Herr Carpendale, in unserem letzten Interview mit Heino erzählte er, dass er nach seinem vorläufigen Karriereende 2005 zuhause nichts mit sich anzufangen wusste. Sie haben auch schon einmal Ihre Karriere beendet – kennen Sie dieses Gefühl?
Howard Carpendale: Ich kann nachvollziehen, dass man diesen Beruf sehr vermisst. Ich würde nicht soweit gehen zu sagen, dass ich nichts mit mir anzufangen wüsste – ich habe schon genug Hobbys, denen ich nachgehen kann. Aber die Kreativität, die zu dieser Arbeit gehört, die ist mir schon sehr wichtig.
Mein erster Auftritt in Deutschland war übrigens mit Heino zusammen. 1966 in einer Diskothek in Gelsenkirchen, vor ungefähr 200 Leuten.
Hatte er da schon die schwarze Sonnenbrille?
Carpendale: Nein, aber schon ein oder zwei Hits.
Mit welchen Hobbys haben Sie es denn ‚kompensiert‘, als Sie 2003 erstmalig Ihren Bühnenabschied verkündeten?
Carpendale: Ich spiele sehr viel Golf – was die meisten Deutschen nicht verstehen, aber das ist deren Problem (lacht).
Golf wird in Deutschland doch sehr viel gespielt.
Carpendale: Aber der Sport wächst hier nur um etwa 50.000 Spieler im Jahr, das ist zu langsam. In England spielen 14 Millionen Golf. Ich wünschte mir schon für die Deutschen, dass sie neben Fußball auch andere tolle Sportarten kennenlernen, Golf oder auch Rugby, was in Deutschland aber leider nicht angenommen wird.
Neben Golf gehe ich auch gerne ins Theater oder ins Kino, verbringe Zeit mit meiner Familie. Also, meine Zeit kriege ich schon voll.
Und trotzdem ist der Sog zurück auf die Bühne immer irgendwie vorhanden?
Carpendale: Wenn man etwas Neues zu bieten hat: Ja. Aber wenn ich immer nur auf die Bühne gehen würde, um die alten Lieder zu singen: Nein.
Für mich ist es unglaublich wichtig, neue Sachen zu präsentieren, die auch ein bisschen anders klingen, als das, was ich bisher gemacht habe, eine neue Richtung zu finden.
Und Ihre alten Hits?
Carpendale: Die alten Lieder kommen natürlich am besten an, aber die werden dann zwischen die neuen Lieder gestreut. Und etwas wie „Schönes Mädchen von Seite 1“ würde ich auch nicht mehr singen, das war wirklich noch schlagerhafter als die meisten Schlager. Solange ich neue Sachen machen kann, werde ich dabei bleiben.
Wie die Zukunft der Schallplattenindustrie aussieht, weiß ich überhaupt nicht. Ich habe mich schon oft bei dem Gedanken erwischt: Gott sei Dank habe ich in den 60er Jahren angefangen.
Wie bringen Sie sich musikalisch auf den neuesten Stand?
Carpendale: Bei der Entstehung des neuen Albums waren sehr erfolgreiche Komponisten dabei. Leute, die für HipHop-Musiker schreiben. Wir wollten sehen, was geschieht, wenn sie einen Auftrag von mir kriegen. Das hat sie motiviert, mal etwas ganz Anderes zu machen. Texte über das Leben, gesungen von einem, der das Leben schon ein bisschen gelebt hat.
Hat denn jeder Text der jungen Künstler zu Ihnen gepasst?
Carpendale: Nicht alle, es gab auch ein paar Vorschläge, wo ich Zeilen gestrichen und gesagt habe: Wir brauchen etwas Anderes, weil ich das nicht fühle.
Zum Beispiel?
Carpendale: Bei einem Titel hatte jemand versucht, mich in einer romantischen Situation als Macho-Playboy darzustellen. Aber das bin ich eben überhaupt nicht, so etwas könnte ich nie singen.
Nun fragen Sie Ihre Hörer unter anderem „Wie viel sind eine Billion?“ Was war der Hintergrund dafür?
Carpendale: Die jungen Songwriter haben mich gefragt, was ich so über die Politik denke. Und da sind mir diese ganzen Talkshows über Finanzen und Schulden eingefallen und dass die Politiker gar nicht wissen, von was für Zahlen sie da eigentlich reden. Wenn früher von einer Million die Rede war, konnte man noch begreifen, wie viel Geld das ist. Heute geht es um Milliarden oder Billionen. Und ich habe die jungen Leute gefragt: „Wenn eine Millionen Sekunden elf Tage sind, wie viel sind dann eine Billion Sekunden?“ Die meinten spontan hundert oder 1000 Tage. Es sind 32 000 Jahre! 11 Tage gegenüber 32 000 Jahren! Da frage ich mich wirklich, ob man weiß, wovon man redet, wenn man hört, wir haben Schulden von 2 Billionen. Das ist eine utopische Zahl! So ist dieser Text entstanden.
Sie haben Ende der 60er Ihre ersten Platten veröffentlicht. Wie nehmen Sie den Wandel der Musikindustrie bis heute wahr?
Carpendale: Wir sind in Deutschland inzwischen soweit, dass es im Grunde nur noch drei große Plattenfirmen gibt, die anderen wurden alle geschluckt. Und wie die Zukunft der Schallplattenindustrie aussieht, weiß ich überhaupt nicht. Ich habe mich schon oft bei dem Gedanken erwischt: „Gott sei Dank habe ich in den 60er Jahren angefangen zu singen.“ Heute wüsste ich überhaupt nicht, wo man anfängt. Muss man jetzt als erstes bei Talentshows vorbeigehen? – Ich glaube, das wäre nicht mein Ding. Wahrscheinlich wäre ich in der heutigen Zeit erst gar nicht Sänger geworden. Es ist jetzt ein ganz anderer Markt, auch durch Internet und Downloads.
Sind Sie nicht selbst über eine Talentshow ins Musikgeschäft eingestiegen?
Carpendale: In Südafrika, ja, das stimmt. Aber damals saß dort keine Jury, sondern ein Publikum, das applaudierte. Und wer den meisten Applaus bekam, hat gewonnen. Was mich heute an diesen Shows stört, sind die Bemerkungen, die von manchen Juroren gemacht werden, die führen die Kids auf einen völlig falschen Weg.
Zum Teil verstehen die Kinder überhaupt nicht, worüber sie singen. Und wenn sie einen englischen Text nicht richtig aussprechen können, sagt ihnen die Jury: „Du hältst dein Mikrophon falsch.“ – Nein, das allererste Gebot ist: Verstehe, worüber du singst! Verstehe jedes Wort! Es ist schon manchmal komisch, was die Jurys heute für Ratschläge geben.
Man hat Sie doch bestimmt schon eingeladen, in so einer Jury zu sitzen.
Carpendale: Neuerdings, ja.
Und Ihre Reaktion?
Carpendale: Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber. Das Konzept der Show wird noch erarbeitet.
Sie haben vor ein paar Jahren gesagt, dass es Sie stört, dass man sich als Künstler in Deutschland nicht weiterentwickeln und verändern darf. „Die Leute wollen einen immer nur so haben, wie sie einen kennengelernt haben.“ Spüren Sie das heute auch noch?
Carpendale: Ich denke, es ist notwendig, dass ein Künstler, der länger überleben will, nach einer gewissen Zeit spürt, dass er seine Musik ein bisschen verändern muss. Einen ersten Hit zu landen ist nicht schwierig. Der zweite ist schwieriger und der zwanzigste ist verdammt schwer. Es darf nicht so klingen, als ob man immer das gleiche Playback benutzt und nur eine andere Melodie und einen anderen Text dazu singt. Ich habe davon profitiert, dass ich das ziemlich früh verstanden habe. Das kommt auch ein bisschen durch meine angelsächsische Herkunft: Ich habe Karrieren wie die von Elvis Presley sehr genau verfolgt und viel daraus gelernt, wie man eine Karriere lange am Leben hält.
Wie offen sind denn Ihre Fans für musikalische Veränderungen?
Carpendale: Die, die meine Karriere begleiten, die kennen das von mir. Die freuen sich, zu hören, was es Neues gibt. Und wenn ich mir die Kommentare zum neuen Album anschaue, ist das genau, was ich erhofft habe: „Es ist irgendwie anders, aber wir können nicht erklären, warum.“
2003 haben Sie zu Ihrem damaligen Abschied einen Bildband veröffentlicht. Darin hat auch ein Psychologe über Sie geschrieben: „Er ist kein musikalisches Genie, kein Stimmwunder, kein Trendsetter, der Erfolg liegt auch nicht in seinem Werk. Es ist die Person, die Rolle, die er gegenüber und für sein Publikum aufbaut.“Stimmen Sie dem komplett zu?
Carpendale: Komplett, ja.
Stellen Sie Ihr Licht da nicht ein bisschen unter den Scheffel?
Carpendale: Nein, ich bin kein Musikphänomen, ich bin auch kein Vollblutmusiker. Udo Lindenberg ist einer, oder Peter Maffay. Bei mir ist es eine ganz andere Art von Erfolg, Musik ist ein Vehikel für meine Persönlichkeit auf der Bühne. Ich kann schlecht auf der Bühne stehen und nur reden. Also singe ich.
Wobei ich nach wie vor sehr gerne rede, ich träume sogar manchmal von einer Tournee, wo ich nur rede, ohne Musik.
Eine Art Lesung?
Carpendale: Ja, etwas in diese Richtung. Peter Ustinov hat das mal gemacht, das fand ich faszinierend. Es wird nicht ganz ohne Musik sein, aber mal anderthalb Stunden über meine Lebenserfahrung zu reden, das fände ich spannend. Ich würde auch gerne Fragen beantworten, ich würde gerne hören, was die Leute wirklich wissen möchten, was sie bewegt.
Ich möchte noch ein weiteres Zitat des Psychologen Georg Sieber anbringen. Er schreibt im Bildband: „Carpendale und seine Mannschaft spielen „Dienstleistungsunternehmer“, er bietet Service am Kunden, will auf der Bühne keine eigenen Gefühle ausleben, sondern die seines Publikums vorleben.“
Carpendale: Also, da finde ich, hat er Unrecht. Weil ich nicht die Frage stelle: „Wie komme ich gut an?“, sondern „Was will ich sein? Was will ich machen?“ Deswegen ist meine Show über so viele Jahre erfolgreich, weil die Leute kommen und sagen: „Das ist ganz anders, als wir es erwartet haben.“ Es ist tödlich, sein Publikum zu fragen „Was wollt ihr?“ und dann zu sagen „Das kriegt ihr!“ Das ist falsch.
Unterschätzt man eigentlich häufig das Publikum? Bei der Musik- und Fernsehindustrie hat man ja gelegentlich diesen Eindruck.
Carpendale: Das ist eine schwierige Frage. Man unterschätzt das Publikum in manchen Dingen und man überschätzt es auch in vielen Dingen.
Wie war das zum Beispiel, als Sie diesen politischen Song gemacht haben, „Yes we can“, angelehnt an das Motto Barack Obamas? Dafür mussten Sie ja viel Kritik einstecken.
Carpendale: Der Song war von mir ehrlich gemeint, und es ging eigentlich nicht darum, über Obama zu singen, ich habe das auch nicht aus kommerziellen Gründen gemacht. Ich wollte einfach über jemanden singen, den ich sehr mochte.
Glauben Sie, das Publikum ist offen für solcherlei Botschaften in der Musik?
Carpendale: Ich glaube nicht, dass die meisten Leute unbedingt solche Themen brauchen. Nach wie vor wollen die meisten Leute Texte über Liebe hören. Frank Sinatra hat einmal gesagt: „Du musst jedes Mal, wenn du einen Titel singst, auf eine andere Art und Weise ,Ich liebe Dichʻ sagen.“ Ich glaube, an dieser Mechanik hat sich nicht allzu viel geändert. Nur wird es immer schwieriger, Dinge zu sagen, die nicht schon tausend Mal gesagt worden sind.
Zudem scheint das Niveau der Texte, die Sinatra seinerzeit sang, heute in weiter Ferne.
Carpendale: Ja, ein Lied wie „My Way“, das wirklich für die Ewigkeit ist, entsteht heute eher selten. Es gibt heute eine andere Art von Qualität als sie zum Beispiel John Lennon hatte. Ich habe oft genug gelesen: „Hör auf mit dem belehrenden Scheiß und sing etwas, das Spaß macht.“ Die englischen Texte sind im Moment eher oberflächlich. Aber ich vermute, dass das einfach an der heutigen Zeit liegt, denn man hat kaum noch Zeit wirklich in die Tiefe zu gehen.
Das gleiche gilt übrigens für einige Medien – das ist die heutige Zeit der Digitalisierung. Aber die Leute scheinen sich daran zu gewöhnen.
Sie waren ja selbst mal Journalist.
Carpendale: Ja, ich schreibe gerne. Ich habe damals von London aus für eine südafrikanische Zeitung geschrieben, eine Kolumne die hieß „Calling from London“. Da hatte ich die Freiheit über Themen in London zu schreiben, ob es die Beatles waren, Mode oder das Nachtleben… Es fiel mir allerdings wahnsinnig schwer, weil ich ein Perfektionist bin. Ich wollte diese Artikel in ein, zwei Stunden schreiben, habe mich dann aber oft zwei Tage gequält, um diesen Fluss reinzukriegen, der notwendig ist.
Wo begegnet Ihnen heute guter Journalismus?
Carpendale: Ich empfehle Ihnen den „Sunday Telegraph“ oder die „Sunday Times“, besonders wenn es um Portraits von Menschen geht. Die schaffen es, einen Menschen, zum Beispiel einen Fußballer oder Cricketspieler, menschlich darzustellen, sodass es Spaß macht, das zu lesen.
Ich habe auch in Deutschland als Journalist gearbeitet und drei Mal die Golf German Open kommentiert. Damals habe ich den Sender gefragt, ob ich die Spieler auch auf dem Platz interviewen könnte, während sie spielen – das gab es vorher gar nicht und ich konnte das dann zwei Jahre lang machen. Bis der Deutsche Golfverband sagte: „Das geht nicht, man darf nicht mit den Spielern reden, während sie vom einen Abschlag zum nächsten laufen.“ Dabei hatte es nur ein einziger Golfer abgelehnt, Weltstars wie Severiano Ballesteros hatten kein Problem damit.
Ich habe mich natürlich auch darauf vorbereitet und Sachen über diese Typen gelesen. Ein Spieler war Seemann und hat Bälle vom Schiff ins Meer geschlagen. In dem Moment, wo du so etwas über eine Person liest, möchtest du auch wissen, wie er aussieht und was das für ein Typ ist. Aber über so etwas wird heute viel zu selten geschrieben. Da sind die englischen Journalisten schon die besten der Welt.
Sie kamen damals als Einwanderer nach Deutschland. Wie beurteilen Sie heute das Klima gegenüber Einwanderern?
Carpendale: Eine gefährliche Frage. Ich möchte dazu nur Folgendes sagen: Mir macht Political Correctness sehr viel Angst, wenn sie nur einseitig stattfindet.
Ich denke, wir müssen uns einfach im Klaren sein, wo die Einwanderungspolitik hinführt. In dem Moment, wo wir alle damit einverstanden sind, ist es ok. In jedem Fall wird es dazu führen, dass sich dieses Land in den nächsten Jahren sehr verändert. Und darüber zu reden ist alles,was wir verlangen sollten.
Und darüber singen…
Carpendale: Darüber singen? Im nächsten Leben vielleicht!
[Im März & April 2014 geht Howard Carpendale wieder auf Deutschland-Tour, die Termine gibt es hier.]