der Straße behandeln, haben ja gar keine Krankenkasse…

Trabert: Ein Großteil der Betroffenen hat keine, ja. In diesem Fall funktioniert die Verteilung nur durch Vernetzung der Politik mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für diesen Personenkreis engagieren. Da arbeiten wir auch gerade dran und stellen eine Liste von Kontakten zusammen.
Hier in Rheinland-Pfalz geht die Verteilung der Masken vom Landessozialamt aus. Dessen Leiter rief mich kürzlich an und sagte: „Es gibt doch sehr viele Menschen, die nicht versichert sind, die erreichen wir doch gar nicht.“ – Da konnte ich ihm nur zustimmen.

Sprich, die Politik erfährt in so einem Moment, dass sie den Zugang zu dieser Bevölkerungsgruppe vollkommen verloren hat.

Trabert: Genau. Und an der Stelle müsste sich ein Politiker natürlich fragen: Warum sind diese Menschen nicht krankenversichert? Schließlich haben wir in Deutschland eine Krankenversicherungspflicht. Wenn man dieser Frage nachgeht, trifft man auf elementare, strukturelle Defizite. Ein EU-Bürger zum Beispiel, der ganz legal bei uns ist, aber kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis hat, hat keinen Krankenversichertenschutz. Oder Privatversicherte, die verschuldet sind und ihre Beiträge nicht mehr zahlen können. Oder Saison-Arbeiter, die unter illegalen Bedingungen arbeiten, ohne es zu wissen, Haftentlassene, die nach ihrer Entlassung sechs bis acht Wochen warten müssen, bis sie wieder eine Chipkarte haben. Es gibt sehr viele Strukturen, die verantwortlich dafür sind, dass Menschen ohne Krankenversicherung dastehen. Das weiß man schon seit Jahren, tut aber nichts dagegen.

…und Corona verdeutlicht so ein Problem einmal mehr.

Trabert: Ja, Armut wird jetzt noch deutlicher sichtbar und diese Menschen werden in der Pandemie-Zeit noch stärker benachteiligt. Zuerst hieß es ja, vor dem Virus wären wir alle gleich. Aber das stimmt so nicht. Eine Studie von Nico Dragano an der Uniklinik Düsseldorf hat schon im letzten Sommer nachgewiesen, dass sozial benachteiligte Menschen bei einer Covid-Erkrankung schwerere Verläufe haben.

Nun gibt es vereinzelt Hotels, die in der Corona-Zeit Obdachlose beherbergt haben. Wie stehen Sie zu dieser Initiative?

Trabert: Ich hatte das bereits im März gefordert und ich glaube, Mainz war die erste Stadt, wo es umgesetzt wurde. Wir hatten ein Hotel, in dem von März bis Ende Mai 30 wohnungslose Menschen unterkommen konnten.
Ich fand das sehr gut, weil dieser Personenkreis ja eine Hauptrisikogruppe ist. Obdachlose Menschen sind häufig chronisch krank, die Lebensbedingungen auf der Straße stellen ebenfalls ein Gesundheitsrisiko dar. Die Einrichtungen der Wohnungslosen-Hilfe sind immer voll belegt, dort herrscht höhere Ansteckungsgefahr als in einem Hotel, wo jeder sein eigenes Zimmer hat. Es ist auch eine Win-Win-Situation, weil das Hotel durch staatliche Förderung wieder Personal bezahlen kann.
Im Mai, als die Hotels regulär öffnen konnten, wurde diese Initiative dann beendet. Und obwohl man damit rechnen konnte, dass im Herbst/Winter die Corona-Situation wieder schwieriger wird, stand jenes Hotel beim erneuten Lockdown dann nicht mehr zur Verfügung. Die Gründe dafür kenne ich nicht. Die Stadt hat jetzt ein Gebäude, das früher für geflüchtete Menschen vorgesehen war, zur Verfügung gestellt.

In Ihrem Buch „Der Straßen-Doc“ von 2019 haben Sie bezüglich des Umgangs mit hilfsbedürftigen Menschen appelliert „Haben wir den Mut zur Begegnung, zur Berührung!“ Wie groß war der Einschnitt für Sie durch die Pandemie?

Trabert: Es ist natürlich ein Einschnitt. Denn für mich spielt Berührung eine große Rolle. Als Arzt brauchst du Berührung, um Informationen über den körperlichen Zustand des Patienten zu bekommen. Aber auch das emotionale Berührt-werden ist sehr wichtig.
Ich bin weiterhin auf der Straße unterwegs und treffe Obdachlose, mit entsprechenden Schutzmaßnahmen, davor habe ich keine Angst. Aber für unsere Gesellschaft wird es noch eine große Aufgabe werden, wieder eine Normalität zu erreichen. Wenn jetzt geimpft wird und auch bessere Therapieformen für Covid-19 Infektionen gefunden werden, müssen wir wieder den Mut zu Berührung entwickeln. Nicht naiv oder fahrlässig, aber ohne Angst. Zwischenmenschlichkeit und Berührung ist so wichtig, das macht uns Menschen aus.

Würden Sie eine Schätzung wagen, wann wir uns wieder normal begegnen und berühren können?

Trabert: Ich vermute, dass das nächste Weihnachtsfest wieder normal im Familienkreis stattfinden kann.

Befürchten Sie, dass durch die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise die Obdachlosenzahlen steigen werden?

Trabert: Ja, ich denke schon, dass dadurch die Armut zunehmen wird. Die staatlichen Unterstützungen sind wichtig, aber sie werden den Verlust vieler Arbeitsplätze nicht verhindern können, insbesondere in Bereichen von kleinbetrieblichen Dienstleistern oder auch im Veranstaltungs- und Kultursektor. Wir wissen ja jetzt schon, dass viele Selbstständige, kleine Betriebe insolvent oder kurz vor der Insolvenz sind. Vereinzelt habe ich auch schon Menschen auf der Straße angetroffen, die durch Corona ihren Job verloren haben.
Da wird Armut zunehmen und sehr wahrscheinlich auch der Verlust des Wohnraums. Deshalb ist es so wichtig in diesen Zeiten, dass bei Mietrückständen nicht gekündigt werden darf, dafür muss ein Konzept her.

Von dem früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann stammt das bekannte Zitat: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt.“ Wie stark ist in Hinblick darauf unsere Gesellschaft aktuell? Und ist sie in den vergangenen Jahren eher stärker oder schwächer geworden?

Trabert: Ich nehme da zwei unterschiedliche Entwicklungen wahr: Was die Politik angeht, habe ich den Eindruck, dass sie sich immer weiter entfernt bezüglich ihrer Verantwortung für sozial benachteiligte Menschen.

Woran machen Sie das fest?

Trabert: An Gesetzesänderungen. Sowohl bei Gesundheitsgesetzen als auch bei der Sozialgesetzgebung. Alle Wohlfahrtsverbände, die Nationale Armutskonferenz etc. – alle sagen, dass der Hartz IV-Satz zu gering ist, er reicht nicht aus für eine Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Sprich, dort sehe ich, dass die Distanz zwischen etablierter Politik und den Ärmsten der Gesellschaft immer größer wird.
Bei der Bevölkerung dagegen sehe ich eine andere Tendenz: Viele Menschen verstehen und spüren, dass der soziale Abstieg sehr schnell eintreten kann – und werden dadurch solidarischer. Vielleicht auch, weil sie es selbst schon mal erlebt haben, was es bedeutet, den Job zu verlieren und von sozialen Transferleistungen leben zu müssen. Diese Sensibilität spüre ich auch bei den Menschen, die unsere Arbeit unterstützen, nicht nur finanziell sondern auch durch Manpower und Frauenpower. Da habe ich das Gefühl, dass die Gesellschaft enger zusammengerückt ist.

Gibt es aber auch eine Entwicklung, dass wir uns an ein gewisses Arm/Reich-Gefälle gewöhnen? Eine Konzept wie das der „Little Homes“ zeigt ja einerseits Fürsorge, andererseits, dass man Obdachlosigkeit als etwas ‚Normales‘ betrachtet…

Trabert: Auch bei den Tafeln, den Notschlafstellen oder bei unserem Artzmobil kommt der Gedanke auf, dass wir mit solchen Angeboten Armut ein Stück weit manifestieren bzw. dazu beitragen, dass es am Ende heißt: ‚Es geht doch schon irgendwie‘. Diese Gefahr besteht – und zum Teil ist es auch bereits Realität, dass Armut akzeptiert wird.
Ähnlich ist es bei der Position Deutschlands und Europas gegenüber geflüchteten Menschen. Ich war auf Lesbos, ich war vor wenigen Wochen in Bosnien – das Leid und Sterben der Flüchtlinge dort und auf dem Mittelmeer kann man nicht akzeptieren. Und doch wird es von vielen hingenommen, als etwas „Natürliches“ – was es selbstverständlich nicht ist.

Warum wird es hingenommen?

Trabert: Ich denke das hat etwas mit unserer kapitalistischen Demokratie zu tun, wo Armut vielleicht auch als ein Abschreckungsszenario gebraucht wird. Nach dem Motto: ‚Wenn du nicht funktionierst, droht dir diese Verarmung, der ökonomische Abstieg‘.
Man darf Armut aber nicht akzeptieren. Wir sind ein absolut reiches Land, wir haben ja genügend Ressourcen, nur müssten wir das Geld anders verteilen. Das tun wir aber nicht. Stattdessen sehen wir, dass in Pandemie-Zeiten sich die Entwicklung noch weiter verschärft, dass die Reichen reicher und die Armen noch ärmer werden – von der Politik akzeptiert.

Sie haben kürzlich auf Facebook den AfD-Slogan „Wer schützt uns vor den ‚Schutzsuchenden’“ kommentiert. Warum glauben Sie, schreibt die AfD so etwas auf ein Wahlplakat?

Trabert: Das ist Rassismus, Rechtspopulismus. Es ist der Versuch, in einer Krisensituation mit irrationalen Behauptungen Ängste zu schüren, um dann zu suggerieren: ‚Wir tun etwas dagegen‘. Das ist fatal.
Aber noch schlimmer finde ich, dass nicht nur diese rechte Partei so einen Slogan hat, sondern das unsere Bundesregierung, dass Horst Seehofer sich auch schon ein Stück weit nach rechts bewegt, um etwas gegen diese irrationalen Ängste zu tun. Weil er glaubt, dadurch zu verhindern, dass mehr Menschen eine Partei wie die AfD wählen. In meinen Augen ist das der völlig falsche Weg. Gerade heute kommt es darauf an, siehe Heinemann, wie wir mit den „Schwächsten“ umgehen. Es ist wichtig, Haltung zu zeigen – und nicht billigen Populismus zu produzieren.

Nun wird die AfD auch von finanziell schwachen Menschen gewählt. Aus einer unbegründeten Angst heraus?

Trabert: Ja. Und auch, weil sich immer wieder Falschmeldungen verbreiten. Zum Beispiel, dass ein Asylbewerber mehr Geld bekommt als ein HartzIV-Empfänger. Das stimmt einfach nicht! Sondern er bekommt wesentlich weniger, zum einen Teil ein Taschengeld zum anderen Sachleistungen. Sein Gesundheitsschutz ist außerdem stark eingeschränkt und deckt nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände ab. Trotzdem werden solche Falschinformationen immer wieder in die Welt gesetzt.
Mir begegnet das auch bei Gesprächen im Arztmobil, wenn Wohnungslose zu mir sagen: „die da oben tun alles für die Ausländer, aber nicht für mich“. Und dann reden wir darüber, ich erzähle ihnen zum Beispiel, welche Syrer ich kennen gelernt habe, die ihre Familie und ihr Haus verloren haben und jetzt in Deutschland sind. Die bekommen nicht eher eine Wohnung, die kriegen auch nicht mehr Geld. Inzwischen bekomme ich von vielen Wohnungslosen auch positives Feedback, sie schätzen, dass ich mich ebenso für Geflüchtete einsetze. Durch die Nähe und das Diskutieren gewinnen sie einen anderen Eindruck.

Die AfD zeigte sich des öfteren empört über eine angebliche Bevorzugung von Asylbewerbern gegenüber Obdachlosen, u.a. mit einem Antrag im Bundestag 2019. Sie sagen, so eine Ungleichbehandlung gibt es nicht…

Trabert: Nein, da ist absolut nichts dran. Die Politik versäumt es, gegen Armut generell anzukämpfen. Es gibt kein Armutsbekämpfungskonzept, das zeigt uns jetzt auch wieder die Pandemie ganz besonders.
Die AfD hingegen spielt Armut gegen Armut aus, so etwas ist katastrophal. Natürlich gibt es politische Mängel, aber die treffen den deutschen Wohnungslosen genauso wie den geflüchteten Syrer, da sehe ich überhaupt keine Unterschiede.

Der Bundestagsvizepräsident und frühere Cum-Ex-Anwalt Wolfgang Kubicki sagte mir in einem Interview: „Das Sozialsystem, das wir aufgebaut haben, war noch nie so umfangreich wie gegenwärtig. Wir müssen uns die Frage stellen, warum so viele Menschen von staatlichen Mitteln abhängig sind, und warum bei manchen die Bereitschaft fehlt, sich einzubringen. Es gibt leider einige Menschen, die sich daran gewöhnt haben, nicht zu arbeiten und sich alimentieren zu lassen.“ Was entgegnen Sie ihm? 

Trabert: Dass er überhaupt keine Ahnung hat, weil er gar keinen Bezug zu diesen Menschen hat. Er reproduziert Vorurteile. Natürlich gibt es auch Menschen, die – ohne das jetzt schönreden zu wollen – aufgrund ihrer Erfahrung, ausgegrenzt und nicht mehr gewertschätzt zu werden, irgendwann aufgeben. Diese Fälle gibt es und sie sind mit sehr viel Trauer, Resignation und Depression verbunden. Die Suizidquote ist bei arbeitslosen Menschen nicht ohne Grund 20 mal höher als bei Erwerbstätigen. Nein, es kann mir keiner sagen, dass die Menschen sich in so einer Situation glücklich und wohl fühlen. Die absolute Mehrheit würde und möchte teilnehmen am gesellschaftlichen Leben. Das Problem ist, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt, insbesondere für Menschen, die nicht so qualifiziert sind. Womit wir beim Thema Bildung wären: Die OECD stellt seit Jahrzehnten fest, dass in keinem anderen europäischen Land die Bildungskarriere so abhängig vom Sozialstatus der Eltern ist, wie in Deutschland. Auch das wird in der Corona-Zeit besonders deutlich, Kinder ohne Laptop oder Internetzugang haben beim Homeschooling das Nachsehen. Sozialgerichte in Deutschland haben übrigens schon in Urteilen festgestellt, dass Familien ein Recht auf Laptop, Drucker usw. haben – trotzdem gibt es immer noch Jobcenter, die entsprechende Anträge ablehnen.
Da läuft im System sehr viel falsch. Wir brauchen eine Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Es kann doch nicht sein, dass in den weiterführenden Schulen etwa 60 Prozent der Kinder Nachhilfeunterricht bekommen. Das kann kein Empfänger von sozialen Transferleistungen bezahlen.
Herr Kubicki denkt zu kurz, er denkt falsch und er ist nicht wirklich informiert über die Wege in die Armut und die fehlenden Wege aus der Armut heraus.

Norbert Blüm zeltete einst selbst in einem Flüchtlingscamp. Sehen Sie heute Politiker ähnlichen Formats?

Trabert: Da fällt mir im Moment keiner ein. Bei Blüm waren die Besuche in Flüchtlingslagern ja nicht bloß Foto-Termine, sondern er war darin sehr authentisch. Er war jemand, der aus der Arbeiterschaft kam. Heute dagegen sehe ich fast nur noch Profi-Politiker, die nach dem Studium Karriere machen wollen und kaum Lebenserfahrung haben. Ich generalisiere hier natürlich etwas, es gibt auch Ausnahmen.
Ich würde mir wünschen, dass die Politik sich mit Betroffenen unterhält und auseinandersetzt. Wenn Angela Merkel nicht das Erlebnis gehabt hätte, mit dem jungen geflüchteten Mädchen Reem Sahwil – ich weiß nicht, ob sie ohne diese Erfahrung die in meinen Augen vollkommen richtige Entscheidung getroffen hätte, geflüchtete Menschen, die unter katastrophalen Bedingungen leben mussten, nach Deutschland zu holen.

Sind denn schon mal Politiker bei Ihnen im Arztmobil mitgefahren?

Trabert: Ja, Kurt Beck ist einmal mitgefahren, als er noch Ministerpräsident war, auch der frühere Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz Alexander Schweitzer und seine Nachfolgerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler.
Solche Begegnungen machen etwas mit einem Menschen. Ich mache es ja niemandem zum Vorwurf, dass er oder sie die Lebenswelt eines Obdachlosen nicht kennt. Aber ich werfe Politikern vor, dass sie sich nicht bemühen, mehr über dieses Leben zu erfahren. Wenn es hier mehr Konfrontation und Sensibilisierung gäbe, bin ich überzeugt, dass sich die Sozialpolitik verändern würde. Ich glaube auch, dass eine Partei, die sich in dieser Frage authentisch verhält, beim Wähler durchaus Zuspruch hätte.

Es gibt in Deutschland keinen verpflichtenden Sozialdienst mehr, wie früher den Zivildienst. Bräuchte es so etwas heute wieder?

Trabert: Mit Pflicht oder Zwang tue ich mich immer schwer. Vielleicht ist es besser, wenn schon in der Schulausbildung das Bewusstsein für soziale Aspekte mehr gefördert wird. Warum nicht ein Schulfach mit dem Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit? Es könnten auch mehr Sozialpraktika integriert werden. Ich fände es übrigens auch gut, wenn man später im Berufsleben eine – vielleicht staatlich geförderte – Möglichkeit hätte, für eine bestimmte Zeit einen Sozialdienst zu leisten, um danach wieder in den ursprünglichen Beruf zurückzukehren. Denn ich höre sehr oft von Erwachsenen „ich würde mich gerne engagieren, aber ich kann nicht.“

Welche Länder sehen Sie heute als Vorbild, was die Bekämpfung von Obdachlosigkeit anbelangt?

Trabert: In Finnland zum Beispiel gibt es das „Housing First“-Konzept, welches ich befürworte. Allerdings reicht es nicht, eine Wohnung zu haben, sondern genauso wichtig sind soziale Beziehungen. Es gibt Fälle von Obdachlosen, die eine Wohnung bekamen, dort aber verstorben sind, weil sie keine sozialen Kontakte mehr hatten.
Ich sehe im Moment kein Land, das ich zu 100 Prozent als Vorbild bezeichnen würde. Und ich muss auch festhalten, trotz all meiner Kritik: Deutschland ist in Europa eines der wenigen Länder, wo überhaupt noch so kontrovers diskutiert wird, etwa über den Umgang mit Geflüchteten. Es gibt in Deutschland viele zivilgesellschaftliche, solidarische Aktionen. Dagegen in den Niederlanden, Ungarn, Österreich, Polen, Slowakei, Schweden… selbst in Frankreich ist das kein oder nur noch ein Randthema. Insofern denke ich schon, dass in Deutschland noch viele Menschen ein Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit haben. Das gilt es zu fördern und zu stärken.

In Ihrem Buch legen Sie dar, dass die Stadt New York pro Jahr etwa 30.000 Dollar für einen Obdachlosen ausgibt. Hat man dort die Wiedereingliederung von Obdachlosen in die Gesellschaft aufgegeben?

Trabert: Ich wollte mit diesem Beispiel auf das Problem hinweisen, dass Armut oft nur noch verwaltet wird und man nichts mehr für die Bekämpfung unternimmt. Natürlich muss man diejenigen, die in so einer Situation sind, gerade auch Menschen in Altersarmut, finanziell so unterstützen, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Aber man muss eben auch an den anderen Punkten ansetzen, bei Bildung, bei patriarchalischen Machtstrukturen usw. Man muss Strukturen schaffen, die es den Menschen ermöglichen an der Gesellschaft teilzunehmen, ihnen Verwirklichungschancen geben. Politiker müssten sich dafür natürlich mit Akteuren aus der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, aus der Praxis, an einen Tisch setzen, das tun aber die wenigsten.

Die Grünen haben unlängst das bedingungslose Grundeinkommen (als „Leitidee“) in ihr Wahlprogramm aufgenommen. In Ihrem Buch von 2019 findet sich dieses Wort noch nicht…

Trabert: …weil ich da noch etwas zwiegespalten bin. Ich kenne etwa die Position der Gewerkschaften, die sagen: ‚mit Grundeinkommen können wir unsere gewerkschaftlichen Forderungen nur noch schwer durchsetzen‘. Auf der anderen Seite steht natürlich das Argument, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die Menschen im Kopf freier macht, sich um Bildung und Arbeit zu bemühen, anders als wenn man ständig am Existenzminimum lebt und aus dieser Armut nicht herauskommt.
Im Prinzip bin ich schon für ein Grundeinkommen. Ich glaube auch, dass es die Menschen befähigen würde, wieder initiativer zu werden. Richtig finde ich auch, dass man es „Einkommen“ nennt, denn mit Begriffen wie „Sozialgeld“ oder „Arbeitslosengeld“ wird uns suggeriert, es handele sich um Almosen – was aber de facto nicht zutrifft, denn die Menschen haben in diesem Land ein Recht darauf, diese Unterstützung zu erhalten.

Wir haben in diesem Jahr Bundestagswahl. Welche Partei kommt Ihrer Vorstellung von Sozialpolitik im Moment am nächsten?

Trabert: Es ist eine Mischung. Die Grünen haben inzwischen immer mehr das Thema soziale Gerechtigkeit auf ihrer Agenda und vieles von dem, was sie fordern, finde ich richtig und gut. Die Linken haben sehr viele klare Vorstellungen, was Mindestlohn und HartzIV angeht, wo ich mit ihnen volkommen d’accord bin. Und in der SPD ist zumindest der linke Flügel dabei, sich wieder auf diese Wurzeln zu besinnen.
Das Problematische ist, dass die Parteien sich dann häufig in Koalitionen von wichtigen Standpunkten und Inhalten entfernen, häufig im Sozialbereich. Da würde ich mir mehr Standhaftigkeit wünschen.

Wäre es für Sie eigentlich eine Option, in die Politik zu gehen?

Trabert: Nein. Auch, weil es mir schwer fallen würde, bei einem Thema wie Sozialpolitik Kompromisse einzugehen.

Aber Sie sind gut vernetzt, vermutlich auch mit Politikern, oder?

Trabert: Ja, da gibt es einen gewissen Austausch. Mir ist es ja ein Anliegen, darauf hinzuwirken, dass meine Arbeit irgendwann nicht mehr gebraucht wird. Als ich vor 25 Jahren anfing, wohnungslose Menschen zu versorgen, habe ich nicht gedacht, dass ich das ein Vierteljahrhundert mache, sondern gehofft, dass sich die Strukturen verändern.
Die Grünen, die Linke und Teile der SPD laden mich immer mal wieder ein und ich versuche dann natürlich, Lobbyarbeit für sozial Benachteiligte zu betreiben. Dass ich in keiner Partei bin, hilft mir dabei, weil sich alle mit mir ein Stück weit identifizieren können. Da steht dann nicht dieser narzisstische Parteienegoismus im Weg, der in der Politik oft Gutes verhindert.

Können Sie das einmal konkretisieren?

Trabert: Wenn ein gutes Konzept von einer anderen Partei vorgetragen wird, stimmt man nicht zu, weil es nicht von der eigenen Fraktion kommt. Ein Beispiel: Die Linken haben in Hessen sogenannte Clearing-Stellen gefordert, wie wir sie in Rheinland-Pfalz bereits haben, zur Beratung von Menschen, die keine Krankenversicherung haben. Doch weil es die Linken vorgetragen haben, machen es die hessischen Grünen nicht mit, auch die SPD ist zurückhaltend. So etwas kann nicht sein, da müssen die Parteien auch mal über ihren Schatten springen, anstatt irgendwelche Scheindebatten zu führen.

Sie beschreiben im Buch den Fall eines früheren Obdachlosen, den Sie lange begleitet haben. Er wurde einmal von Johannes B. Kerner in dessen TV-Sendung eingeladen, es gab mehrere Vorgespräche – und dann ohne Begründung wieder ausgeladen. Im Buch schrieben Sie einen Brief an Kerner, hat er auf diesen reagiert?

Trabert: Nein. Er hat das Buch vermutlich auch nicht gelesen. Für diesen Mann war das damals ein großer Moment, als er die Einladung bekam – und die Ausladung dann eine große Demütigung. Ich denke, das war der Redaktion nicht bewusst. Aber auch Journalisten und Medien haben eben eine soziale Verantwortung.

Wann waren Sie das letzte Mal krank?

Trabert: (überlegt) Das ist schon länger her. Hin und wieder habe ich mit der Bandscheibe Probleme. Ernsthaft krank war ich das letzte Mal 2017, da hatte ich viel im Flugzeug gesessen, es war sehr kalt und ich bekam aus heiterem Himmel eine Lungenembolie.

Denken Sie, dass Sie durch die Arbeit auf der Straße, wo Sie vielen Bakterien und Keimen ausgesetzt sind, abgehärteter sind?

Trabert: Das kann gut sein. Ich denke schon, dass auch durch die verschiedenen Auslandseinsätze mein Immunsystem etwas belastbarer ist.

Wie häufig mussten Sie sich auf Corona testen lassen?

Trabert: Insgesamt fünf Mal, u.a. um in Bosnien und Griechenland einreisen zu dürfen. Aber alle Tests waren glücklicherweise negativ.

Zum Schluss: Was ist Ihr persönlicher Luxus?

Trabert: Für mich ist Luxus, einen Cappuccino zu trinken, am besten in einem Café, was im Moment etwas schwieriger ist. Vielleicht auch mal einen Latte Macchiato, aber Cappuccino ist schon mein Lieblingsgetränk. Sich mal bei einem Stück Kuchen eine Auszeit zu nehmen und sich bedienen zu lassen, das ist Luxus für mich.

Andere Menschen hätten jetzt vermutlich eine Rolex oder einen eigenen Swimming-Pool genannt.

Trabert: Nein, das ist für mich irrational. Weltfremd. Wie manche Menschen sich so mit Reichtum umgeben können, verstehe ich nicht. Ich könnte das nicht, so egoistisch zu sein, während man weiß, wie viel Not und Leid es auf der Welt gibt.
Mir wird, vor allem bei meiner Arbeit im Ausland, immer wieder bewusst, wie gut es uns in Deutschland geht. Ich selbst habe eine feste Anstellung an der Universität, ich bin privilegiert in jederlei Hinsicht, mein ganzes Leben ist Luxus.

Aber wie gut lässt sich die Professorenstelle an der Universität Rhein Main denn überhaupt mit der Arbeit als ‚Straßen-Doc‘ verbinden?

Trabert: Es ist mitunter schon anstrengend, nach der Vorlesung im Arztmobil unterwegs zu sein, da braucht es ein klares Zeitmanagement. Aber die Universität ist meine existenzielle Basis – und ich kann nebenher noch tun, was mir so wichtig ist. Das ist mein Luxus und für den bin ich sehr dankbar.

Infos zum Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.“ sowie zu Spendenmöglichkeiten gibt es auf www.armut-gesundheit.de .

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