Herr Sinopoli, Sie gelten als einer der großen Strauss-Dirigenten. Was fasziniert Sie an Richard Strauss?
Guiseppe Sinopoli: Angefangen hat es mit einer Provokation von Adorno. Richard Strauss sei regressiv und die Zweite Wiener Schule progressiv. Wenn ich es heute betrachte, sehe ich Schönberg als den Regressiven und Strauss als den Progressiven. Strauss ist ein Postmoderner. Er verwendet das tonale Material wie ein historisches Objekt, das aber, wenn man es in die Hand nimmt, etwas ausstrahlt in unsere Zeit. – Mit der Dodekaphonik versucht Schönberg, neue Wege zu gehen, aber es bleibt ein altes System, das modern erscheinen will. Was herauskommt bei der Zwölftonmusik hat weniger Aussage als Richard Strauss.
Strauss wird immer wieder Opportunismus gegenüber den Machthabern im Dritten Reich vorgeworfen. Ist das eine Frage, die auch Sie beschäftigt?
Sinopoli: Mir kommt eine präzise Situation in den Sinn: „Friedenstag“. Stefan Zweig schreibt „Die schweigsame Frau“. Hitler lässt wissen, dass bei der Dresdner Uraufführung kein jüdischer Name auf dem Plakat erscheinen darf. Strauss entscheidet, Zweigs Name stehen zu lassen. Er wird als Präsident der Reichsmusikkammer entlassen, schreibt einen Brief an Hitler. Hitler antwortet nicht, aber lässt durch andere wissen, dass Strauss vorsichtig sein müsse, da seine Schwiegertochter Jüdin war.
Strauss hat trotzdem weiter mit Zweig gearbeitet. Und dass Josef Gregor „Friedenstag“ geschrieben hat und nicht Zweig, war Zweigs Entscheidung, der nicht mehr in einem Land arbeiten wollte, in dem sein Name nicht erschienen durfte. Aber Strauss war bereit, mit ihm weiterzuarbeiten. Und Zweig hat die Arbeit von Gregor bis zum Schluss überwacht. Gerade diese Geschichte beweist, dass Strauss nicht opportunistisch war. Finden Sie diese Fragen denn grundsätzlich wichtig? Solti hat einmal in Bezug auf Wagner gesagt „Für mich ist jeder, der eine derartige Schönheit erschafft, unabhängig von seiner politischen Gesinnung, ein musikalisches Genie.“
Sinopoli: Das ist eine zu billige Antwort. Wagners Musik ist nicht antisemitisch. Und wenn ich sagen darf, was ich denke: Die kreative Weise von Wagner ist typisch für andere jüdische Geister, die sich in Deutschland entwickelt haben, wie Marx etwa oder Einstein. Diese typischen kreativen, revolutionären Prozesse haben eigentlich nur die deutschen Juden gehabt. Wagners Musik ist nicht antisemitisch. Nur er als Mensch war Opportunist. Und um damals Vorteile zu haben, war es wichtig, antisemitisch zu sein. Die Kreativität war etwas, was er in seinem Zimmer gemacht hat, wo er die letzten Schicksale der Menschen analysiert hat. Das hat viel zu tun mit einem anderen Juden, der in der deutschen Kultur ganz wesentlich war: Siegmund Freud. Die Beziehungen zwischen Wagner und Freud sind viel enger und stärker, als man glaubt. Wenn man den Ring durchgeht, sieht man, dass Freud nur ein kleiner Schüler von Wagner war. Es gibt keine Theorie von Freud, die nicht im Wagner-System zu lesen ist. Sogar die Wölfe-Theorie. Fragen Sie sich nur, warum eigentlich Siegmund und Sieglinde mit Wölfen zu tun haben, dann öffnen sich Welten.
Die Dresdner Staatskapelle gilt als das Strauss-Orchester überhaupt. Was bedeutet das?
Sinopoli: Ich habe Strauss mit den Wiener Philharmonikern und mit der Staatskapelle gemacht. Man kann nicht sagen, dass das eine Orchester besser sei als das andere. Die Wiener bringen einen Klang in Strauss ein, der durch ihre Geschichte geprägt ist. Alles was Wien ist, ist noch drin: Mahler, Bruckner, Beethoven. Die Dresdner dagegen tragen spezifisch nur den Strauss mit, unberührt von anderen Elementen. Sie spielen ihn so, wie Strauss das wollte. Strauss war dauernd hier und hat dauernd dirigiert, das ist eine direkte Tradition. Meine große Freude ist, gerade mit diesen beiden Orchestern Strauss zu musizieren. Mich beeinflusst das sehr. Ein Dirigent kann sich hinstellen und sagen, ihr müsst es so machen. Ich kann nicht gegen die Geschichte dirigieren.
War es Liebe auf den ersten Blick zwischen Ihnen und dem Orchester, bei Ihrer ersten Begegnung 1987 im Tonstudio?
Sinopoli: Es war ein starkes Treffen. Damals stand noch die Mauer, und für das Orchester war es undenkbar, dass ich nach Dresden kommen könnte. Für mich war es denkbar. Dann fiel die Mauer, und das Orchester war frei zu entscheiden, welchen Dirigenten es haben wollte. Und ich bin froh, dass sie auf mich gekommen sind. Es war ein schwerer Anfang, mit allen Problemen, die da waren: psychologisch, ökonomisch, politisch, gesellschaftlich, West-Ost, das Stasi-Problem. Wir sind da zusammen mit Ruhe durchgegangen, mit Würde, mit einem immer weiter wachsenden Vertrauen, das sich jetzt zu einem ganz tolles Gefühl entwickelt hat. Es ist für mich eine große Freude, ein Orchester zu haben, mit dem ich nicht nur musizieren kann, sondern auch eine starke menschliche Bindung habe.
Und das Publikum?
Sinopoli: Ein ganz tolles Publikum. Niemand geht raus, bevor der Konzertmeister nicht seinen Platz verlassen hat. Das ist toll.
Sie haben auch bei Maderna studiert. Wieweit hat sie das bei der Interpretation der Romantiker beeinflusst?
Sinopoli: Für meine Interpretation der Romantik war meine Beziehung zur deutschen Philosophie und zur deutschen Literatur wichtig. Aber nicht die zeitgenössische Musik, gar nicht. Mein Strauss-Dirigieren ist durch meine Beschäftigung mit Hofmannsthal und die ganze Jugendstilkunst und -literatur beeinflusst.
Viele Strauss-Opern werden ja mit Strichen gespielt. Was halten sie davon, Strauss-Opern ungekürzt zu spielen?
Sinopoli: Gar nichts. Die Striche sind von Strauss autorisiert, und man sollte sie auch so belassen.
Gibt es Strauss-Einspielungen von Kollegen, die sie empfehlen würden?
Sinopoli: Karl Böhm – für Strauss! Und die gelungenen Stellen bei Mitropoulos. Die „Elektra“ mit den Wiener Philharmonikern ist phantastisch, was Ausdruck betrifft, was Emotion betrifft, aber es gibt sehr viele Stellen, die durcheinander sind. Schade.
Strauss wollte sich ja eigentlich dem Komponieren widmen, und hat später nur noch dirigiert, um Geld zu verdienen. Auch Sie sind Komponist. Werden auch Sie sich irgendwann vom Dirigentenpult zurückziehen?
Sinopoli: Ich habe das nicht für Geld gemacht. Ich habe das Geld, das ich mit dem Dirigieren verdient habe, in eine Sammlung alter Kunst gesteckt, die später in ein Museum gehen wird. Dirigieren ist ganz wichtig, aber nicht zu wichtig. Man kriegt mich nicht so schnell los vom Dirigieren.
Aber den Drang zum Komponieren spüren Sie im Moment nicht?
Sinopoli: Ich beschäftige mich jetzt erst einmal mit der Ägyptologie, und dann wird man weitersehen. Ich habe gerade meine Doktorarbeit geschrieben – über die Rekonstruktion zweier Räume in einem Palast in Ninive. Jetzt muss ich noch zwei Prüfungen ablegen. Vielleicht werde ich wieder komponieren, wenn ich in Ägypten bin.
Und sie bleiben weiterhin in Dresden?
Sinopoli: Bis 2007, mindestens.