Mr. Marcus, in den USA und in Deutschland läuft gerade der neue Film der Coen-Brüder, „Inside Llewyn Davis“ in den Kinos. Er gilt als Hommage an die New Yorker Folkszene der frühen 1960er Jahre, vor Bob Dylans Durchbruch. Haben Sie den Film gesehen?
Greil Marcus: Ja. Und ich habe ihn gehasst – aus vielen verschiedenen Gründen, aber vor allem weil die Musik so schlecht war. Dabei spielte es keine Rolle, ob das bei einigen Songs möglicherweise von den Regisseuren so gewollt war oder nicht. Ich bin zur Zeit in New York, ich wohne fünf Minuten von dort entfernt, wo sich der Gaslight-Club befand, in dem viele Szenen von „Inside Llewyn Davis“ stattfinden. Die Vorstellung, dass sich aufgrund des Films irgendjemand für diesen Hintergrund interessieren könnte, ist einfach lächerlich.
Da widersprechen Sie so ziemlich dem gesamten deutschen Feuilleton, das den Film in den höchsten Tönen lobt.
Marcus: Ja, auch in den USA habe ich nur eine einzige schlechte Besprechung gelesen, alle anderen waren begeistert. Das sei der „beste Film des Jahres“ und man würde verstehen, „wie es damals wirklich war“. Aber, wenn das wirklich so gewesen sein soll, damals in Greenwich Village, 1961, warum hätte das irgend jemand interessieren sollen? Warum sollte irgendjemand diese Musik anhören wollen? Wenn Llewyn Davis seine Songs spielt oder Jim und Jean „500 Miles“ singen, ist diese Musik nur frömmelnd und komplett blutleer.
Eine formale Übung, in der gerade mal die Töne getroffen werden.
Martin Scorsese drehte zum Thema ja auch schon einen Film, die Dokumentation „No Direction Home“, in der eine große Bandbreite dieser Künstler zu sehen ist…
Marcus: Wie zum Beispiel die Clancy Brothers, die auf der Bühne meistens weiße Pullover trugen. Nun haben die Coen-Brüder ein paar dicke Sänger in weiße Strickpullover gesteckt, die aussehen, wie ein paar wimmernde Hühnereier, die jeden Moment zusammenbrechen könnten. Sie singen aber „The Auld Triangle“, eine irische Ballade über die Todesstrafe, in der ein Ire wegen revolutionärer Umtriebe exekutiert wird. Die Clancy Brothers haben diesen Song oft aufgenommen, immer mit einer außergewöhnlichen Leidenschaft und Intensität. Es war nicht leicht, sich das anzuhören, weil es so viel Kraft hatte. Die Version im Film ist dagegen so langweilig, wie es nur geht.
Warum?
Marcus: Es kann sein, dass die Coens die Clancy Brothers in dieser Szene als reinen Kitsch auf die Schippe nehmen wollten. Okay, vom mir aus. Aber dann zeigen sie ihren Helden, Llewyn Davis, der zwar ein selbstsüchtiges Arschloch ist und alle schlecht behandelt, dem aber alle mehr oder weniger vergeben, weil seine Musik so „tief und voller Seele“ sein soll. Er ist jedoch total mittelmäßig. Wenn er „Hang Me, Oh Hang Me“ singt, glaubt er keine Sekunden daran, dass er gehängt werden oder auch nur sterben könnte. Das ist eine formale Übung, in der gerade mal die Töne getroffen werden.
Diese Figur basiert lose auf dem Folk-Musiker Dave van Ronk…
Marcus: Auch Dave van Ronk war kein großartiger Performer, kein großer Künstler. Aber er hatte Herz und ihm waren die Songs wichtig. In „Inside Llewyn Davis“ sind niemandem die Songs wichtig. Der stärkste Moment des Films war für mich, wenn Davis nachts über den verschneiten Highway fährt und im Autoradio eine Doo-Wop-Version von „Old MacDonald Had a Farm“ hört. Das ist die einzige Musik des Films, die wirklich lebt, wo man hört, dass die Band Spaß daran hatte, Musik zu machen, Kunst zu erschaffen. Das war Nolan Strong and the Diablos, eine der besten aller Doo-Wop-Gruppen; die kamen aus Detroit.
Nichts desto trotz vermitteln die Coen-Brüder einen Eindruck, wie die Folk-Szene als Gegenbewegung zum Rock’n’Roll aufblühte und wie Bob Dylan, der am Schluss von „Inside Llewyn Davis“ auftritt, als Rebell der Jugendkultur Elvis ablösen konnte.
Marcus: Das ist sicher richtig. Aber es ist eben auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass Bob Dylan mit Rock’n’Roll angefangen hat – anders als alle anderen, auf die sich der Film bezieht. Dylan hat zunächst Cover-Versionen von Little Richard gespielt. Er kam vom Rock’n’Roll zur Folkmusik und ging dann zurück zum Rock’n’Roll.
Sie haben in Ihren Büchern über Folk-Musik, Elvis und Punk geschrieben. Nun ist Ihr Sammelband „Über Bob Dylan“ auf Deutsch erschienen. Warum ist es wichtig, Musik nicht nur zu hören sondern auch über sie zu schreiben?
Marcus: Wichtig? Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, was ich oder jemand anderes über Musik schreibt. Ich finde es faszinierend, sich zum Beispiel mit der amerikanischen Folk-Musik zu beschäftigen, mit ihren großen Geheimnissen, mit den fantastischen emotionalen Konflikten, die sie bisweilen in einen einzigen Song packt. Diese Songs lassen einem Raum, den man mit Interpretationen füllen kann – indem man sie singt, oder in dem man über sie schreibt, auch darüber, was die Akkorde bedeuten, was einem die Melodie sagt. Wir leben nunmal unser Leben und kümmern uns um Dinge, die uns sagen wer wir sind, woraus die Welt gemacht ist und Songs sind ein großer Teil davon. Für jeden Autor ist das aber auch eine Frage der Eitelkeit – man schreibt über die eigene Wahrnehmung von Musik, weil man sich für sich selbst interessiert.
Warum aber ist das Interesse daran in den USA so ausgeprägt? Wenn man beispielsweise die Auflage des „Rolling Stone“ ins Verhältnis zur Bevölkerung setzt liegt sie um Einiges höher als die der deutschen Ausgabe…
Marcus: Nun, als ich in den späten 1960ern anfing, etwas zu veröffentlichen, war das im „Rolling Stone“. Und damals war das, was in der Musik stattfand, so interessant, kraftvoll und im guten Sinne unklar, dass es alles in den Schatten stellte, was zur gleichen Zeit in der Politik, aber auch in der Literatur und in Filmen stattfand. Jeder, der an einem gesellschaftlichen Diskurs interessiert war, wandte sich automatisch der Musik zu, weil es über alles andere nicht viel zu sagen gab. Also entstand eine Tradition des intensiven, neugierigen, auch kontroversen, mal lustigen und mal sehr ernsthaften Schreibens über Musik. Auch heute gibt es noch Leute, auch junge, die in dieser Tradition arbeiten.
Sehen Sie einen Musiker der jüngeren Generation, über den noch in 40 Jahren ähnlich viel geschrieben werden wird, wie bis heute über Bob Dylan? Kayne West vielleicht oder The Roots?
Marcus: Das ist eine interessante Frage. Kayne West – wer weiß? Er ist unglaublich talentiert und ein großer Fan der Musik anderer Künstler, die auf alle möglichen Arten wiederum in seine Musik einfließt. Er ist genial, was die Orchestrierung angeht, er kann aus einem gewöhnlichen Song etwas Großes machen, etwas was voller Möglichkeiten steckt. Lady Gaga ist da ähnlich begabt. The Roots sind eine wunderbare Band, aber sie sind eben auch sehr akademisch. Questlove, den man als ihren intellektuellen Kopf bezeichnen könnte, ist auch seit seinen Kindertagen ein besessener Plattensammler, er hat hunderttausende Platten und Singles. Er liebt es, wie Alben gestaltet sind, wie Cover aussehen, wenn Platten Liner Notes haben. Das gibt seiner Musik einen weiten Hintergrund. Ihre Version von Bob Dylans „Masters of War“ singen The Roots zunächst zur Melodie von „Star Spangled Banner“, der Nationalhymne der USA. Das ist wahnsinnig kraftvoll.
Welchen Einfluss sehen Sie durch die Musikindustrie seit den 1960er Jahren? Wie hat sich unsere Wahrnehmung von Musik verändert?
Marcus: Musik ist einerseits marginalisiert worden, jederzeit verfügbar. Andererseits hat sie ihre damalige Funktion verloren, weil sie so teuer geworden ist. Für das Barclays Center, den neuen Entertainment-Palast in Brooklyn, der 2012 mit einem Jay-Z-Konzert eröffnet wurde, werden die Tickets wie für ein Broadway-Musical verkauft, wo man für bestimmte Plätze bis zu 400 Dollar zahlt. Ein normaler Mensch kann sich das nicht leisten. Das begann schon 1984, als für die „Victory“-Tour von Michael Jackson und seinen Brüdern unglaubliche 30 Dollar pro Ticket verlangt wurden. Damals kostete eine Karte für die Rolling Stones etwa 13 Dollar und das war schon sehr teuer. Zu dieser Zeit hatte Michael Jackson seine meisten Fans unter jungen Afroamerikanern zwischen 10 und 20, die oft der unteren Mittelschicht oder armen Familien angehörten. Man konnte damals auch nicht einzelne Tickets kaufen, sondern nur vier auf einmal. Und 120 Dollar war für viele Familien mehr als eine Monatsmiete. Dieser Zustand ist heute total institutionalisiert worden. Bob Dylan zu sehen kostet generell 75 Dollar oder mehr. Das ist schrecklich!
Auch in „Inside Llewyn Davis“ geht es ja ums Musikbusiness, der legendäre Manager Albert Grossman wird persifliert, der seiner Band Peter, Paul & Mary vorschrieb, die Sonne zu meiden, weil blasse Musiker beim Folk-Publikum besser ankämen.
Marcus: Ja, so ist das wahrscheinlich gemeint. Aber tatsächlich ist dieser Manager im Film der einzige, der Llewyn Davis die Wahrheit sagt, nämlich „Du bist kein Frontmann“. Er wäre in einer Band wie Peter, Paul & Mary wunderbar aufgehoben gewesen und für immer vergessen worden. Das ist eine andere Art von Professionalität als jene, die heute dafür sorgt, dass ein Country-Pop-Star wie Taylor Swift gleichzeitig auf zwölf Zeitschriften-Covern zu sehen ist. Diese Magazine bedienen nur die Frage: Wie ist dieser Promi wirklich? – Aber wen kümmert das? Ich finde die Frage „Mag ich ihren Song und warum?“ viel interessanter.
Aber bedienen viele Stars nicht von sich aus diesen Promi-Kult?
Marcus: Natürlich. Und dem Publikum wird suggeriert, es müsste sich für die Stars interessieren. Entsprechend werden auch Musiker unter Druck gesetzt, sich vor allem mit ihrem Image auseinanderzusetzen, obwohl sie möglicherweise ursprünglich ein echtes Interesse an ihrer Musik hatten. Dieses Denken spiegelt sich übrigens auch in den Rezensionen wieder, nicht nur im „Rolling Stone“. Es geht nicht mehr darum zu sagen: Dieser Song erscheint mir außergewöhnlich. Welche Art von Humor hat er? Welche Idee ist in ihm zu hören? Es geht nur noch darum, seine Rolle im Kontext der Karriere seines Interpreten zu analysieren. Entwickelt er sich? Wird er ein größeres Publikum erreichen? Wird ihn sein Label feuern? – Darüber kann man schreiben, von mir aus. Aber dann bitte in den Wirtschaftsnachrichten, nicht im Musikteil.
Bob Dylan hat sich und sein Image auch sehr bewusst inszeniert.
Marcus: Ja, aber er hat es geschafft, seine Privatsphäre zu schützen und so den Fokus der Öffentlichkeit auf seine Musik zu legen. Toll an seiner Autobiographie, den „Chronicles“, war doch, wie er – an nur zwei Stellen – „meine Frau“ erwähnt. Es geht nicht darum, dass da jeweils eine andere Frau gemeint ist, es geht nicht darum, wie sie war und warum sie sich scheiden ließen. Er beschreibt lediglich eine Situation bei sich zuhause: Ich sitze rum, ich rede mit meiner Frau und aufgrund dieses Gesprächs kam ich auf diese oder jene Idee. Das ist wohl auch der Grund, warum beim Erscheinen eines neuen Dylan-Albums vor allem über die Musik geschrieben wird. Ist sie gut? Was passiert mit diesem Pastiche eines alten Blues-Songs, den er sich zu eigen macht? Ist das ein emotionales Statement, durch das wir uns lebendiger fühlen, wenn wir es hören? Über Dylan als Person zu reden lohnt sich nicht, weil man über ihn nichts weiß.
Zumindest die Paparazzi scheinen an ihm nach wie vor Interesse zu haben. Auch der Rolling Stone druckt gerne mal ein unscharfes Foto von Bob Dylan im Jogging-Anzug.
Marcus: Ja, aber was sagt das aus? Bob Dylan joggt. „Toll!“ Der Wunsch, diesen Menschen kennen zu lernen, ihn zu deuten, führt dann zu so einer lächerlichen Situation, wie wir sie gerade in Frankreich haben, wo ihn der Rat der Kroaten angeklagt hat, weil er angeblich Rassenhass propagiert haben soll. Natürlich hätte er seine Aussagen in jenem Interview (erschienen im Dezember 2012 im französischen „Rolling Stone“) genauer formulieren können, aber im Grunde hat er nur gesagt: Rassismus ist ein Fluch. Alle Menschen sind in gewisser Weise davon betroffen und das ist einer der Gründe, der uns davon abhält, wirklich zivilisiert zu sein. In ihm liegt der Grunde des Hasses, den so viele mit sich herumtragen. Das umzudrehen und zu sagen: Dylan provoziert Rassenhass, ist nur ein weiterer Versuch zu sagen: „Seht mal, so ist Bob Dylan wirklich – ein alter verrückter Kerl. Jetzt kennen wir ihn.“ Ich denke, das wird nicht funktionieren.
Sie haben in Ihren Büchern aus Folksongs oder auch aus den „Basement Tapes“ von Bob Dylan eine mythische Geschichtsschreibung der USA gelesen. Gibt es eigentlich ein Lied aus Deutschland, dem Sie ähnliche Qualitäten zuordnen würden?
Marcus: Da fällt mir nur ein Song von Blixa Bargeld und Alva Noto ein. Sie haben eine fantastische Techno-Version von „I Wish I Was A Mole in the Ground“ aufgenommen, diesem geheimnisvollen amerikanischen Folksong, über den ich oft geschrieben habe. Ihre Version ist anders, als alle, die ich je gehört habe. Wenn ich in meinem Seminaren über diesen Song spreche und die Studenten beginnen, sich etwas zu langweilen, spiele ich ihnen diesen Song vor und sie schrecken sofort hoch: „Was ist das denn?“ Dann sie sind wieder hellwach.
Was fasziniert Sie so sehr daran?
Marcus: Ich habe Blixa Bargeld einmal getroffen. Er ist ein sehr lustiger Kerl. In dem Song spielt er die erste Hälfte komplett roboterhaft, er bedient alle üblen Vorurteile, die man von Deutschen nur haben kann. Aber dann geht er weiter, er öffnet sich, wird verzweifelter, erwacht mit seinem schweren deutschen Akzent zum Leben und wird zur Metapher für ein ganzes Land, eine ganze Gesellschaft mit ihrer Geschichte, die versucht, sich aus ihrem Panzer zu befreien.
In Ihrem Buch „Über Bob Dylan“ sind Texte aus den Jahren 1968 bis 2010 versammelt. Aber das 2009 erschienene Album „Christmas in the Heart“ erwähnen Sie nicht.
Marcus: Nun, ich habe mir das Album gekauft aber noch nie gehört. Ich kenne nur die Songs, die damals im Radio gespielt wurden und es klang schrecklich, so sinnlos. Ich wollte nichts mehr davon hören. Wissen Sie, als Kind ging ich zu Weihnachten in der Nachbarschaft von Haus zu Haus und sang Weihnachtslieder, wie alle andern Kinder auch. Egal ob man Jude, Protestant oder Katholik war, in den USA machte das jeder. Ich habe das wirklich geliebt, aber das heißt nicht, dass ich mir deshalb eine Plattenaufnahme von meinem Gesang anhören würde. Auch Bob Dylan hat als kleiner Junge in Hibbing, wo er aufgewachsen ist, diese Lieder gesungen. Und dann hat er sie eben irgendwann aufgenommen, genauso, wie er sie damals gesungen hat.
Nur, dass er jetzt eine schöne alte Blues-Stimme hat und im Hintergrund Engel singen.
Marcus: Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mir das anhören muss.
Interessant ist, dass die meisten Songs auf „Christmas in the Heart“ nicht älter sind als Bob Dylan selbst.
Marcus: Wahrscheinlich hat er diese Platte auch gemacht, weil er als Songwriter fasziniert ist von den verschiedenen Traditionen des amerikanischen Songwritings. Und eine der Herausforderungen für den klassischen amerikanischen Songwriter im 20. Jahrhundert war, ob man einen guten Weihnachtssong schreiben konnte. Bekanntermaßen wurden viele der größten Weihnachtslieder dieser Zeit von jüdischen Komponisten geschrieben. Irving Berlin kannte niemand, bevor er „White Christmas“ geschrieben hatte. Bob Dylan hat nie einen Weihnachtsong geschrieben. Oder vielleicht doch und ich habe es nur vergessen
Können Sie als Musikkritiker Weihnachtsalben überhaupt etwas abgewinnen?
Marcus: Wenn man an das Weihnachtsalbum von Elvis denkt, darauf ist zum Teil wirklich tolle Musik zu hören. Sicher sind Weihnachtsplatten in erster Linie ein profitables Geschäftsmodell. Aber es geht auch anders: Das Weihnachtsalbum der Beach Boys ist zum Beispiel sehr unterhaltsam. Und auf Phil Spectors Platte „A Christmas Gift for You“ befindet sich mit „Christmas (Baby Please Come Home)“ von Darlene Love nicht nur mein Lieblingsweihnachtslied – es ist auch einer der größten Rock’n’Roll-Songs überhaupt.
Greil Marcus „Über Bob Dylan: Schriften 1968-2010“, 639 Seiten, Edel Germany