Herr Netzer, die WM 2010 in Südafrika ist das große Finale Ihrer TV-Karriere als ARD-Experte. Wie ergeht es Ihnen mit diesem Abschied?
Netzer: Also, ich freue mich natürlich über die Bekundungen, die da sind „Ach nein, warum hörst du auf?“ und „Das ist doch alles ganz toll!“. Ich würde ja lügen, wenn mich das nicht berühren würde, dafür habe ich das ja auch 13 Jahre lang gemacht. Wenn es dann zum Schluss einen Erfolg hat, dann ist man doch sehr zufrieden. Gerhard Delling wird nun alleine laufen lernen müssen. Das wird ihm schwer genug fallen, und ich werde mir das mit großem Interesse anschauen. Das ist für ihn die Stunde der Wahrheit, wo er sich wirklich alleine beweisen muss. Dann muss ich wahrscheinlich bald ein ernstes Wort mit ihm reden, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass der noch alleine laufen kann.
Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie entschieden haben: „Jetzt mache ich Schluss?“
Netzer: Der Gedanke ist irgendwann entstanden und hat sich durch zusätzliche Überlegungen verstärkt, vor allem durch Gespräche mit meiner Frau. Sie ist seit über 30 Jahren ein erstklassiger Ratgeber für mich. Der frauliche Instinkt hat bei dieser Entscheidung schon eine große Rolle gespielt. Die Reaktionen auf der Straße, die gesagt haben „Nein Nein, das soll nicht sein. Mach das nicht!“, waren da eher kontraproduktiv. Aber ich habe es in meinen anderen Karrieren auch so gemacht, dass ich die Leute überrascht habe, indem ich zu einem Zeitpunkt aufgehört habe, an dem keiner damit gerechnet hat. Das hat vor allem mit mir persönlich und meinem Charakter zu tun. Ich kann den Fußball nicht neu erfinden. Ich müsste neue Wortakrobatiken erfinden, um den Fußball wirklich aktuell darzustellen – das kann ich nicht. Ich bin kein Mensch, mit dem man eine Show machen kann. Ich würde mich auch nicht dafür hergeben. Deswegen gibt es eine kleine Gefahr der Wiederholung und dass die Leute irgendwann sagen; „Der sagt ja immer dasselbe!“ Ich finde, es ist genug gesagt.
Inwiefern haben Sie denn als Kommentator Seiten am Fußball erblickt, die Sie als aktiver Spieler und Manager so vorher nicht gesehen haben?
Netzer: Ich will nicht sagen, dass ich den Fußball anders gesehen habe, aber die Tätigkeit als Fernsehmann ist eine völlig neue Facette meines Lebens gewesen. Ich bin kein Fernseh-Profi. Nach wie vor nicht. Vor der Kamera kenne ich mich nicht besonders gut aus. Wenn man mir sagen würde – und das hat man oft genug gemacht – dass ich jetzt doch lachen und ein freundlicheres Gesicht machen sollte, dann hat das nie funktioniert. Ich bin so konzentriert auf meine Tätigkeit, dass ich froh bin, wenn ich ein vernünftiges Wort heraus bringe, was im besten Fall auch ein bisschen bleibend ist – das kann nicht verbunden sein mit einem Grinsen oder einem Lachen. Deswegen bin ich nie ein Fernsehmann geworden, der anpassungsfähig ist. Es gibt viele Fernsehmacher, die vor der Kamera erscheinen und zu anderen Persönlichkeiten mutieren – so bin ich nicht. Daraus resultiert ja auch letztlich der Erfolg. Ich habe es geschafft, immer ich selbst zu bleiben, eine Authentizität auszustrahlen, die selten ist in diesem Geschäft. Man konnte es mögen oder nicht mögen – Gott sei Dank hat man es gemocht.
Auch in Ihren Kommentaren nach dem Spiel haben Sie nie ein Blatt vor den Mund genommen. Diese Geradlinigkeit, dieses „sich nicht verbiegen lassen“ – das scheint ein bisschen Ihre Mentalität zu sein, oder?
Netzer: Ich habe immer versucht, eine klare Sprache zu pflegen. Wenn etwas schlecht ist, dann sage ich auch, dass es schlecht ist. Der Zuschauer zu Hause will von mir kein anderes Spiel, kein besseres Spiel analysiert kriegen, als er selbst gesehen hat. Wenn es schlecht war, möchte er das von einem so genannten „Experten“ auch hören. Dafür hatte ich immer ein Gespür, das musste ich mir nicht aneignen. Ich habe die Fakten immer klar auf den Tisch gelegt. Ich scheue mich auch nicht davor, unangenehme Dinge anzusprechen. Damit müssen die Menschen dann umgehen können. Ich wage mich an Superstars ran, von denen ich eben mehr verlange als von anderen Spielern. Wenn Superstars ihre Leistung nicht bringen, ist das immer ein Grund sie sachlich und fachlich zu kritisieren. Ich werde aber nie beleidigend.
Hat Ihnen eigentlich manchmal der Respekt von Gerhard Delling gegenüber Ihrer eigenen Leistung in Ihrer aktiven Zeit als Spieler gefehlt?
Netzer: Das ist eine permanente Unverschämtheit, die er sich seit dieser ganzen Zeit leistet. Ich bin irgendwann dazu übergegangen, dass ich ihn natürlich als Ignoranten erkannt habe. Er ist nicht berechtigt in dieser Form über meine ehemaligen Leistungen zu sprechen. Da suche ich mir kompetentere Partner aus. Das kann er einfach nicht beurteilen und damit ist das auch erledigt. Mich trifft das aber auch nicht so sehr.
An welche Momente mit Gerhard Delling erinnern Sie sich besonders gerne? In welchen Momenten waren Sie ein gutes Team?
Netzer: Ich bin nicht besonders gut auf diesem Sektor des Erinnerns. Aber diese Episode mit Rudi Völler nach dem Länderspiel gegen Island im September 2003 ist schon ein Highlight gewesen. Nach einem so fürchterlichen Spiel einen so wütenden Trainer zu erleben, der ja völlig außer Rand und Band war, stand ich dem Gerhard Delling natürlich als Kumpel zur Seite, weil ich mich ähnlich angegriffen gefühlt habe. Ich finde uns in diesem Moment immer noch großartig. Das sage ich wirklich ganz, ganz selten, aber da können wir ruhig ein wenig stolz auf uns sein. Es war für uns völlig unvorhersehbar, aber ich glaube da haben wir die richtige Reaktion gezeigt. Wir sind äußerst souverän, ruhig und sachlich mit diesem Wutausbruch von Völler umgegangen. Kernpunkt für mich war, dass ich mir von Herrn Völler nicht vorschreiben lassen muss, welche Ansprüche ich an die Nationalmannschaft stelle. Wenn man auf Island ein solches Spiel abliefert, ist das natürlich ein Anlass für Kritik. Das war schon etwas Besonderes im Fernsehen. Der Streit an sich ist aber längst erledigt und vergessen.
Gab es denn Momente, in denen Sie auch mal etwas runtergeschluckt haben, weil sonst Ihre Wut zu groß gewesen wäre, um sie nach außen zu tragen?
Netzer: Nein, die gab es eigentlich nicht. Ich bin kein Mensch, der cholerisch reagiert, der Wut herunterschlucken muss. Ich bin eher der ruhigere Typ, der Dinge auf andere Art und Weise verarbeitet, aber dann natürlich auch sagt.
Kommen wir mal zur WM 2010 in Südafrika. Was erhoffen Sie sich von diesem Turnier?
Netzer: Ich bezeichne mich als Fan der deutschen Nationalmannschaft, wenn es erlaubt ist. Das darf sich natürlich nicht in der Berichterstattung wieder finden, denn das wäre nicht gut – dann hätte ich meinen Job, meine Tätigkeit verfehlt. Natürlich wünscht man sich, die eigene Mannschaft bis ins Endspiel begleiten zu können. Das wäre das Schönste überhaupt! Ich sitze ja nicht da oben und freue mich über jede Kritik, die ich anbringen kann, sondern bin nach wie vor im Herzen auch Fußballer und freue mich über jede gute Leistung. Ich freue mich, wenn ich jemanden loben kann. Das sind Dinge, die ich am liebsten tue. Aber ich scheue mich natürlich nicht, wenn das nicht so funktionieren sollte, das Gegenteil zu tun.
Ich habe es geschafft, immer ich selbst zu bleiben, eine Authentizität auszustrahlen, die selten ist im TV-Geschäft.
Welche Art von Fußball würden Sie sich bei der WM wünschen?
Netzer: Wir haben mit Brasilien, Spanien und Argentinien in erster Linie natürlich Mannschaften, die den schönen und ästhetischen Fußball favorisieren. Sie haben in ihren Reihen viele Helden, zum Beispiel Argentinien mit Lionel Messi, den ich seit vielen Jahren für den Größten halte. Da werden schon Persönlichkeiten auf dem Platz stehen, die alleine schon das Eintrittsgeld wert sind. Es ist wunderschön zu sehen, was die leisten können. Diese Leistung erwarte ich dann aber auch. Darüber hinaus wird es interessant sein zu sehen, wie andere Mannschaften mit diesem Turnier umgehen, wie die Afrikaner mit der ersten WM in ihrem eigenen Land umgehen, ob der Druck zu groß ist, und ob sie wirklich zum ersten Mal eine Rolle spielen. Das wird alles sehr spannend.
Wie viel Zeit wird Ihnen neben der Arbeit bleiben, um dieses Land zu entdecken?
Netzer: Ich war schon einmal in Südafrika, bei der Auslosung in Durban, und da blieb sehr wenig Zeit. In der Vorrunde wird sowieso sehr wenig Zeit bleiben, weil wir fast jeden Tag auf Sendung sind. Danach wird es etwas ruhiger und da würde schon viel Zeit bleiben, aber ich weiß nicht, ob wir das dann wirklich wahrnehmen. Es gibt ja schon ein paar Verhaltensregeln, die man beachten muss. Aber ich hatte schon als Spieler immer viel Zeit, um Sachen zu entdecken, habe das aber schon damals sehr selten wahrgenommen. Man ist wegen dem Fußball da. Alles andere spielt dann eben eine untergeordnete Rolle. So wird das auch in Südafrika sein.
Ist der Zeitpunkt, diese WM in Südafrika auszurichten der richtige, oder hätte man, vor allem im Bezug auf die Sicherheit, noch warten sollen?
Netzer: Nein, die hätten uns ja fast die WM 2006 vor der Nase weggeschnappt (lacht). Afrika musste diese WM kriegen. Das ist überfällig gewesen. Ich denke, die Art und Weise, wie sie es bewältigen werden, wird viele überraschen. Da bin ich ziemlich sicher. Sie haben Sportstätten, die überwältigend sind. Natürlich fehlt es an dem einen oder anderen, aber man muss mit diesen Begebenheiten leben. Das muss man auch als Tourist, wenn man nach Südafrika fliegt. Da wird man auch keine heimischen Zustände vorfinden, aber deshalb muss es ja nicht schlechter sein. So eine WM wie sie die Deutschen auf die Beine gestellt haben, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Das war einmalig. Aber ich bin sicher, die Südafrikaner werden eine gute WM hinlegen, und das Thema Sicherheit liegt ihnen am meisten am Herzen. Die können sich gar nicht erlauben, dass da etwas passiert, dass man dann sagen könnte, dass Südafrika wirklich nicht sicher ist. Das wäre ein Super-GAU für die Tourismusbranche.
Wenn Sie den Fußball aus Ihrer aktiven Zeit in den 60er und 70er Jahren mit dem heutigen vergleichen- was hat sich geändert? Könnten Sie sich vorstellen, unter den heutigen Bedingungen noch auf dem Platz zu stehen?
Netzer: Zu unserer Zeit ging es wirklich hart zur Sache. Mein Gott noch mal (lacht). Zum ersten gab es diese ganzen Regeln nicht, und es gab Spieler, die eine Härte an den Tag gelegt haben, dass das für uns schon sehr gefährlich war: Rehhagel, Klimaschefski, Piontek, Höttges – diese Liste könnte jeder von uns ohne weiteres auf 50 Namen vervollständigen. Das ist heute bei weitem nicht mehr so. Die Fouls, die zu unserer Zeit passiert sind, die würden heute für halbjährige Sperren sorgen (lacht). Das war unglaublich! Aber all die Stars von früher, auch ich, würden in der heutigen Zeit zurechtgekommen. Doch Franz Beckenbauer und ich haben beide unabhängig voneinander immer gesagt, dass wir trotzdem mit den heutigen Spielern nicht tauschen möchten. Das Geld, dass die heute verdienen, würden wir natürlich gerne mitnehmen, aber die erleben Fußball heute ganz anders als wir damals. Wir haben noch ruhig leben können. Heute ist alles so transparent, alles so wichtig, die Belastung für die Spieler ist so unglaublich groß. Das ist schon eine andere Welt. Vom reinen „Fußball erleben“ ist unsere Zeit schon die bessere gewesen. Bei uns ging es schon noch mehr um den Sport an sich.
Sie haben das Thema Geld angesprochen. Mittlerweile werden gigantische Ablösesummen gezahlt. Real Madrid holte Cristiano Ronaldo im Juni 2009 für 94 Millionen Euro von Manchester United. Wie bewerten Sie das?
Netzer: Unsere Fußball-Welt ist krank geworden. Unsere Welt ist schon krank, aber die Fußball-Welt ist umso kränker. Das sind unvernünftige Dinge, die da passieren. Einige wenige Leute halten sich den Fußball als Spielzeug und lassen ihn wieder fallen, wenn sie des Spielzeugs überdrüssig geworden sind. Das sind Dinge, die nicht gesund sind. Die basieren ja nicht auf einer Ertragskraft. Wenn der Mäzen glaubt, irgendwo etwas machen zu müssen, was sich der Verein nicht leisten kann, dann bezahlt er es eben aus der eigenen Tasche. Da gibt es auch einen Unterschied zwischen den Vereinen, die seriös handeln, zum Beispiel der FC Bayern München, die dann aber gegenüber den englischen und südeuropäischen Vereinen einen Wettbewerbsnachteil haben. Diese Vereine geben Gelder aus, die sie nicht haben.
Nach wie vor gibt es im Fußballgeschäft Tabus, zum Beispiel das Thema Depressionen – durch den Tod von Robert Enke wieder ein Thema – oder Homosexualität. Wird man sich dieser Tabus jemals entledigen können?
Netzer: Nein, das kann ich im Augenblick nicht sehen. Es gibt sicher Versuche, gerade beim Thema Homosexualität, dies aufzuarbeiten, aber die Zeit ist nicht reif dafür. Das ist einfach so. Das würde Repressalien innerhalb der Mannschaft hervorrufen, aber vor allem auch bei den Fans. In der Außenwirkung würde das sehr negative Folgen haben, wenn sich ein Spieler als homosexuell outen würde. Man kann das nicht bewältigen. Man hat keine Ansatzpunkte. Das ist traurig, aber es ist so. Einer müsste den Anfang machen, aber die Angst vor den Konsequenzen ist zu groß.
Zum Schluss die Frage: Können Sie sich eigentlich selbst gut im Fernsehen betrachten?
Netzer: Ich kann mich im Fernsehen nicht sehen. Das gab’s schon als Spieler, dass ich Mühe hatte, mich in Interviews zu sehen. Ich kann das nicht haben. Das geht ja auch vielen Schauspielern so. Ich habe das auch nie abstellen können.
Warum genau mögen Sie das nicht?
Netzer: Na, weil ich mich nicht so doll finde. Ich kann das nicht nachvollziehen, dass die Leute mich so mögen. Das ist Teil meines Charakters. Ich selber finde mich nicht sehr sehenswert, eher hörenswert. Ich kokettiere nicht damit. Das ist wirklich gelebte Praxis.