Frau Schwan, haben Sie den Eindruck, dass die Mauer 20 Jahre nach ihrem Fall in den Köpfen der Menschen noch steht?
Schwan: Sie steht eher in den Herzen als in den Köpfen. Ich glaube, es gibt immer noch viele, die nicht in der Lage sind, sich in die Situation der anderen hinein zu fühlen. Insbesondere im Westen, aber das gibt’s auch auf der anderen Seite.
Warum ist das so?
Schwan: Weil es generell keine leichte Sache ist, Empathie zu entwickeln. Es ist auch eine Frage, wie weit man so etwas kultiviert. Empathie ist sicher ein Defizit auch der westdeutschen politischen Kultur. Ich erinnere mich, dass der Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer Anfang der 90er Jahre berichtete, dass in den Einigungsmaßnahmen die mentale Seite der Einigung nicht berücksichtigt wurde. Nun heißt „mens“ Geist, aber es geht nicht nur um den Intellekt, sondern auch um Gefühle. Ich denke, hier gibt es am ehesten ein Problem, weil dies auch die Ebene ist, wo Vorurteile gehegt werden. Vorurteile entstehen nicht im Kopf. Sie sind keine intellektuellen Konstruktionen, sondern Vorstellungen, die sehr stark mit Gefühlen zusammenhängen, auch mit Selbstwerteinschätzungen der eigenen und der anderen Person.
Haben Sie ein Rezept, um solchen Vorurteilen entgegenzuwirken?
Schwan: Am besten helfen in der Regel gute persönliche Kontakte. Vorurteile grassieren vor allen Dingen dort, wo man die Menschen nicht kennt. Hinfahren und sich miteinander unterhalten, das sind glaube ich Wege, auf denen man ein bisschen vom Leben des anderen begreifen kann. Ich selbst bin in West-Berlin aufgewachsen, von daher war ich immer an der Ost-West-Frage interessiert. Seit 1967 bin ich bis zum Fall der Mauer regelmäßig, mindestens zweimal im Jahr, in Ostdeutschland bzw. in Ost-Berlin gewesen. Ich war da also immer in engem Kontakt – und war dann ja auch noch neun Jahre in Frankfurt-Oder an der Viadrina. Letztlich fand ich es nicht sehr schwer, mich in die Menschen hineinzufühlen. Ich war immer stolz darauf, dass viele in Brandenburg nicht wussten, ob ich aus dem Osten oder aus dem Westen komme.
In welchen Bereichen hatten Sie selbst Vorurteile gegenüber Ostdeutschen?
Schwan: Ich weiß nicht, ob ich Vorurteile hatte. Ich bin mit unterschiedlichen „Botschaften“ oder Perspektiven groß geworden. Meine Eltern waren im nationalsozialistischen Widerstand und haben dort mit Sozialisten und auch mit Kommunisten zusammengearbeitet. Ich hatte also zunächst keine antikommunistischen Gefühle. Zugleich bin ich als Drei-, Vierjährige mit Angst durch Ost-Berlin gegangen und hatte Angst vor der Volkspolizei, weil sie für mich bedrohlich war. Das haben mir nicht meine Eltern beigebracht. Meine Verwandten sind aus Ost-Berlin geflohen. Der 17. Juni war eine bedrohliche Erfahrung, die ich als Kind gemacht habe. Das heißt, ich habe zunehmend eine große Distanz, ja eine Aversion gegenüber dem politischen System entwickelt. Nicht gegenüber den Menschen, die da lebten. Natürlich dann auch insofern, als ein bestimmter Typus etwa als Obrigkeitsrepräsentant einem entgegentrat, ziemlich humorlos, ziemlich unwirsch und autoritär. Es gab dann schon mentale Kontinuitäten in der DDR, eher aus autoritären Traditionen, die ich beobachtete, wenn ich etwa mit meinen kleinen Kindern da war. Wenn die sich in der Pfütze dreckig gemacht hatten, dann traf das auf ziemlich missbilligende Blicke. Aber ich würde das jetzt nicht Vorurteil nennen, sondern das sind Beobachtungen, die ich gemacht habe.
Steht in den Köpfen der heutigen Politiker die Mauer noch zu hoch?
Schwan: Also, bei den Politikern weniger, aber vielleicht auch. Was mich sehr ärgert, ist, dass viele Westdeutsche, die in Bezug auf Vergangenheitsaufarbeitung in Sachen Nationalsozialismus selbst tangiert waren, diesbezüglich nicht so wahnsinnig eifrig waren – und die Vergangenheitsaufarbeitung in Sachen Ostdeutschland heute besonders energisch betreiben. Manchmal sogar noch mit dem Zusatz, den ich einfach für scheinheilig halte: „Das, was wir vorher nicht so gut gemacht haben, wollen wir jetzt besser machen.“ Man muss jedoch immer dazu sagen, dass sie im sicheren Hafen sitzen, weil sie sich dabei nicht selbst zur Disposition stellen müssen. Da hat gerade in der letzten Zeit wieder ein Schwarz-Weiß-Denken um sich gegriffen, so als sei nun alles in der Bundesrepublik eindeutig nur gut gewesen. Ich meine nicht, dass es irgendwas Gutes am politischen System der DDR gegeben hat, das meine ich ausdrücklich nicht. Kindergärten, Ganztagsschulen – das waren ganz gute Ideen, aber alles war unterminiert, durch eine Kultur der Unterdrückung, durch die Willkür der SED und der Stasi. Obwohl sich die DDR zum Teil aus sozialistischen Ideen, die nicht von Vornherein außerhalb der europäischen Werte-Tradition waren, legitimierte, ist das dann ganz schnell durch die autoritären und zum Teil totalitären Praktiken torpediert worden. Aber gegenwärtig gibt es so eine Selbstzufriedenheit auf westdeutscher Seite, als hätten wir sozusagen all das Gute gepachtet und die Menschen in Ostdeutschland nicht. Hier fehlt wieder das Einfühlungsvermögen, dass es eben für Ostdeutsche sehr schwer ist, wenn sie sich von Seiten der Westdeutschen generell unter moralischem Verdacht finden, weil sie etwa gegenüber einem politisch menschenrechtswidrigem System, das schließlich verloren hat, nicht genügend Widerstand geleistet haben. Das ist eine Asymmetrie zwischen Ost und West, die ich ziemlich unerträglich finde. Denn es ist kein eigenes Verdient gewesen, wenn man als Westdeutscher in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie aufgewachsen ist. Die Westalliierten haben das ermöglicht und verlangt.
Ist es ein Problem, dass viele Statistiken in Ost und West unterteilt werden, weil sich dadurch vielleicht so ein Denken in den Köpfen der Leute festsetzt?
Schwan: Statistiken werden in vielen Kategorien gefasst, auch nach Bundesländern und nach Nord- und Süddeutschland und so weiter. Aber es gibt schon deutlich noch materielle Unterschiede zwischen Ost und West, es gibt noch längst keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Arbeitslosigkeit ist sehr unterschiedlich hoch, die Abwanderung geht von Ost nach West, die Wahlergebnisse sind sehr unterschiedlich. Von daher bleibt es, glaube ich, legitim auch Ost-West-Unterschiede zu erfassen – aber nicht als die einzigen Unterschiede.
Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Medien beim Ost-West-Denken in der Bevölkerung?
Schwan: Die Medien greifen eigentlich alles das auf, was ihnen Aufmerksamkeit verspricht. Und dann greifen sie auch manchmal auf, dass es in Sachsen mit neuen Solartechniken plötzlich sehr aufwärts geht, oder sie greifen Kindsmorde von Müttern in ostdeutschen Städten auf. Das Problem der Medien ist ein separates. Sie handeln nicht unwesentlich nach dem Gewinnprinzip, was u.a. häufig dazu führt, zu skandalisieren, damit sie gekauft werden. Das begünstigt nicht eine ausgewogene Einschätzung der Bevölkerung, das ist klar. Aber das gilt jetzt nicht nur für den Ost-West-Gegensatz.
Wo sehen Sie persönlich noch die größte Schere zwischen Ost und West?
Schwan: Mich stört, dass die Grundasymmetrie zwischen Ost- und Westdeutschen von den Westdeutschen nicht genügend beherzigt wird. Die Grundasymmetrie ist erst mal die, dass sie nach 1945 viel weniger an Last der gemeinsamen NS-Vergangenheit haben tragen müssen als die Ostdeutschen. Die Ostdeutschen haben unter der Besatzung durch die Sowjetunion ein diktatorisches politisches System bekommen, sie waren viel ärmer und sie mussten ihre Industrien viel mehr in die Sowjetunion abliefern. Sie haben 40 Jahre lang gleichsam Hypotheken tragen müssen, die die Westdeutschen nicht getragen haben. Viele Westdeutsche neigen dazu, wie Menschen generell dazu neigen, einen Vorteil, den sie haben, als Ergebnis ihrer eigenen Leistung, ihres Verdienstes, zu sehen. Das impliziert automatisch, dass die anderen nicht so gut waren. Demnach wäre denen auch wiederum die Verantwortung dafür zuzuordnen, wenn es ihnen schlechter ging. Natürlich wird dann offiziell dagegen gehalten, die Ostdeutschen hätten eine wunderbare eigene Initiative ergriffen und sie konnten Autos viel besser reparieren als im Westen, weil sie keine Ersatzteile hatten und weitere derartige Sprüche. Aber das sind, meine ich, nur Floskeln im Vergleich zu der Grundeinstellung: „Wir waren auf der richtigen Seite, wir haben das richtige System gehabt, wir haben die guten Erfolge gehabt und die andere Seite nicht.“ Wenn Sie sich nur mal versuchsweise in einen Mann versetzen, der in Cottbus gelebt hat und einen Mann, der in Nürnberg wohnte. Wenn der eine auf den anderen trifft, hat der Nürnberger nie irgendwelche Rechtfertigungen für irgendetwas zu liefern, sondern nur der Cottbusser.
Hat die Linke heute noch ein Problem damit, dass die Mauer in den Köpfen der Leute teilweise noch existiert?
Schwan: Bei erheblichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung hat die Linke offensichtlich kein Problem, da hat sie hohe Wahlergebnisse erzielt. Sie ist aus meiner Sicht das Ergebnis einmal der Wiedervereinigung Deutschlands und der genannten Asymmetrien, die sie zum Teil auch manipulatorisch ausnutzt. Sie ist aber auch ein Ergebnis der ökonomischen Globalisierung, wo ein Problem entstanden ist, das die Sozialdemokratie in der Regierungsverantwortung schwer in den Griff bekommen hat. Und ich denke, dass die Linkspartei darüber hinaus auch noch durch vorhandene Organisationen und informelle Netze, die sie von der SED übernommen hat und dadurch, dass sie vielfach vor Ort sehr aktiv ist, in Ostdeutschland einen großen Erfolg hat. In Westdeutschland sind das ganz andere Konstellationen, die zur Linken führen. Aber ich glaube weniger, dass die Linke die Ost-West-Frage irgendwie vertieft, sondern dass ihre Existenz dazu ausgenutzt wird, sich politische Vorteile zu holen, die dann wiederum auf Kosten der Einheit Deutschlands gehen.
Wie meinen Sie das genau?
Schwan: Viele in Westdeutschland wollen sie gern isolieren. Das hat den „angenehmen“ politischen Nebeneffekt für konservative Parteien, dass man es der SPD schwer machen kann, eine Machtperspektive zu entwickeln. Und solche Politik kann man dann auch noch „politisch-moralisch“ begründen. Das hat aber wiederum Wirkungen. Denn wenn man prinzipiell sagt, die sind zwar Teil unseres Parteiensystems , aber eigentlich sind sie kein legitimer Partner, dann grenzt man einen erheblichen Teil Ostdeutschlands wieder aus.
Zum Schluss: Empfinden Sie Berlin heute noch als geteilte Stadt?
Schwan: Heute empfinde ich Berlin nicht mehr als geteilte Stadt. Aber mindestens zehn Jahre nach dem Fall der Mauer war es noch so, wenn ich mit dem Auto vom früheren West-Berlin ins frühere Ost-Berlin gefahren bin. Das ganze heutige Zentrum zumindest ist inzwischen völlig Gesamt-Berlin geworden. In Weißensee oder in Lichtenberg sieht es vielleicht für eine Westberlinerin anders aus.