Herr Dr. Beckstein, in Österreich forderte das „Bürgerforum 2020“ die Einführung eines „PolitikAnstandsKodex“, der aus zehn Punkten „wider die Verluderung politischer Sitten“ besteht. Wäre das nicht auch etwas für Deutschland?
Wenn die christlichen Gebote, die ja nur aus 103 Wörtern bestehen, besser bekannt wären und sich alle daran halten würden, bräuchten wir keine Gebote „wider die Verluderung politischer Sitten“.
In Ihrem Buch "Die Zehn Gebote – Anspruch und Herausforderung“ setzen Sie die biblischen Gebote in Bezug zum politischen Tagesgeschäft. Können Sie ein Beispiel nennen, wo Sie aktuell eines der Zehn Gebote verletzt sehen?
„Du sollst nicht stehlen“ zum Beispiel. Wenn einer durch Zocken in der Finanzwelt in kürzester Zeit Milliarden verdient, ist das eine Form von Diebstahl. Dass man ordentlich verdient, ist völlig in Ordnung. Aber es darf nicht alle Maßstäbe verletzten. Wir haben eine soziale Verpflichtung und brauchen eine seriöse, dem Menschen dienende Finanzwirtschaft.
Fällt die milliardenschweren Krise der BayernLB während Ihrer Amtszeit nicht auch unter das Gebot „Du sollst nicht stehlen“? Das hat den Steuerzahler 3,7 Milliarden Euro gekostet.
Der Fall belastet mich natürlich persönlich, aber nicht juristisch. Ich habe eine extra Abteilung von 6-8 Personen gegründet, Bankwissenschaftler, Betriebswirte, Volkswirte, die nur die Landesbank kontrolliert haben. Alle haben die Maßnahmen empfohlen, selbst die Wirtschaftsprüfer. Ich habe nicht leichtfertig zugestimmt. Umso mehr ärgert es mich, dass in meinem Zuständigkeitsbereich Milliarden verloren gegangen sind, während wir hier für viel kleinere Beträge mühsam dieses und jenes eingespart haben. Trotzdem haben wir immer noch den vorbildlichsten Haushalt in ganz Deutschland.
Demut gehört nicht unbedingt zum Rüstzeug eines Politikers. Das 9. Gebot lautet „Du sollst nicht begehren deines Nächsten…“ Amt?
(lacht) Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, auf die CSU-Sitzung in Kreuth. Ein Wettbewerb ist nichts unchristliches, und in der Politik geht es nicht ausschließlich um Kenntnisse oder Intelligenz, sondern auch um die Frage: Wer hat die größeren Bataillone! Wir haben fair gekämpft, Mann um Mann, mit jedem gesprochen. Edmund Stoiber hat mir selbst angeboten, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen oder mich mit Erwin Huber zu einigen. Ich weiß, dass Stoiber das in seiner Erinnerung anders sieht.
Edmund Stoiber hat von Putsch gesprochen…
Auch ein Christ darf ehrgeizig sein. Aber man darf den anderen nicht verleumden, ihm Sexfallen stellen oder Ähnliches.
Wie in der Affäre Dominique Strauss-Kahn?
Na, was man so in den Medien liest. Ich habe nicht die größte Sympathie für das Verhalten von DSK. Auch Silvio Berlusconi ist mir wesensfremd.
1971 haben zwei Prostituierte Franz-Joseph Strauß in New York seine Brieftasche samt Führerschein und Pass geklaut…
Ich will mich ja auch nicht als Heiligen darstellen, aber gerade das 6. Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ habe ich oft als große Hilfe empfunden. Ich bin jetzt 38 Jahre verheiratet, und natürlich hat es Höhen und Tiefen gegeben. Ich habe eine sehr selbstbewusste Frau, die einem auch harsch ihre Meinung sagt. Da ärgert man sich manchmal und denkt, ein bisschen weniger Kritik und mehr Bewunderung wäre auch ganz schön.
Fischer, Müntefering, Wulff, die Liste der Kollegen mit viel jüngeren Ehefrauen ist lang…
…die einen anhimmeln. Ich will das gar nicht beurteilen – das steht mir nicht zu. Ich kann für mich nur sagen: Es ist ein wunderbares Geschenk, eine Partnerin zu haben, die einem ehrlich auch Kritik sagt und nicht nach dem Mund redet. Es gibt viele Menschen, die einem ins Gesicht sagen „Du warst der Tollste“ und sich dann umdrehen und über einen schimpfen. Bei meiner Frau und bei echten Freunden kann ich mir sicher sein: Was die denken, das erfahre ich auch – und zwar von ihnen selbst.
Früher hätte Horst Seehofer mit einem unehelichen Kind nicht mehr Ministerpräsident werden können. Sind Sie froh, dass die Moral nicht mehr von starren Religionsvorschriften abhängig ist?
Ich bin froh, dass diese Scheinheiligkeit nicht mehr existiert. Dass ganz private Dinge in die Öffentlichkeit gezerrt und als Kampfmittel verwendet werden, widerstrebt mir.
Wären Sie manchmal gerne katholisch, um zur Beichte gehen zu können?
Ich könnte mir nicht vorstellen, zu einem noch so verschwiegenen Priester zu gehen um meine Untaten zu beichten. Vor Gott in einem stillen Nachdenken um Vergebung zu bitten, ist mir wichtig, aber die Ohrenbeichte gegenüber einer Person ist für mich als Protestant schwer verständlich.
In der Politik geht es nicht ausschließlich um Kenntnisse oder Intelligenz, sondern auch um die Frage: Wer hat die größeren Bataillone!
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Christen und Muslime nicht an denselben Gott glauben, können Sie das erläutern?
Ich glaube, dass der dreieinige Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist, ein anderer Gott ist als Allah und dass mein christlicher Glaube die Wahrheit ist. Gleichzeitig gestehe ich aber dem anderen seine eigene Überzeugung zu. Toleranz hört allerdings auf, wo islamische Fanatiker mit Gewalt vorgehen.
Stehen Islam und Demokratie im Widerspruch?
In vielen Teilen der Welt stehen Islam und Demokratie im Gegensatz, aber nicht überall. In der Türkei findet man zum Glück einen moderaten, toleranten, rechtsstaatlichen Islam, und ich betone, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime keine Probleme mit der Demokratie hat. Aber man muss wachsam sein, weil es immer Fanatiker gibt.
Halten Sie es für richtig, wenn Muslime mit Hinweis auf den Glauben Kopftuch tragen oder den Schwimmunterricht verweigern?
Unser Recht ist sehr großzügig, es erlaubt das Tragen des Kopftuches bei Schülern oder Angestellten, allerdings nicht bei Polizisten, Richtern oder Lehrern. Wir akzeptieren, wenn Mädchen aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen. Trotzdem heißt Integration, dass sich Menschen, die aus einem anderen Teil der Welt kommen, in unsere Kultur einfügen. Unser Frauenbild muss das Leitbild sein.
Wie stehen Sie zur Minarett-Frage?
Wir haben schon bei Privatbauten strenge Vorschriften für Dachneigungen oder Fenstergestaltung. Minarette müssen sich in die Umgebung einfügen. Ein Minarett in Oberammergau halte ich für schwierig, aber in Fürth, wo sowieso schon Mobilfunkmasten im nahe gelegenen Industriegelände waren, habe ich zugestimmt.
Befürworter des Muezzin-Rufes bringen immer wieder das Argument des Glockenläutens…
Es gibt schon erhebliche Widerstände beim Glockenläuten, zu laut, zu früh usw. Der Muezzin-Ruf ist aber kein neutraler Klang, sondern der Ruf „Es gibt keinen anderen Gott als Allah“, das kann als Provokation verstanden werden. Ich war selbst über 35 Mal in der Türkei und habe den Muezzin oft gehört. In Deutschland tun Muslime gut daran, auf Gläubige und Ungläubige Rücksicht zu nehmen.
Wenn wir über Kirche und Glaube sprechen: Sollte es einen christlichen Politiker nachdenklich stimmen, dass Deutschland zu den größten waffenexportierenden Ländern gehört?
Der Export hat auch mit der Frage der Sicherheitspolitik zu tun. Ein Nachbarland muss sich gegen einen aggressiven Iran verteidigen können. Der NATO-Doppelbeschluss, die Nachrüstung mit Pershing, war die erfolgreichste Friedensinitiative. Ich weiß selbst von Gesprächen mit Michail Gorbatschow, dass die UdSSR nur deshalb zu Verhandlungen bereit war, weil sie gemerkt hat, dass der Westen nicht mit Hochrüsten in die Knie zu zwingen ist. Trotzdem können Waffenexporte problematisch sein. Aber man kann auch schuldig werden, wenn man Waffengewalt nicht anwendet, so hat es Deutschland bei der Libyen-Frage erlebt.
Pazifismus und Umwelt sind zwei große Themen der Grünen…
Bayern war das erste Land, das ein Umweltministerium eingeführt hat. Aber Schöpfung bewahren bezieht sich nicht nur auf Grashalm und Heuschrecke, sondern auch auf ungeborene Kinder. Ich finde es furchtbar, dass in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, jährlich mehr als 100.000 Kinder abgetrieben werden und viele nur, weil die Umstände gerade nicht passen. Meine Eltern hätten 1943 viel mehr Grund gehabt, mich abzutreiben, wir waren ausgebombt, die Zukunftsaussichten waren fraglich.
Sind die Grünen die besseren Christen?
Überhaupt nicht! Pazifismus ist nicht automatisch richtig. Ich war auf Kirchentagen, wo mit lila Schals gegen die Nachrüstung protestiert wurde, aber die Russen haben nicht wegen der lila Schals ihre Atomwaffen verschrottet! Die erfolgreichsten Friedensstifter waren Helmut Kohl und Helmut Schmidt.
Kennen Sie das Buch „Leben oder gelebt werden“ von Walter Kohl?
Ja, natürlich. Ich habe auch mit meinen Kindern darüber gesprochen. Sie sind sich nicht unterdrückt vorgekommen, so wie das auf eine tragische Weise in der Familie Kohl der Fall gewesen ist.
Beneiden Sie Helmut Kohl und Helmut Schmidt? Die sind in jetzt in einem Alter, in dem man ihnen alles glaubt…
(Lacht) Ich stelle mit Erstaunen fest, dass Beliebtheitswerte automatisch zunehmen, wenn man nicht mehr im Amt ist. Vorher ärgert man sich wahnsinnig über jeden bösen Kommentar, dabei ist Kritik der Opposition und der Medien wichtig, damit man sich nicht für den Allerhöchsten hält. Als Pensionist im Lehnstuhl wird das Leben schon einfacher – denke ich mir zumindest, denn ich bin ja nach wie vor sehr aktiv.
„Der beste Platz für den Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.“, ein schönes Loriot-Zitat, nicht wahr?
(lacht) Eine feine Ironisierung von Gefühlen, die ich gut kenne!
[Hinweis: Das Interview entstand bereits im November 2011]