Günter Lamprecht

Ein alter Baum kann mich zum Weinen bringen.

Schauspieler Günter Lamprecht über das kleine Glück und die große Wehmut, seine proletarische Herkunft, den Schauspielerberuf und das Regietheater, SPD und Linkspartei

Günter Lamprecht

© rbb

Herr Lamprecht, zur Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich mir noch einmal einige Ihrer Filme angesehen. Tun Sie dies hin und wieder eigentlich auch?
Lamprecht: Ich gucke mir meine eigenen Filme eher selten an, bin jedoch unabhängig davon immer noch und auch nach all den Jahren auf viele Arbeiten sehr stolz. Wenn ich mir heute einen meiner alten Filme angucke, geht es mir auch weniger um meine eigene Person, sondern vielmehr um die Inhalte. Wie wichtig waren die Themen der Filme zur damaligen Zeit und mit welcher – neudeutsch ausgedrückt – Message sind wir umgegangen? Und hat es funktioniert, habe ich mit dem Film etwas bewirken können?

Ist Ihnen das bei einem Film besonders gut gelungen?
Lamprecht: Besonders gelungen ist es mir sicherlich 1977 in Peter Beauvais’ Drama „Rückfälle“, in dem ich einen Alkoholiker gespielt habe. Nach der Ausstrahlung erhielt ich ganze Waschkörbe mit Post von Betroffenen. Auch heute stehe ich noch mit den Anonymen Alkoholikern in Verbindung und stelle mich gerne zur Verfügung, wenn ich gebraucht werde und irgendwie helfen kann. Ich bezeichne „Rückfälle“ gerne als Edelstein in meiner Laufbahn, was daran liegt, dass das Thema Alkohol natürlich auch heute noch brandaktuell ist. Aber auch ansonsten gingen meine wesentlichen Filme immer ans Eingemachte, an die Substanz. Das waren dann meistens auch Produktionen, bei denen ich nach Drehschluss erst einmal vier Wochen in die Kur musste, um die Rolle wieder abzuschütteln.

Am 21. Januar feiern Sie nun Ihren 80. Geburtstag und bereits vor einigen Jahren haben Sie in zwei Teilen Ihre Autobiographie veröffentlicht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Arbeit daran für Sie nicht immer einfach war und Erinnerungen hochgekommen sind, die Sie vielleicht am liebsten längst vergessen hätten?
Lamprecht: Ich kann wirklich klar und deutlich sagen: das Schreiben war eine Tortur, es war nicht einfach. Ursprünglich wollte ich meine Lebenserinnerungen auch überhaupt nicht niederschreiben, aber dann kam Helge Malchow, der jetzige Chef von Kiepenheuer & Witsch, auf mich zu und hat mich gewissermaßen bedrängt. Er ließ nicht locker, wollte unbedingt das Buch haben. Nach vier, fünf längeren Treffen habe ich dann nachgegeben und habe gesagt: also gut, ich versuche es mal, weiß aber nicht, ob es funktioniert. Und damit hatte ich es mir eingebrockt: ich saß da und kam aus dem Heulen nicht mehr raus. Es gab viele, mehrere Seiten lange Passagen, bei denen mir das Schreiben sehr schwer fiel und die ich dann, wenn man so will, weggeweint habe. Ich glaube, das Schreiben und Erinnern ist damit auch zu einem ganz kleinen Teil einer Therapie geworden. Ich habe mir eine ganze Menge vom Herzen geschrieben und bin eigentlich immer noch dabei. So bin ich nun seit einem Jahr bemüht, ein Theaterstück zu schreiben…

…über den Amoklauf in Bad Reichenhall, bei dem Sie und Ihre Lebensgefährtin, die Schauspielerin Claudia Amm, am 1. November 1999 von einem sechzehnjährigen Amokschützen angeschossen und lebensgefährlich verletzt wurden. Der Schütze tötete vier Menschen und erschoss sich kurz nach der Tat selbst.
Lamprecht: Ja, bislang trägt das Stück den ganz einfachen Arbeitstitel „Amok“. Es sind ja nun zehn Jahre vergangen und es sind viele Dinge passiert. Mittlerweile besitze ich die gesamten Unterlagen und Materialien zu unserem Fall – Gutachten, das Ende eines Klageerzwingungsantrages und den abschlägigen Bescheid vom Bundesverfassungsgericht. Mein Anwalt Rolf Bossi hat damals lapidar gesagt: „Da ist nichts mehr zu machen, dort in der Ecke sind Ihre Akten. Wenn Sie wollen, können Sie die ganzen Sachen mitnehmen.“ Ich habe sie dann tatsächlich mitgenommen und habe nach einer langen Zeit, in der sie nur im Keller vor sich hin gammelten, angefangen, damit zu arbeiten. Ausgangspunkt meines Stückes sollte eine Gerichtsverhandlung sein, weil ich dachte, dies sei die einzige Möglichkeit, diese Geschichte zu erzählen.

Es gab ja nie eine Gerichtsverhandlung gegen die Eltern des Amokläufers, obwohl Sie alle möglichen Instanzwege genommen hatten.
Lamprecht: Eben und deswegen dachte ich, ich mache mir meinen Prozess einfach selbst. Ich habe mir juristische Berater in Form zweier pensionierter Staatsanwälte geholt, die ich gut kenne und die mir sagen konnten, ob auch alles korrekt war, was ich da schrieb. Und dann, dann war es auf einmal mit dem Schlafen vorbei. Ich hatte keinen Schlaf mehr. Ich bin immer noch in posttraumatischer Behandlung und dort sind wir zu dem Schluss gekommen, es sein zu lassen, damit ich meinen Schlaf wiederfinde. Mit dem Stück ist also erst einmal Ruhe. Ich hatte mir zwar ein grobes Handlungsgerüst gebaut, doch sobald ich in konkrete Situationen hineingehen musste, war da etwas in mir drin, was mich am Weiterarbeiten hinderte. Die Erinnerungen sind einfach nicht weg, sind so stark wie vor zehn Jahren. Und darum lasse ich das Weiterschreiben erst einmal sein. Ich habe den Stoff aber auch schon einem jungen Autoren angeboten, der die Arbeit gerne fortsetzen würde.

Nach Erscheinen Ihrer Autobiographie zeigten sich viele Journalisten begeistert von Ihrem schriftstellerischen Talent. Waren Sie selbst ein bisschen überrascht?
Lamprecht: Ein wenig schon. Ich gebe auch ganz ehrlich zu: ich bin sehr stolz auf die beiden Bücher und darauf, dass ich sie als Autodidakt geschrieben habe. Natürlich hatte ich Hilfen beim Verlag, aber ich kann wirklich behaupten, dass jeder Satz von mir ist. Ich kann zu mir sagen: „Jünta, du hast et geschrieben. Dett ist dein Ding (lacht).“ Viele Prominente schreiben ihre Biographien ja gemeinsam mit Journalisten oder erzählen einfach irgendwelche aneinandergereihten Anekdötchen – das hat mir nie gefallen. Mir war klar: wenn ich meine Lebensgeschichte aufschreibe, dann muss es ehrlich sein und von mir selbst kommen. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man es dann geschafft hat und das fertige Buch vor einem auf dem Tisch liegt.

Neurologen fanden heraus, dass man sich im Alter vor allem an Dinge erinnert, die passierten, bevor man Mitte 20 wurde. Beobachten Sie auch bei sich, dass mit zunehmendem Alter plötzlich längst vergessene Dinge, an Sie überhaupt nicht mehr gedacht haben, aus dem Unterbewusstsein auftauchen und präsent werden?
Lamprecht: Seit Bad Reichenhall bin ich ja, wie eben bereits angedeutet, in therapeutischer Behandlung und schon bei der dritten Sitzung kamen wir darauf, dass der Amoklauf in meinem Gehirn alte Wunden aufgerissen hat und dass ein Zusammenhang zwischen der Tat und der Schießerei besteht, die ich als junger Mensch mit 15 Jahren im Krieg erlebt habe. Wer weiß, vielleicht wären meine Erinnerungen an die Schießerei im Krieg ohne den Amoklauf nicht mehr so präsent? Bei mir ist es aber ansonsten so, dass ich mich nicht nur an die Zeit bis Mitte 20, sondern an alles sehr intensiv erinnern kann. Ich werde bei meinen Lesungen immer wieder gefragt, ob ich Tagebuch geführt habe. Habe ich nicht, ich kann aber vieles sehr gut aus meinem Gedächtnis abrufen und diese Gabe konnte ich natürlich sowohl bei der Arbeit an der Autobiographie, als auch bei der Vorbereitung auf Rollen nutzen. Ich habe einen reichen Fundus, alles ist gespeichert.

Sie haben auch einmal gesagt, dass Sie, wenn Sie sich auf eine Rolle vorbereiten, zunächst einmal wie ein Journalist recherchieren, um der Figur näher zu kommen.
Lamprecht: Ja, ich liebe die Recherche. Nach Erwin Keuschs Filmdebut „Das Brot des Bäckers“, das ja mittlerweile wirklich zu einem Kultfilm geworden ist und in dem ich einen Bäckermeister gespielt habe, haben mich viele echte Bäcker gefragt, ob ich einmal in diesem Beruf gearbeitet hätte, die Handgriffe wären allesamt so überzeugend gewesen. Das war das größte Lob, das man mir machen konnte. Ich war natürlich nie Bäcker, habe aber die drei Wochen vor Drehbeginn mit den Schauspielerkollegen Bernd Tauber und Manfred Seipold in einer echten Backstube gearbeitet. Wir sind morgens um drei Uhr im Hotel aufgestanden, standen bis mittags, Punkt zwölf Uhr in der Backstube. Dann haben wir noch gefegt und sind zusammen mit den echten Bäckern zum Weißwurstessen gegangen. Durch diese drei Wochen Arbeit waren wir mit dem Bäckerberuf richtig vertraut. Und es kam noch hinzu, dass wir den Film auch im selben Raum gedreht haben, in dem wir geprobt hatten. Die gesamten Handgriffe waren schon geübt, sodass sie authentisch wurden. Für so etwas ist heutzutage bei Filmproduktionen leider nur noch wenig Zeit.

Ich würde gerne noch einmal einen Sprung zurück machen. Ihr Vater war überzeugter SA-Anhänger und wurde schon früh Mitglied der NSDAP. Konnten Sie sich später mit ihm über diese Kapitel seines Lebens auseinandersetzen?
Lamprecht: Ideologisch konnte ich mich mit ihm nicht auseinandersetzen, dafür war er bis ins Alter in seiner Grundeinstellung zu verbohrt und hatte – salopp formuliert – ein Brett vorm Kopf. Es war schwer für mich, an ihn heranzukommen. Aber ich habe im Laufe der Jahre entdeckt, dass er auch nach dem Ende des Nationalsozialismus immer noch Anhänger dieses Regimes war. Als ich meine ersten Theaterengagements hatte und zwischendurch immer wieder zu Besuchen nach Berlin kam, entdeckte ich, dass er die rechtsextreme National-Zeitung abonniert hatte. Und immer, wenn ich das Zimmer überraschend betratet, hat er versucht, sie schnell zu verstecken, was geradezu ein lächerliches Schauspiel war.

Haben Sie ihn einmal darauf angesprochen?
Lamprecht: Ja, und da sind dann doch Gespräche entstanden, bei denen er allerdings so viele dumme Sätze sagte wie zum Beispiel: „Das mit den Juden hätte ja nicht sein müssen, aber ansonsten…“. Auf dieser Basis konnte ich mich mit ihm freilich nicht unterhalten, das brachte ich nicht fertig, darum habe ich es aufgegeben. Aber meine Verachtung – und da muss ich jetzt sehr vorsichtig sein, weil ich ihm schon lange vergeben habe – für sein Tun und für das Tun seiner Brüder, die alle in der SA stark engagiert waren, wurde immer stärker, sodass ich den einen Bruder, der zum Sonderkommando der Waffen-SS gehörte, sogar vollkommen aus meinem Leben gestrichen habe.

Sie haben auch einmal den Steuerberater Ihres Vaters aus der Wohnung geworfen.
Lamprecht: Ja, weil er sich sehr unangenehm über Willy Millowitsch geäußert hatte: „Ist ja auch so’n Jude.“ Furchtbar. Später, lange nach dem Tod meines Vaters, war ich – im Zuge von Dreharbeiten für einen SFB-„Tatort“ – im Berlin Document Center (BDC), wo die Akten der Nazis gelagert sind. Dort habe ich erfahren, dass mein Vater tatsächlich schon seit 1925 NSDAP-Mitglied gewesen ist. David Marwell, der damalige Leiter des BDC und jetzige Chef des Jüdischen Museums in New York, sagte mir übrigens, es sei seine Erfahrung, dass sich alle Kinder der NS-Anhänger fast ausnahmslos – so wie ich – links orientierten.

Gibt es Dinge, die Sie Ihre Eltern gerne noch gefragt hätten?
Lamprecht: Sehr viele. Mich interessiert zum Beispiel brennend die Familiengeschichte der Vorfahren meiner Mutter. Da ist für mich ein riesiges Loch und ich weiß überhaupt nicht, wo diese Leute aus Masuren herkommen. In dieser Richtung hätte ich gerne noch einmal richtig nachgeforscht. Im Sommer will ich mich aber auf den Weg nach Masuren machen und dort ein bisschen auf Spurensuche gehen, recherchieren.

Welche Gefühle überwiegen, wenn Sie an das Berlin Ihrer Kindheit – das Berlin im und nach dem Zweiten Weltkrieg – zurückdenken?
Lamprecht: Das ist eine sehr merkwürdige Mischung. Ich bin noch häufig in Berlin – oft auch mit fremden Leuten, die neu in mein Leben getreten sind und für die ich dann gerne ein bisschen den Fremdenführer spiele. Anhand meiner beiden Bücher muss ich dann natürlich immer zeigen, wo die geschilderten Orte sind. Wo stand mein Elternhaus? Wo die orthopädische Werkstatt, in der ich meine Ausbildung gemacht habe? Wo war die Stelle an der Spree, an der ich gebadet habe und von der Jannowitzbrücke gesprungen bin? Und wenn ich dann wieder an diesen Orten bin, spüre ich eine ganz starke Wehmut, eine Melancholie. Sie mischt sich zwar auch mit schönen Erinnerungen, doch die Schwermut überwiegt. Die leichtere Seite des Lebens und eine lachende Kindheit kommen in meinen Erinnerungen wenig vor. Manchmal muss ich auch noch bei meinen Lesungen richtig mit den Tränen kämpfen – und oftmals überträgt sich das dann auch auf das Publikum und die Leute sind nach der Lesung fix und fertig. Die Emotionen übertragen sich. Das ist Wahnsinn.

Wie gefällt Ihnen das heutige Berlin?
Lamprecht: Es gefällt mir, aber es ist selbstverständlich ein ganz anderes Berlin als das Berlin meiner Kindheit und Jugend. Das Vorkriegs-Berlin ist logischerweise überhaupt nicht mehr vorhanden, die wunderbaren alten Bauten in Mitte beispielsweise oder die Friedrichstraße. Ich erinnere mich noch an die Olympiade 1936, Berlin war damals unheimlich international. An jeder dritten Straßenecke gab es einen Schuhputzer oder jemand machte Musik, das war fast ein bisschen wie in New York. Diese Internationalität wird meiner Meinung nach heute jedoch vorwiegend künstlich hergestellt, es ist nicht mehr das Ursprüngliche.

Ab 1953 nahmen Sie Schauspielunterricht bei Else Bongers, die beispielsweise auch Hildegard Knef, Götz George oder Ulrich Matthes unterrichtete. Erinnern Sie sich noch an Ihre allererste Schauspielstunde?
Lamprecht: Ich erinnere mich vor allem noch an das Vorsprechen, das ja gewissermaßen auch meine erste Stunde bei Else Bongers war. Ich kam mittags nach der Arbeit hin, sie fragte mich, was ich vorsprechen wolle und ich war natürlich völlig verwirrt: „Wieso ‚vorsprechen’? Ick bin doch da (lacht).“ Ich hatte nicht gewusst, dass ich einen Text hätte vorbereiten sollen. Ich saß da völlig naiv als Orthopädiemechaniker, mit der Aktentasche auf dem Schoß.

Und dann?
Lamprecht: Sie hat mir den Ruprecht aus dem „Zerbrochenen Krug“ von Kleist zum Lernen aufgegeben und damit haben wir dann in der nächsten Stunde angefangen. Offenbar habe ich mich dabei erstaunlicherweise nicht mal so doof angestellt. Ich habe den Text des Ruprechts nicht nur aufgesagt, sondern habe ihn zum Teil schon gestaltet, auch mit Pausen. Ein gewisses Talent war also schon vorhanden. Das hat Else Bongers dann bestätigt und sie war wohl auch sehr gerührt über diesen Proletarier, der da bei ihr im Wohnzimmer stand und plötzlich Kleist sprach. Ich glaube, das war sehr aufregend für sie und vielleicht hat sie sogar ein bisschen damit kokettiert, dass sie so einen Bengel von der Straße als Schüler hatte.

Sie waren ein Sonderfall.
Lamprecht: Ja, durchaus. Ich habe Else Bongers viel später noch einmal besucht und das Treffen endete schließlich in einem großen Fluss von Tränen. Sie hat mich aber trotzdem immer noch gesiezt. Andere Schüler hat sie geduzt, mich nicht. Aber das lag sicher auch daran, dass ich schon 23 Jahre alt gewesen bin, als ich das erste Mal zu ihr ging. Ich hatte zuvor ja schon einige Jahre als Orthopädiemechaniker gearbeitet und stellte somit schon etwas dar. Das war schon ein bisschen was anderes, als wenn ein völlig unbeleckter Bengel aus reichem Elternhaus zu ihr kam, um Schauspieler zu werden.

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Wenn man – so wie ich – aus der Reihe tanzt und die Dinge benennt, die einen ärgern, dann wird man sehr schnell als schwarzes Schaf abgestempelt und wird einfach nicht mehr besetzt.

Günter Lamprecht

Sie haben an vielen Stadttheatern gearbeitet, unter anderem in Oberhausen, Heidelberg und Gelsenkirchen. Sie sagen über diese Zeit, dass Sie sich an den kleinen Häusern wohler gefühlt hätten als an den großen Theatern. Will man als Schauspieler aber eigentlich nicht immer an die großen Bühnen?
Lamprecht: Na ja, dazu gibt es eine interessante Geschichte. Der berühmte Regisseur Boleslaw Barlog, der in Berlin zeitweise das Schillertheater und das Schlossparktheater leitete und bei dem ich schon die eine oder andere kleine Wurzenrolle gespielt hatte, hatte mir praktisch versprochen, dass er mich wieder zurück nach Berlin und an die großen Häuser holen würde. Er meinte: „Geh’ dir erst mal in der Provinz die Hörner abstoßen, wa, ich pass’ schon uff, wo du bist. Ich guck’ genau und hol’ dich zurück.“ Doch er hat dieses Versprechen nie eingelöst. Es gab dann aber viele Jahre später noch eine rührende Begegnung. Irgendwann nach „Berlin Alexanderplatz“ musste ich am Hamburger Flughafen umsteigen und im Warteraum traf ich dort zufällig auf den alten Barlog, das war etwa zwei Jahre vor seinem Tod. Er saß da, geschwächt, im Rollstuhl, ist dann aber sofort aufgesprungen, zu mir gerast und hat sich entschuldigt: „Mensch, Günter Lamprecht, was du da gemacht hast mit dem ‚Alexanderplatz’ – einmalig. Und ick doofer Kopp hab’ dich nicht geholt.“ Ich habe ihm erklärt, dass ich überhaupt nicht böse bin, nur ein bisschen traurig, weil ich die ganze Zeit gedacht hatte, er hätte mich und sein Versprechen vergessen. Dann fing er an zu weinen. Das war eine sehr bewegende Begegnung.

In den Siebzigerjahren drehten Sie viele sozialkritische Fernsehspiele und Sie schreiben in Ihrer Autobiographie über diese Zeit: „Meine proletarische Abstammung ist gefragt. Der größte Teil der deutschen Schauspieler kommt aus bürgerlichen Verhältnissen. Die sind kaum in der Lage, solche Figuren zu verkörpern.“ Der letzte Satz hat mich verwundert: muss ein guter Schauspieler nicht alle Figuren spielen können – ganz unabhängig davon, welchen biographischen Hintergrund er hat?
Lamprecht: Natürlich, und das ist auch bei mir oberstes Gesetz – auch ich habe schließlich schon wohlhabende Rechtsanwälte oder Chefärzte gespielt. Doch die Figuren mit proletarischer Herkunft lagen mir stets mehr und ich glaube, ich konnte diese Figuren am besten darstellen. Für Kollegen aus einem normalen Elternhaus und mit normalem Lebenslauf ist es meines Erachtens schwieriger, sich ins Proletariat zu begeben und beispielsweise so einen Elendsmenschen zu spielen wie ich ihn in der „Großen Flatter“ gespielt habe.

War es für Sie nie ein Ziel, dem gut situierten Bürgertum anzugehören? Hätten Sie das Gefühl gehabt, sich und Ihre Herkunft damit zu verraten?
Lamprecht: Ja, solche Gedanken haben mich immer wieder begleitet, bis heute. Wenn ich Einladungen zu großen Veranstaltungen bekomme, bei denen ich auf das sogenannte Bildungsbürgertum treffe, bekomme ich Schwierigkeiten und fühle mich nicht ganz wohl. Anpassung wäre Verrat an meinen Wurzeln.

Gerade in den Siebzigerjahren haben Sie ununterbrochen und oftmals auch parallel an verschiedenen Projekten gearbeitet. So standen Sie beispielsweise zeitweise tagsüber an der Adriaküste für Hagen Müller-Stahls „Sie kamen aus Agati“ vor der Kamera und spielten abends in Bochum im Stück „Die Reporter“. Sicherlich eine anstrengende Zeit?
Lamprecht: Definitiv. Ich weiß noch, dass ich morgens von der Filmproduktion geweckt werden musste, wenn es zum Flughafen ging. Ich war immer im Tiefschlaf, konnte teilweise nicht mehr. Parallel zu den „Reportern“ in Bochum und Müller-Stahls actiongeladenem Film an der Adria, entstand dann ja auch noch am Bodensee „Martha“, ein Film von Fassbinder. Darin hatte ich zwar nur eine kleinere Rolle, doch ich musste trotzdem am Set sein. Darüber hinaus war es mein erster Kinofilm. Fassbinder freute sich damals übrigens immer spitzbübisch, wenn ich anreiste, er auf mich zuging und sagte: „April, April, du bist heute gar nicht dran (lacht).“ Oftmals habe ich da wirklich gedacht: „Du bist vielleicht ein Arsch. Bestellst mich hierher und eigentlich will ich nur noch ins Bett.“

Hatten Sie in solchen Phasen, in denen Sie überhaupt nicht zur Ruhe kamen, bestimmte Rituale, um Kraft zu tanken?
Lamprecht: Nein. Ich glaube, ich habe von Haus aus eine sehr gute Natur mitbekommen, die dafür sorgte, dass ich so viel aushalten konnte. Und ich habe in meinen frühen Jahren sehr viel Sport getrieben, das hat sicherlich auch geholfen. Ich glaube, ich habe einen sehr stabilen Körper und schon durch den Orthopädiemechaniker-Beruf hatte ich gelernt, meine Kräfte gut einzuteilen. Gut, wir haben manchmal über unsere Verhältnisse gesoffen, das passierte bisweilen, aber ich war dann auch in der Lage, das sehr schnell wieder aufzufangen und am nächsten Tag in die richtige Bahn zu kommen.

Sie haben mehrmals mit Peter Zadek zusammengearbeitet – zum Beispiel auch bei den gerade schon erwähnten „Reportern“ in Bochum –, geben aber unumwunden zu, dass Sie ihn nicht sonderlich mochten.
Lamprecht: Ich fand ihn nicht originell und seine Witze waren nicht meine. Das größte Problem war jedoch, dass mir das Vertrauen fehlte, mich ihm zu öffnen und ich glaube bis heute, dass er meine Kunst gescheut hat, mit mir nichts anfangen konnte. In seinen Regieanmaßungen sah ich schon früh eine tödliche Bedrohung der von mir so geliebten Schauspielerarbeit.

Heute ist das sogenannte „Regietheater“, das bei Zadek und anderen Regisseuren seiner Generation seinen Anfang nahm, quasi zum Bühnenstandard geworden. Können Sie überhaupt noch mit Genuss ins Theater gehen?
Lamprecht: Für mich ist ein Theatergang jedes Mal ein Risiko (lacht). Nichtsdestotrotz gibt es aber natürlich auch immer wieder Inszenierungen und Aufführungen, die mich begeistern. Kürzlich habe ich mir zum Beispiel im Mannheimer Nationaltheater die deutschsprachige Erstaufführung von Tracy Letts’ „Eine Familie“ angesehen und war hin und weg. Dort hat eine großartige Ensembleleistung stattgefunden und jede Figur war authentisch – an diesem Abend war ich wirklich selig. Ich habe das gesamte Publikum zu Standing Ovations animiert, es war einfach wundervoll.

Verlassen Sie das Theater, wenn Ihnen ein Stück nicht zusagt?
Lamprecht: Ja, und zwar immer dann, wenn ich diese abartigen Inszenierungen erleben muss, bei denen besonders die Klassiker missbraucht werden. Der F.A.Z.-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier hat dazu mal einen wunderbaren Satz geschrieben: „Die Regisseure machen beim Regietheater einfach das, was ihnen gerade durch die Rübe rauscht.“ Und mittlerweile spricht man in Schauspielerkreisen bei Inszenierungen dieser Art nur noch vom „Rübenrausch-Theater“, das finde ich großartig (lacht). Der Umgang mit Nacktheit oder die Obszönitäten, die um jeden Preis passieren müssen, die aber überhaupt nicht im Zusammenhang notwendig sind – solche Dinge stören mich. Wenn die Gedanken des Dichters hingegen bedient werden, die Inszenierung ihnen folgt, dann bin ich zufrieden. Das hängt aber sicherlich auch mit meinem großen Respekt vor den großen Autoren und Dichtern zusammen.

Sie haben einmal über sich gesagt, dass Sie sich als Volksschauspieler sehen. Was macht Ihrer Meinung nach einen Volksschauspieler aus? Viele Menschen denken bei dieser Bezeichnung ja fälschlicherweise an Heimattheater und Komödienstadel.
Lamprecht: Entscheidend ist für mich vor allem die Volksnähe – und die habe ich mir erhalten. Ich kaufe noch heute bei „Aldi“ ein. Dort stehe ich dann wie alle anderen an der Kasse und habe Zeit für ein Schwätzchen mit den Leuten. Ich gucke dem Volk gerne aufs Maul, höre mir auch seine Sprache an und bin offen für seine Probleme. 

In Ihrer Autobiographie schreiben Sie, dass Sie ein gestörtes Verhältnis zu Theaterschauspielern haben, „denn auf der Bühne kann man mogeln. Die Kamera hingegen lässt sich nicht betrügen. Da muss du in bar bezahlen und kannst keine Verrechungsschecks hinlegen.“ Inwiefern kann man auf der Bühne mogeln und vor der Kamera nicht? Ich dachte bislang, es sei genau umgekehrt.
Lamprecht: Nein, nein, und das gilt übrigens auch fürs Kino. Wenn ich eine große Hauptrolle in einem Film spiele, dann muss ich auf den Punkt hundert-, zweihundertprozentig da sein, denn die Kamera hält gnadenlos auf mein Gesicht und meine Augen. Und selbst wenn man die Chance hat – heute gibt es das kaum noch – , jede Szene sechs Mal zu wiederholen, erfordert dieses Auf-den-Punkt-dasein eine immense Konzentration und ist sehr schwierig. Die Szene wird gedreht, ist im Kasten und kann dann nicht mehr korrigiert werden. Ich kann dagegen beim Theater vier oder sechs Wochen lang ausprobieren und wenn ich dabei an einem Tag müde oder nicht in Form bin, sage ich einfach: „Ist egal, dann mache ich es morgen eben besser.“ Die Kamera allerdings kann man nicht belügen.

Gibt es Regisseure oder Schauspielerkollegen, mit denen Sie gerne noch zusammengearbeitet hätten?
Lamprecht: Meine Regisseure sind fast alle tot. Ich hätte gerne noch einmal mit Fassbinder gearbeitet, das wäre schon noch ein Wunsch von mir gewesen – er war ja erst 37, als er starb. Sehnsucht nach einem ganz bestimmten Regisseur habe ich aber nicht.

Sie vertreten die Meinung, dass gerade in der Schauspielerbranche mittlerweile „viele Scharlatane, Klugscheißer und Grünschnäbel ohne einen Funken Lebenserfahrung“ unterwegs seien. Sehen Sie den Schauspielerberuf in Gefahr?
Lamprecht: Ein wenig schon. Es macht sich zunehmend eine Oberflächlichkeit breit, die in den letzten zehn Jahren mit dem Quotenbewusstsein regelrecht herangezüchtet wurde und die sich auch auf die Schauspieler überträgt. Die Qualität schwindet, der Profit steht zunehmend im Vordergrund, jeder macht mit. Im Grunde machen sich mittlerweile alle schuldig. Wenn man – so wie ich – aus der Reihe tanzt und die Dinge benennt, die einen ärgern, dann wird man sehr schnell als schwarzes Schaf abgestempelt und wird einfach nicht mehr besetzt. Oder es gibt Gerüchte nach dem Motto: „Den brauchst du erst gar nicht anzurufen, der ist unbequem und meckert nur. Der ist schwierig.“

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, gibt es dann ein Lebensjahrzehnt, das Ihnen besonders nachdrücklich in Erinnerung geblieben ist?
Lamprecht: Ich befürchte, es klingt wahnsinnig großmäulig, aber ich muss sagen, das ganze Leben. Ich habe alles sehr intensiv und bewusst erlebt. Es gibt auch kaum Dinge, die mir in der Erinnerung abhanden gekommen sind. Und alle Erinnerungen haben mich geprägt.

Glauben Sie, dass Sie durch das, was Sie in Ihrem Leben erlebt haben – den Krieg, den Amoklauf –, bewusster leben als andere Menschen?
Lamprecht: Ja. Wenn ich die Zeitung lese oder ab und zu ins Fernsehen reingucke, habe ich immer passend zu fast jeder Nachricht ein eigenes Erlebnis im Kopf und bin sofort betroffen. Es regt mich alles auf und ich muss mich beherrschen, dass ich nicht gleich wieder die Revolution ausrufe (lacht). Ich höre zum Beispiel von Menschen in Afrika, von Kindern, die durch Minen ihre Beine oder Arme verloren haben, deren Köpfe zertrümmert wurden. Und dann sehe ich, wenn ich bei mir aus dem Fenster gucke, unsere deutschen Kinder mit Vergnügen unter den Augen ihrer Mütter Kriegsspiele spielen.

Was macht Ihnen im Leben Freude? Was können Sie genießen?
Lamprecht: Musik! Ich kann mich sofort rhythmisch bewegen und tanzen. Das macht mir sehr viel Freude. Wenn ich gute Musik höre – und ich meine jetzt wirklich die einfachste, die sogenannte Unterhaltungsmusik, zum Beispiel von einem Swing-Orchester –, dann bin ich gar nicht mehr zu halten, dann bin ich mittendrin, habe Spaß. Ich kann mich aber auch an der Natur erfreuen. Es klingt vielleicht doof, aber ein schöner, alter Baum kann mich vor Freude zum Weinen bringen.

Gibt es einen glücklichsten Moment in Ihrem Leben?
Lamprecht: Nein. Der glücklichste Moment ist bei mir immer jener, wenn ich morgens aufwache, in die Küche gehe, mit meiner Lebensgefährtin frühstücke. Dann empfinde ich eine ganze starke Ruhe und Harmonie, die mich beruhigt und glücklich macht. Und ich bin immer wieder dankbar, dass ich das erleben darf, nach all den vielen schrecklichen Dingen, die mir in meinem Leben widerfahren sind. Ich genieße also vor allem die Zeit nach dem Aufstehen – bis das Telefon klingelt, dann ist die Ruhe vorbei (lacht). Ich gehe auch gerne morgens ins Schwimmbad zum Frühschwimmen mit den Rentnern. Das müsste ich eigentlich viel häufiger machen.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Lamprecht: Nein, das kann ich sofort sagen. Vor dem Tod selbst habe ich überhaupt keine Angst, ich habe nur diese schlimme Angst davor, dass man am Ende leidet, Schmerzen hat, regelrecht verrecken muss. Mich treiben auch die Situation und die Zustände in deutschen Altenheimen um – wenn es einen guten Stoff gäbe, würde ich mich damit gerne noch filmisch auseinandersetzen, da könnte ich mich noch einmal so richtig einbringen.

Im Jahr 2001 drehten Sie mit „Epsteins Nacht“ Ihre bislang letzte Filmproduktion. Werden Sie noch einmal vor die Kamera oder auf die Bühne zurückkehren?
Lamprecht: Ich wäre bereit. Ich warte noch auf die richtige, schöne Rolle oder den Regisseur, der sagt: „Ich muss da noch was mit dem Lamprecht machen, ehe er uns wegstirbt.“ Das muss dann aber wirklich ein Stoff mit einer besonderen Message sein. 

Sie schreiben in Ihrer Autobiographie über Ihre politische Einstellung: „Mein Denken und Fühlen ist eindeutig links gelagert. Das Leben in der Klasse, in der ich geboren wurde, in der ich aufgewachsen und mit der ich weiter verbunden bin, hat es geprägt. Du guckst von da unten genauer, wenn du dich nicht beugst. Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit muss es geben, dafür setze ich mich ein.“ Und tatsächlich haben Sie sich in früheren Wahlkämpfen für die SPD engagiert…
Lamprecht: Jetzt zuletzt bei der Bundestagswahl 2009 auch noch, das war sozusagen der letzte große Rettungsversuch (lacht).

Mit welchen Gefühlen beobachten Sie die Entwicklung und momentane Lage der SPD? Allerorten wird von der Krise der Sozialdemokratie gesprochen.
Lamprecht: Das ist auch vollkommen richtig, die Sozialdemokratie ist in der Krise – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Natürlich muss man versuchen, das alles wieder ins Lot zu kriegen. Man muss es leider sagen, aber unter Gerhard Schröder und Konsorten ist die deutsche Sozialdemokratie ziemlich heruntergewirtschaftet worden. Sie hat sich von der Basis entfernt. Wir müssen zusehen, dass wir sie wieder auf die Reihe bekommen. Ich sage das jetzt so einfach, weiß jedoch natürlich, dass ein weiter, schwieriger Weg vor uns liegt. Aber das, was Schwarz-Gelb mit Merkel und Westerwelle da momentan anstellt, verfolge ich mit noch größerem Misstrauen. Ich werde mich also auch weiterhin und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, bemühen, wieder eine vernünftige sozialdemokratische Partei auf die Beine zu stellen.

Sehen Sie in der Linkspartei eine Alternative zur SPD? Zumindest schreibt sich diese Partei auf die Fahnen, sich für Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit einzusetzen.
Lamprecht: Ich weiß nicht. Bei der Linkspartei bin ich immer ein bisschen misstrauisch, was aber vielleicht auch an meinem Alter liegt. Ich habe anlässlich des Mauerfall-Jubiläums im letzten November einen Fernsehbericht über die alte Frau Honecker gesehen, die mit ihren 82 Jahren – und viele Leute wissen das ja gar nicht – von Chile aus haargenau beobachtet, was hier bei uns in Deutschland politisch los ist. In dem Bericht wurde sie auch zu den letzten Bundestagswahlen befragt und sie ist fest überzeugt davon, dass die SED in Form der Linkspartei in einigen Jahren wieder ganz nach oben kommen wird. Sie nennt sogar Namen wie Gysi oder Lafontaine. Und mit diesem Wissen im Hinterkopf rückt der Gedanke, sich mit der Linken zu solidarisieren, für mich plötzlich wieder in ganz weite Ferne. 

Günter Lamprecht wird am 21. Januar 1930 in Berlin geboren. Ab 1953 nimmt er Schauspielstunden bei Else Bongers, es folgt eine Ausbildung an der Max-Reinhardt-Schule. Ein erstes Engagement erhält Lamprecht am Schauspielhaus Bochum. In den 1970ern mehr

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