Hélène Grimaud

Sobald man auf der Bühne ist, gibt es keine Entschuldigung mehr – für gar nichts.

Pianistin Hélène Grimaud über Konzerterfahrungen als Zuhörerin, die Schwierigkeit, Jugendliche für die Klassik zu begeistern, wie sie zur Buch-Autorin wurde und warum sie auch an schlechten Tagen ein Konzert nicht absagen würde

Hélène Grimaud

© Kasskara/Deutsche Grammophon

Frau Grimaud, gehen Sie eigentlich selbst gern ins Konzert?
Grimaud: Klar, wenn ich Zeit habe, absolut gern. Nur leider kommt das nicht so oft vor , wie ich es gerne hätte. Als Künstler ist man halt sehr viel unterwegs und wenn man in eine Stadt kommt, ist man ja oft selbst derjenige, der am Abend das Konzert spielen muss. Aber manchmal kommt es auch vor, dass am Tag vorher ein Kollege auftritt, dann versuche ich natürlich hinzugehen.

Auch als Inspiration?
Grimaud: Sicher. Meine zweite CD zum Beispiel, auf der ich Chopin und Rachmaninow gespielt habe, die hätte es nie gegeben, wenn ich nicht in einem Konzert von Maurizio Pollini gewesen wäre. Da können erstaunliche Dinge bei herauskommen, manchmal hörst du einen Kollegen und kommst völlig erfrischt aus dem Konzert, inspiriert für deine eigene Arbeit. Wenn das passiert, ist das wie ein Geschenk.

Gibt es da besondere Details, auf die Sie bei Kollegen achten?
Grimaud: Nein, ich gehe da einfach mit einem offenen Herz rein, um das zu empfangen was der Künstler aussendet. Natürlich kommst du nicht davon los, beim Zuhören auch Profi zu sein. Aber ich versuche dem Künstler gegenüber völlig aufgeschlossen zu sein, ohne an persönliche Erfahrungen oder Vorlieben zu denken. Andererseits hilft es auch, dass du weißt, wie so ein Konzert funktioniert, das lenkt dich auf die Dinge, die wirklich wichtig sind: was der Künstler aussagt, was er kommuniziert, seine Integrität und seine Großzügigkeit in der Kommunikation.

Und wenn ein Kollege mal keinen so guten Tag erwischt hat?
Grimaud: Der Fakt, dass es für mich oft eine Inspiration ist, hat nichts damit zu tun, ob der Musiker einen besonders guten Tag hat, oder nicht. Falls nicht, bedeutet das ja nicht automatisch, dass sich die wichtigen Dinge nicht auf das Publikum übertragen. Da ist dann vielleicht die Form nicht so makellos, wie sie sein könnte – aber das ist eigentlich unwichtig und kümmert mich auch überhaupt nicht. Weil, einige der schönsten Konzerte die ich je gehört habe, waren gleichzeitig die unsaubersten. Und das ist jedem passiert, ob nun Pollini, Arrau, Gilels, Richter, Horowitz oder Serkin. Wenn die Leute frei sind, wenn sie ein Risiko eingehen, dann sind das die wunderbarsten Konzerte, wenn jemand wirklich auf Messers Schneide balanciert. Natürlich passiert dann auch mal der ein oder andere Fehler, shit happens. Aber das finde ich viel faszinierender, als einen Interpreten, der auf Nummer sicher geht, alles kontrolliert, mit seiner Technik beeindruckt, musikalisch überzeugt – aber ich am Ende nichts spüre; wo mich jemand zwar beeindruckt – aber nicht berührt. Ich höre mir viel lieber jemand an, der Mut hat, gegen den Strom zu schwimmen, der offen ist für den Moment und das, was passieren könnte – auch wenn das die Dinge manchmal ein bisschen aus der Kontrolle bringen kann. Das ist die wirkliche künstlerische Erfahrung, alles andere ist für mich keine Kunst.

Schauen Sie sich auch gerne selbst mal zu, bei einer Fernseh-Aufzeichnung zum Beispiel?
Grimaud: Nein, ich mag das nicht und ich vermeide das auch. Ich weiß natürlich, dass es manchmal sehr nützlich sein kann, weil dir fallen dann vielleicht Sachen auf, die du nicht freiwillig machst, oder die einfach nicht gut sind. Ich erinnere mich, vor ein paar Jahren habe ich mir die Aufzeichnung so einer Fernsehsendung angeguckt und festgestellt, dass ich in Momenten von großer Intensität, bei musikalischen Höhepunkten, aufhörte zu atmen. Alles war nur noch angespannt und nicht mehr so ausdrucksvoll wie es in dem Moment hätte sein können. Insofern war das damals sehr hilfreich, dass ich mir das angeschaut habe.

Kommen wir einmal auf das Konzertpublikum zu sprechen, das bei der Klassik ja bekanntlich kein sehr junges ist. Stört Sie das?
Grimaud: Nein, überhaupt nicht. Auch weil meine Erfahrung ist, dass sehr viele junge Leute in die Konzerte kommen, gerade in Deutschland. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass die Klassik – wie man es oft hört – in großer Gefahr wäre, weil nur ältere Leute im Publikum sitzen würden. Wir sollten da auch nicht zu unehrlich sein, denn schließlich war es schon immer so. Nur hört man halt alle zehn Jahre die gleiche Geschichte, dass es mit der Klassik bergab geht…

Zumindest spielt die Klassik im Alltag, in der Erziehung, im Elternhaus heute eine geringere Rolle als, sagen wir, vor 50 Jahren.
Grimaud: Ja, das ist definitiv ein Problem, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es damals eine viel größere Anzahl von Teenagern in Konzertsälen gab. Ich denke auch, dass Klassik generell etwas ist, wozu die Leute erst später im Leben kommen. Ich kenne viele Leute, die sich im Alter zwischen 20 und 30 nicht für die Klassik interessiert haben, aufgrund ihrer sozialen oder beruflichen Situation, die dafür aber ein bisschen später zur Klassik gekommen sind. Wichtig dabei ist natürlich, dass man als junger Mensch schon mit klassischer Musik in Berührung gekommen ist. Wenn das nicht passiert ist, dann kommen die Leute auch mit 30, 35 Jahren nicht mehr ins Konzert, weil sie damit nicht vertraut sind, weil ihnen das dann noch immer völlig fremd ist. Deswegen ist es auch so wichtig, das zu einem Teil des Lebens zu machen. Nicht zwingendermaßen auf einem hohen Niveau, aber überhaupt die Berührung zu schaffen, das ist wichtig. Und das muss auch in der Verantwortung des Staates liegen, das kannst du nicht allein den Familien überlassen. Klassische Musik muss in das Bildungssystem integriert werden.

Und die Verantwortung der Künstler?
Grimaud: Die gibt es ganz sicher auch und sie wird in jedem Land unterschiedlich gehandhabt. In den USA zum Beispiel, wenn du dort mit einem Orchester spielst, sitzen oft Schüler in den Proben und du sprichst mit ihnen vor oder nach den Proben. Ich weiß, dass es das in Deutschland auch gibt, allerdings habe ich hier noch nicht erlebt, dass dabei auch der Solist miteinbezogen wird. Ich mag das sehr und jedes Mal, wenn ich dazu die Gelegenheit bekomme, mache ich es auch. Dann treffe die Kinder, manchmal in ihren Schulen einen Tag vor dem Konzert, ich spreche mit ihnen nach der Probe, sie können mich etwas fragen, ihre Eindrücke erzählen – das macht mir sehr viel Spaß und ich kenne auch keinen Kollegen, der an so etwas nicht interessiert wäre. Aber es kommt auch darauf an, dass man dafür vor Ort ein System hat, dass man so etwas nicht nur alle paar Jahre macht, sondern dass das Teil der normalen Bildungsmission wird.

Wie schnell lassen sich Kinder denn für klassische Musik begeistern?
Grimaud: Die Sache mit den Kindern ist – wie eigentlich auch mit den Leuten im Publikum generell – dass man sie leider viel zu oft unterschätzt. Sie sind zu viel mehr fähig und können viel mehr begreifen, auch im jungen Alter, als man es ihnen zutraut. Wenn du den Kontakt zu ihnen suchst, dann wirst du merken, dass sie auch an etwas sehr schwierigem Spaß haben können, auch an Werken voller Kontraste und mit einer schwierigen Musiksprache. Ich denke, da sollte man mit viel mehr Optimismus rangehen, wozu Leute fähig sind, anstatt immer nur anzunehmen, dass sie nicht wissensdurstig sind, dass sie nicht fähig sind, bestimmte Dinge zu begreifen. Wir müssen ihnen auch die Chance geben, uns zu beweisen, dass wir mit diesen Mutmaßungen falsch liegen.

Wobei es die Klassik bei den Jugendlichen natürlich auch schwerer hat, seitdem sich die Popmusik-Industrie so stark entwickelt hat.
Grimaud: Natürlich befindet sich die Klassik auch im harten Wettbewerb mit musikalischen Sprachen und Formen, die definitiv weniger tiefgründig und weniger ergiebig sind. Aber gleichzeitig sollte man dieser Musik gegenüber auch nicht intolerant sein. Ich zum Beispiel höre alles Mögliche, HipHop, Weltmusik oder auch alten Jazz – ganz sicher nicht nur klassische Musik. Natürlich sitze ich hier, um Ihnen zu sagen, dass klassische Musik eine der reichsten, tiefsten und dankbarsten ist, eine Musik, mit der du sehr lange leben kannst und die dir trotzdem immer wieder etwas Neues gibt.

Nur, wie vermittelt man das?
Grimaud: Das Problem bei klassischer Musik ist, dass sie von den Hörern viel erfordert. Du musst sehr viel von dir selbst da reinstecken, wenn du etwas zurückbekommen willst. Jetzt ist es aber so, dass viele junge Leute es heute kaum mehr gewohnt sind, sich irgendwelche Mühe zu machen. Sie sitzen nur da und lassen die Dinge auf sich einregnen, sie werden ja auch ständig bombardiert mit Dingen, die nicht viel Aufmerksamkeit oder Konzentration erfordern, um daran Spaß zu haben.

Gehen Sie denn auch gelegentlich zu Rock- oder Pop-Konzerten?
Grimaud: Oh ja. Nur bekomme ich oft keine Karte mehr, weil ich es oft nicht im Voraus weiß. Oft gehe ich dann spontan hin, wenn U2, Eminem oder Sting ein Konzert in der Stadt geben, wo ich gerade bin, aber meistens sind die Konzerte dann ausverkauft und ich komme nicht mehr rein.

Könnten Sie da nicht sagen: "Hey, ich bin Hélène Grimaud, ich möchte hier rein"?
Grimaud: Sehr witzig! Ich würde dann wahrscheinlich nur ein paar verdutzte Blicke zurück bekommen und die Leute am Eingang würden mich fragen: Wer sind Sie bitte?

Aber passiert es nicht, dass Leute Sie auf der Straße erkennen?
Grimaud: Doch, das ist mir schon passiert. Meistens nach einem TV-Auftritt, was uns wieder mal die Macht des Fernsehens demonstriert. Wenn du in einer bestimmten Sendung warst, dann gucken dich die Leute auf dem Flughafen noch vier Wochen danach komisch an. Sie wissen dann vielleicht nicht genau, wer ich bin, aber sie denken "irgendwo habe ich die schon mal gesehen". Manchmal erkennen sie dich natürlich auch, kommen dann zu dir … – aber das ist so selten und in unserer Welt eigentlich ziemlich unbedeutend.

Würden Sie denn trotzdem sagen, dass es bei manchen klassischen Musikern diese Popstar-Dimension gibt? Der Begriff des "Klassik-Stars" hat sich ja inzwischen etabliert.
Grimaud: Also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich von diesem Thema inzwischen genervt bin. Weil die Diskussion darüber ist so lächerlich: auf der einen Seite hat man die Musikjournalisten, die immer nur lamentieren, dass die Klassik untergeht. Dann gibt es aber auf der anderen Seite Plattenfirmen, die wirklich mal etwas dagegen tun – doch davon wollen die Kritiker dann überhaupt nichts hören, nach dem Motto: Oh, diese Promotion, ist ja widerlich, die Künstler prostituieren sich …usw." Die muss man fragen: was wollt ihr dann eigentlich? Der Weg über die Vermarktung bedeutet ja nicht automatisch, dass etwas qualitativ schlecht ist. Da gehört natürlich auch ein gewisser Lernprozess dazu. Früher bestand das Bild eines klassischen Musikers darin, dass er alles, was er hat, in seine Interpretation steckt und danach nicht groß darüber diskutieren will. Das respektiere ich auch, viele ältere Kollegen geben sehr ungern Interviews, sie haben auch nicht unbedingt viel über Musik zu sagen, was auch gar nichts zur Sache tut: weil am Ende zählt das, was sie mit ihrem Spiel aussagen. Der Grund dafür, dass wir heute mit der klassischen Musik mehr die Öffentlichkeit suchen, liegt darin, dass wir eine Verbindung zu den Leuten schaffen wollen. Und wenn es dir Spaß macht, über deine Arbeit zu reden, warum nicht? Klar, das sollte nicht aufgesetzt oder Fake sein, sondern authentisch und ehrlich. Dann finde ich, passt das auch gut zusammen, dass du losziehst und nach weiteren Möglichkeiten suchst, die Leute für deine Arbeit zu interessieren. Ich sehe daran jedenfalls nichts Unnatürliches und verstehe auch nicht, warum darüber immer so eine große Diskussion geführt wird.

Sie würden sich selbst also auch nicht als einen "Star" bezeichnen?
Grimaud: Nein, auf keinen Fall. Aber mir macht es halt nichts aus, über meine Arbeit zu sprechen, ich denke auch nicht, dass das den Wert meiner Arbeit schmälert.

Ihr Leben scheint ja bereits sehr ausgefüllt zu sein, Sie sind eine weltweit gefeierte Pianistin, Sie haben eine eigene Wolfsfarm – und nun schreiben Sie auch noch Bücher. Wie kam es dazu?
Grimaud: Wissen Sie, meine ersten Freunde waren Bücher. Mit der Musik begann ich ja erst relativ spät, Bücher dagegen habe ich schon viel früher gelesen, auch weil meine Eltern glücklicherweise eine wunderbare Bibliothek besaßen. Insofern waren Bücher schon immer ein Teil meiner Lebens- und Wissensgrundlage. In meiner Jugendzeit habe ich dann irgendwann angefangen, einfach Gedanken aufzuschreiben, nicht in Tagebuchform, sondern ganz abstrakt. Aber ich dachte niemals daran, das zu veröffentlichen oder ein Buch zu schreiben. Es war dann ein befreundeter Redakteur, der ein paar dieser Blätter gesehen hatte und zu mir meinte, ich sollte wirklich mal etwas veröffentlichen. Zwei Jahre lang hat er dann auf mich eingeredet und wollte nicht aufgeben. Und wenn ich es nicht für ihn getan hätte, wäre es wohl nie passiert. Das ist auch der Grund, weshalb ich ihm das Buch gewidmet habe, Er war die treibende Kraft. Allerdings, nachdem ich dann mit dem Buch begonnen hatte, fühlte es sich auch sehr logisch und richtig an. Da steckte ein Sinn dahinter, ein Rhythmus und es ergab sich ein sehr organischer Fluss. Trotzdem sehe ich mich selbst nicht als Schriftstellerin, auch wenn ich vielleicht schreiben kann. Ich kann auch ohne das Schreiben leben – ohne Musik allerdings nicht.

Sie verspüren also gar keinen besonderen inneren Drang, etwas zu Papier zu bringen?
Grimaud: Während des Schreibens schon. Vor meinem ersten Buch hatte ich dieses Verlangen noch nicht. Aber als ich dann einmal angefangen hatte, fühlte ich, dass es etwas wirklich Bedeutsames war. Das zweite Buch kam dann ja praktisch direkt nach dem ersten … aber es ist trotzdem nicht so, dass ich das nun regelmäßig brauchen würde. Momentan ist da auch gar nichts mehr, was ich aufschreiben könnte, zumindest kein ganzes Buch. Und wer weiß, vielleicht kommt da auch gar nichts mehr.

Gibt es denn Gemeinsamkeiten zwischen dem Klavierspiel und dem Schreiben?
Grimaud: Ja, es gibt ein literarisches Element und es gibt Poetik in der Musik. Andersherum steckt in Worten natürlich auch Musik, das Schreiben an sich beinhaltet Musik und Rhythmus – da gibt es eine Menge Analogien. Schreiben ist ja wie Denken, eine Form der Reflexion. Und Musik ist genauso auch ein Weg, um die Welt fassbar zu machen, um dem Dasein einen höheren Grund zu geben. Und es fällt ja auf, dass sehr viele Musiker geschrieben haben, denken Sie zum Beispiel an Debussy oder Schumann und auch Interpreten haben viel geschrieben. Da gibt es eine gewisse Tradition.

Anders als wenn man Ihnen beim Klavierspiel zuhört, bekommt man bei der Lektüre Ihrer Bücher Ihre Gefühle schwarz auf weiß geliefert, teilweise sogar sehr detailliert. Ist es Ihnen nicht auch ein bisschen unangenehm, wenn jeder dort Ihre intimsten Gedanken nachlesen kann?
Grimaud: Nein, das macht mir nichts aus, ich empfinde das als normal und ich habe wirklich nichts zu verbergen. Eher wäre es viel schwerer für mich, etwas vorzutäuschen, was ich nicht bin. Wenn jemand allerdings nicht in der Lage ist, in der Kommunikation mit anderen er selbst zu sein, dann sollte derjenige darauf verzichten. Weil dann ist Kommunikation nicht nur wertlos, sondern eigentlich sogar zerstörend, jemandem gegenüber zu stehen und ihm ein Bild von dir zu geben, von dem du weißt, dass es nicht der Realität entspricht. Deswegen sollte man auch nicht die Frage stellen, ob so ein Buch zu persönlich ist – weil wenn es nicht persönlich ist, wer braucht es dann? Ich bekomme auch selbst meine Inspiration von Menschen, die sie selbst sind und die den Mut haben, etwas zu tun, unabhängig davon, was andere sagen. Menschen dagegen, die immer nur versuchen, etwas zu projizieren und ein verzerrtes Bild abgeben, finde ich wirklich nicht interessant.

Aber man macht sich durch so eine ehrliche Darstellung auch ein Stück weit verletzlich, oder?
Grimaud: Also, ich habe vor langer Zeit gelernt, dass man nicht durchs Leben gehen kann, wenn man immer nur darüber nachdenkt, was andere Leute über einen denken und wie sie dich wahrnehmen. Wenn ich mir darüber Sorgen machen würde, dann wäre ich wahrscheinlich keine Musikerin geworden, weil ich gar nicht erst auftreten könnte. Denn auf einer Bühne bist du am verletzlichsten, wesentlich verletzlicher, als wenn du etwas über dich aufschreibst oder erzählst. Insofern ist das Konzert auch einer der gefährlichsten Momente, die ich kenne.

Nun gibt es aber viele Musiker, die behaupten, sie würden eine Art Vorhang um sich herum zuziehen, sobald sie auf der Bühne sind, völlig isoliert und unabhängig von allem, was im Konzertsaal, im Publikum geschieht.
Grimaud: Ja, das tun viele meiner Kollegen oder zumindest glauben sie es zu tun. Aber selbst wenn man gründlich vorbereitet ist, und sich von nichts beeinflussen lassen will – man ist trotzdem da draußen auf der Bühne. Und das erfordert schon einen gewissen Mut, wie ich finde.

Gab es denn schon Momente, wo Sie hinter der Bühne standen und nicht ‚raus‘ wollten?
Grimaud: Ja, sicher gab es solche Momente. Manchmal fühlt man einfach, dass man nicht das geben kann, was man geben könnte, und man würde deshalb am liebsten absagen. So eine Entscheidung würde ich auch respektieren. Weil, Sie müssen daran denken: sobald man da oben auf der Bühne ist, interessiert es niemanden, wie man sich fühlt, was man erlebt hat, ob man krank ist oder in Gedanken bei etwas ganz anderem. Sobald man auf der Bühne ist, gibt es keine Entschuldigung mehr – für gar nichts. Deshalb kann ich es gut verstehen, wenn einige Kollegen sagen, sie seien nicht in guter Verfassung – aus welchem Grund auch immer – und dann absagen. Ich selbst neige allerdings dazu, ein Konzert in so einem Moment trotzdem zu machen. Und da erwische ich mich dann schon mal dabei, dass ich hinter der Bühne stehe und mich frage: Was mache ich hier eigentlich? Doch dann geht man raus und ist meistens überrascht. Weil man herausfindet, dass man eine Menge Reserven hat. Und manchmal braucht es halt diese ungewöhnlichen Situationen, damit diese Reserven zum Vorschein kommen.

Es bedarf also nicht immer der völligen Harmonie, um ein gutes Konzert zu spielen?
Grimaud: Also, bei Harmonie denkt man natürlich, dass sei die beste Grundlange für ein Konzert. Ist es aber nicht immer. Oft, wenn man mit jemandem arbeitet, mit dem man nicht groß diskutieren muss, wo die Chemie einfach stimmt, spielt man ein wunderbares Konzert – aber es ist dann nicht unbedingt das spannendste Konzert. Weil manchmal entwickelt sich die Spannung viel besser aus einem Konflikt heraus. Wobei es dann interessant wird, ob man diesen Konflikt beibehält oder ob man am Ende wieder zueinander findet.

Gab es auch schon Konzerte, wo Sie so einen Konflikt absichtlich provoziert haben, weil Ihnen zu viel Harmonie im Spiel war?
Grimaud: Ein interessanter Gedanke. Wobei ich sagen muss: Nein. Ich sage Ihnen auch warum. Ich habe tatsächlich schon mal daran gedacht, es aber nie getan, weil das unnatürlich gewesen wäre. Denn wenn man wirklich mit den Musikern auf einer Welle schwimmt und die Dinge gut laufen, dann wäre das nur eine künstliche Spannung, die man hervorrufen würde.

Wie ist denn Ihr Umgang mit Menschen abseits vom Konzert, im Alltag? Sind Sie eher eine offene, gesprächige Person oder doch mehr zurückhaltend und verschlossen gegenüber Ihrer Umwelt?
Grimaud: Nun, wie Sie sehen, kann ich sehr gesprächig sein. Andererseits, wenn ich unter Freunden bin, interessiert es mich viel mehr, was die zu erzählen haben und dann stelle ich sehr viele Fragen. Und am Ende sagen die Leute dann immer zu mir: "Jetzt habe ich so viel erzählt und gar nichts von dir erfahren!" Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch gern über mich rede, ab und zu ist es sogar so, dass ich anfange und gar nicht mehr aufhören kann.

Und neue Freunde, wie lernen Sie die kennen?
Grimaud: Also, das ist bei diesem Beruf schon etwas frustrierend. Man reist viel, man trifft interessante Leute, überhaupt begegnet man vielen Menschen, mit denen man eigentlich auch eine enge Freundschaft eingehen könnte, oder zumindest einen gewissen Austausch. Doch meistens ist es unmöglich, so eine Verbindung auszubauen und zu entwickeln. Weil man kommt und geht, man kommt und geht und es ist so schwer, mit allen in Verbindung zu bleiben. Man schafft es ja nicht einmal, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, die einem im Leben am nächsten stehen. Aber das muss man selbst akzeptieren und das müssen die anderen akzeptieren. Man muss versuchen, da einen Weg zu finden, auch wenn man sich vielleicht nur einmal im Jahr sieht; dass man dann nicht gleich alles versucht aufzuholen und zu diskutieren, was in dem vergangenen Jahr alles passiert ist – weil das führt zu nichts. Und das bedeutet letztendlich, dass du nur mit Leuten zusammen bleiben kannst, die das auch verstehen. Da muss die Freundschaft in dem Moment gelebt werden, wo man zusammen ist, in dem Moment sollte man das Beste draus machen, ohne dass man gleich versucht, da eine Kontinuität reinzubringen. Das ist eine andere und für viele Leute sicher keine einfache Herangehensweise.

Sind Sie manchmal erschöpft von dieser Art des Lebens?
Grimaud: Ja, manchmal schon. Aber im selben Moment, in dem ich das sage, fühle ich mich auch schlecht, weil das Leben, das ich führe, ein so privilegiertes Leben ist. Dem bin ich mir auch total bewusst. Einerseits gehe ich durchs Leben und bin unglaublich dankbar und frage mich immer, wie ich das zurückgeben kann, denn ich habe ja so viel bekommen. Und dann gibt es aber auch Tage, an denen dieses Leben wesentlich härter ist, als sich die Leute das vorstellen können. Aber ich versuche, mich nicht zu beklagen, denn schließlich führe ich im Gegensatz zu 99% der Weltbevölkerung ein unglaublich glückliches Dasein.

Sie werden in Interviews ja oft zu Ihrer Beschäftigung mit Wölfen gefragt – uns würde abschließend interessieren: Mögen Ihre Wölfe eigentlich klassische Musik?
Grimaud: Wissen Sie, das habe ich mich auch immer gefragt. Und ich glaube, dass es Möglichkeiten gibt, das herauszufinden. Da müsste man allerdings richtig wissenschaftlich herangehen, die Versuche müssten System haben, es müsste möglich sein, die Versuche immer und immer wieder zu wiederholen, um zu sehen, ob sich bestimmte Muster abzeichnen. Ich hatte bisher noch nicht die richtigen Gegebenheiten dafür, aber ich will das eines Tages noch machen. Denn vor ein paar Jahren hatten wir bei uns eine junge Wölfin gepflegt und immer wenn ich Schumann spielte, fing sie an zu jaulen. Egal, wo sie war, wenn sie sich gerade in der Erde verbuddelt hatte, und ich spielte Schumann, kroch sie hervor, so aufgeregt, als hätte sie gerade den Teufel gesehen. Seitdem glaube ich, da ist etwas dran und wenn man das untersuchen würde, dann wäre es natürlich interessant, das mit verschiedenen Genres auszuprobieren. Innerhalb der Klassik zum Beispiel könnte man ihnen erst Bach und dann Strawinsky vorspielen – um zu gucken, ob sich Unterschiede im Verhalten feststellen lassen. Wobei man da auch aufpassen muss, denn die Wölfe sind sehr scheu und wenn man dann auf einmal HipHop aufdreht, würden sie vielleicht total ausflippen.

Ein Kommentar zu “Sobald man auf der Bühne ist, gibt es keine Entschuldigung mehr – für gar nichts.”

  1. Alexander Strippel, 20 |

    Cool!

    Ich wusste gar nicht, dass ein solches Interview existiert. Cool mal so genaue Einblicke in Helenes (Privat-)Leben zu bekommen. Es war sehr interessant und informativ.
    Danke

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