Ilya Naishuller, ich las, dass Sie auf eine Filmschule gegangen sind, die Sie aber vorzeitig verlassen haben…
Ilya Naishuller: Ja, das war die Filmschule in Russland (Гуманитарный институт телевидения и радиовещания in Moskau). Ich habe das Studium abgebrochen, weil ich fand, dass es mir nichts bringt. Ich dachte mir: Ich gehe lieber gleich arbeiten und gucke, wie etwas funktioniert, anstatt mich nur in der Theorie damit zu beschäftigen. Viele meiner Lieblingsregisseure waren auch nicht an der Hochschule und trotzdem hat es bei ihnen funktioniert.
Sie haben schon vor fünf Jahren angefangen mit POV (Point of View) zu arbeiten, bei den Musikvideos Ihrer Rockband „Biting Elbows“.
Naishuller: Ja, das erste Video in POV („The Stampede“) haben wir schon 2011 gemacht. 2013 kam dann „Bad Motherfucker“ und ein paar Tage nach der Veröffentlichung bekam ich das Angebot, „Hardcore“ zu drehen. Ich habe in L.A. Timur Bekmambetow getroffen, habe ihn um Final Cut gebeten, den hat er mir gegeben und dann habe ich es gemacht. Wobei ich am Anfang noch gezögert habe. Viele meinten, das könne nicht 90 Minuten lang funktionieren. Ich brauchte eine Woche, bis es bei mir Klick machte und ich verstand, dass das Potential riesig ist. Und dann war es nur noch Arbeit, Arbeit, Arbeit. Drei Jahre später haben wir jetzt den fertigen Film.
Was waren die größten technischen Probleme, die Ihnen bei den Dreharbeiten begegneten?
Naishuller: Vieles muss man erst ausprobieren, viele Dinge, die du drehst, funktionieren nicht und man muss sie neu überdenken. Zum Beispiel ein einfacher Schlag ins Gesicht: Normalerweise kannst du durch die Kameraperspektive und den Ton den letzten Moment eines Faustschlages verschleiern. Aber hier bist du die Kamera, du musst von der Kamera aus zuschlagen und wenn der Ego-Protagonist zuschlägt, muss das überzeugend aussehen. Das ist für die Schauspieler und Stuntmänner keine leichte Aufgabe. Wobei das jetzt noch eines der kleineren Probleme war.
Schwieriger wird es, wenn Dinge explodieren oder du von Haus zu Haus springst. Die Stuntmänner mussten hier Handwerk dazu lernen, sie mussten herauskriegen wie sie in kurzer Abfolge sehr komplizierte Dinge machen. In langen Einstellungen mussten zehn Dinge hintereinander gelingen, damit das Take funktioniert. Und dann hast du nur zwei Takes, weil du nur zwei Autos hast, die du explodieren lassen kannst. Insofern war der Druck auf den Jungs vom Stunt-Team sehr groß.
Das Produktionsdesign musste zudem Sets bauen, in denen man 360° gucken kann, wo man nicht erst die eine Seite filmt und dann die andere, wie man es normalerweise macht.
Auch das Schneiden war sehr schwierig, am Schnitt habe ich acht Monate mit drei verschiedenen Cuttern gearbeitet. Jeder Film ist anders, so was wie einen „einfachen Film“ gibt es nicht. Und für mich als Regieneuling war das ein Marathon.
Wäre es eigentlich zu kompliziert gewesen, den Ego-Protagonisten Henry sprechen zu lassen?
Naishuller: Nein, das wäre nicht zu schwierig gewesen, ich hatte sogar einige lustige Versionen, in denen er spricht. Das Problem ist aber: Das Publikum ist Henry, es steckt in seiner Haut. Wenn er jetzt seinen Mund aufmacht und Dinge sagt, die du nicht wirklich erwartest, die nicht passen – dann bist du draußen, dann bist du nicht länger die Hauptfigur. Es gibt ja diesen POV-Film von 1947, „Lady In The Lake“ und ich bin sehr froh, dass dieser Film gemacht wurde – denn das war ein Experiment, das schief ging. Und eines, was ich von diesem Film gelernt habe, war: Lass den Typen nicht sprechen.
Allerdings ist die Tatsache, dass Henry nicht spricht, nun eine der deutlichsten Parallelen Ihres Films zu sogenannten „Ego-Shootern“.
Naishuller: Ja, klar. „Hardcore“ wurde aber nicht mit der Intention gedreht, Videospielen wie „Half-Life“ ein Denkmal zu setzen. Meine größte Motivation war, einen Film zu machen, bei dem die Zuschauer in der Hauptfigur sind.
Wenn es dann um ein Sequel gehen sollte und die Frage: Wird er in der Fortsetzung sprechen? – Wahrscheinlich ja, weil man damit auch noch Spaß haben und Dinge entdecken kann. Bei diesem Film war es mir aber einfach wichtig, dass Henry das Publikum bzw. das Publikum Henry ist.
Sie haben 25 Jahre Computerspiele gespielt. Wie hat das den Film beeinflusst?
Naishuller: Dieser Film ist von allem beeinflusst, was ich bisher im Leben gesehen habe, was ich geliebt oder gehasst habe, du lernst von jeder kleinen Sache. Das ist auch eine der Lektionen, die ich an der Filmschule gelernt habe: Es ist gut, auch schlechte Filme zu gucken, weil du von denen lernst, was du nicht machen sollst.
Ich habe schon mein ganzes Leben Videospiele gespielt, aber auch Bücher gelesen, Filme geguckt – es gibt sicher viele Einflüsse in „Hardcore“, manche unbewusst und manche bewusst, wo wir gesagt haben: Lasst uns hier eine kleine Hommage einbauen. Aber das sollte auch nicht zu plakativ sein, nicht wie so ein Statement „schaut her, ich spiele Videospiele“. Es ist ja offensichtlich, dass der Regisseur von „Hardcore“ in seinem Leben ein paar Videospiele gespielt hat.
Bestimmte Kamerabewegungen im Film erinnern schon sehr deutlich an Ego-Shooter….
Naishuller: Ich habe nie eine direkte Referenz verwendet oder der Crew ein bestimmtes Spiel gezeigt und gesagt: So soll es aussehen. Es war auch nie so, dass wir gesagt haben: Das funktioniert in dem Videospiel, lasst uns das verwenden. Wir haben einen Film gedreht und dieser Film hat Videospiel-Einflüsse.
In Deutschland wird über Ego-Shooter und die darin enthaltene Brutalität immer wieder diskutiert. Gibt es eine solche Debatte auch in Russland?
Naishuller: Ich habe noch keine mitbekommen. Wir haben in Russland auch größere Probleme, um die wir uns sorgen müssen. Ich denke, wenn es in Deutschland so eine Diskussion gibt, dann ist ein Zeichen dafür, dass es euch gut geht – sonst hättet ihr ja keine Zeit, euch Sorgen um so etwas wie Ego-Shooter zu machen.
Und Ihre Meinung?
Naishuller: Zu dem Gewaltaspekt? Ich denke nicht, dass Gewalt in der Popkultur, in Spielen, Büchern oder Filmen irgendetwas Schlechtes verursacht hat. Das ist nicht so. Die Leute, die anderen Leuten Schaden zufügen, Dummes, Schmerzhaftes anrichten, die werden es sowieso tun. Irgendetwas wird sie dazu veranlassen, das kann ein Spiel sein oder dieses Glas Wasser hier. Ich finde es immer sehr ärgerlich, wenn Politiker Filme und Spiele verantwortlich machen, nach dem Motto: „Das hier verursacht Gewalt“. Nein, die Leute haben sich schon Jahrtausende gegenseitig geschlagen. Auch vor 150 Jahren, als es noch gar keine Filme gab, haben die Leute getötet, geschossen und fürchterliche Dinge gemacht. Sie machen es sich viel zu einfach, wenn sie sagen „Oh, die Spiele müssen Schuld sein“ und die Leute dann alle so: „Ja, genau, stimmt.“
Schauen Sie: Ich mag Gewalt in Spielen, Filmen, Büchern, ein Drama mit einer Pistole ist aufregender als ohne, weil der Einsatz höher, weil das Risiko größer ist. Ich habe viele Dinge gesehen, seit ich klein war, meine Eltern haben mich nie zensiert. Sie haben gesagt: Keine Pornos, und wenn dir was zu sehr Angst macht, dann schalte einfach aus. Das habe ich meistens befolgt. Und in meinem ganzen Leben habe ich mich genau zwei Mal geprügelt, ich habe die Kämpfe nicht mal selbst angezettelt. – Und dann gibt es eben Leute, die sehen einen Film und drehen durch.
"Hardcore" ist kein kein bösartiger Film, kein hasserfüllter – ich würde eher sagen, es ist ein sehr leichter Film.
Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Waffen? Vor kurzem haben Sie im Netz ein Foto gepostet, dass Sie auf einem Schießstand in Texas zeigt.
Naishuller: Wir waren in Austin, wo wir „Hardcore“ beim „South by Southwest“ gezeigt haben. Und zwischendurch hatten wir vier Stunden Freizeit. Da meinte dann einer aus unserer Crew: Wir sind in hier Texas, Barbecue hatten wir schon, dann lasst uns jetzt noch auf einen Schießstand gehen. Wir haben dort drei Stunden mit allen möglichen Waffen gefeuert und ich hatte dort eine gute Zeit.
Das erste Mal ein Gewehr in der Hand gehabt habe ich mit zwölf, das war auf einer Farm in der Schweiz, da habe ich mal mit einem Gewehr geschossen. Ich gehe aber sonst nicht schießen, ich gehe nicht jagen, ich habe das auch nicht vor, ich habe in Russland auch keine Pistolen.
In Russland gilt nach wie vor die Wehrpflicht….
Naishuller: Ich bin nicht gegangen.
Wie ist das möglich im Moment?
Naishuller: Da gibt es viele Möglichkeiten. Entweder du gehst auf die Hochschule, du bist krank oder täuschst eine Krankheit vor – oder du bezahlst jemanden.
Was war bei Ihnen der Fall?
Naishuller: Ich bin auf die Filmschule gegangen und ich war krank, ich hatte eine Wirbelsäulenverletzung und es stellte sich raus, dass ich farbenblind bin.
Farbenblind?
Naishuller: Ich habe eine Schwierigkeit mit Grün. Angenommen es gibt 20 Grün-Schattierungen, die ein Durschnittsmensch sieht, dann sehe ich 5 davon. Grün ist meine Schwäche, mein Kryptonit.
Und was kostet es, wenn man in Russland nicht zum Militär gehen möchte?
Naishuller: Zu meiner Zeit, als ich zur Armee hätte gehen müssen, lag die Summe, die wir rausbekommen haben, bei 2500 Dollar. Das ist für Russland viel Geld. Andererseits: 2500 Dollar für zwei Jahre deines Lebens – inzwischen ist es glaube ich ein Jahr – sind eine sehr gute Investition.
In der Vergangenheit gab es immer wieder Berichte, dass in der russischen Armee jährlich hunderte Soldaten sterben – ohne Kriegseinsatz.
Naishuller: Unsere Armee ist leider… Also, ich weiß, dass es sich inzwischen gebessert hat. Ich finde es aber generell nicht besonders cool, wenn jemand, der nicht beim Militär arbeiten will… – es gibt ja Leute, die beim Militär arbeiten wollen, wir brauchen auch eine Armee, so funktioniert nun mal die Welt, auch wenn wir das nicht mögen. Aber wenn jemand sagt ‚ich will in einer Fabrik arbeiten‘, oder ‚ich will Maler werden‘ – dann zwinge den doch nicht dazu, Zeit seines Lebens in der Armee zu verschwenden. Solange kein Krieg herrscht, wo die Leute dann sowieso eingezogen werden.
Nochmal zurück zu „Hardcore“ und der Ego-Perspekltive. Einerseits ist der Film dadurch sehr innovativ, andererseits wäre die Frage: Sollte er eine Auszeichnung bzw. Nominierung für die Beste Kamera bekommen?
Naishuller: Also, was wir hier kameratechnisch gemacht haben, gab es so noch nicht. Sicher wird es viele geben, die eine Auszeichnung dafür ablehnen würden. Auf der anderen Seite: Ich weiß, dass das Magazin „The American Cinematographer“ mit unseren drei Kameraleuten gesprochen hat. Das bedeutet viel, das legitimiert uns in den Augen der Profis. Sie haben mit allen gesprochen und soweit ich weiß, mochten sie den Film.
Ich denke, für eine technische Auszeichnung macht es mindestens Sinn, dass dieser Film nominiert wird…
Doch die Kategorie „Beste Kamera“, würde das passen? – Sie benutzen die Kamera ja auf eher funktionale Weise, weniger als künstlerisches Ausdrucksmittel.
Naishuller: Wir haben nicht versucht, schöne Bilder zu machen. Von Anfang an war klar: Es geht nicht um toll aussehende Kameraeinstellungen, sondern um Einstellungen, die sich wunderbar anfühlen.
Es gibt also einen Unterschied zwischen Bildern die gut aussehen, und solchen, die sich gut anfühlen?
Naishuller: Ja, klar, das ist ein großer Unterschied. Und das Gefühl war uns bei diesem Film wichtiger. Ich denke schon, dass der Film auch wunderbar aussieht, vor allem wenn man bedenkt, dass das 300Dollar-Kameras sind.
Also, was den technischen Aspekt anbelangt: Es wurde vorher nie gemacht, und es funktioniert. Gibt es eine Auszeichnung für Innovation? – Das weiß ich gar nicht. Ich habe auch nicht an Auszeichnungen gedacht, während ich diesen Film gemacht habe. Mir war wichtig, dass die Leute an diesem Film Spaß haben.
Kevin O’Connell, der den Film gemixt hat, jemand der 21 Oscar-Nominierungen hat, der sagte zu mir: „Hardcore“ sei in den Top3 der Filme, die er je gemacht hat, in puncto Spannung und was man in diesem Film erlebt. Wenn er so was sagt – cool! Aber nochmal: Niemand hat an diesem Film gearbeitet um einen Preis zu gewinnen, oder wegen des Ruhms. Wir wollten einfach, dass die Leute im Kino eine gute Zeit haben. Ich wollte etwas Tolles machen, das mir selbst gefällt und auch den Leuten. Es ist kein bösartiger Film, kein hasserfüllter – ich würde eher sagen, es ist ein sehr leichter Film, überraschenderweise, angesichts dessen, was alles im Film passiert.
Man muss aber auch festhalten: Es ist ein Film voller Gewalt, weshalb ihn nicht jeder gucken kann. Was ist ein gutes Alter für „Hardcore“?
Naishuller: Wenn ich einen Sohn hätte? Das kommt drauf an, wie weit er ist. Ich habe da kein konkretes Alter im Kopf, darauf kommt es nicht an. Gesetzlich ja, das verstehe ich, in Russland ist er ab 18…
… genauso wie in Deutschland.
Naishuller: Ich würde es mit meinem Sohn so machen wie meine Eltern mit mir. Sie haben mir erlaubt, mich selbst zu zensieren und sie haben das sehr gut gemacht: Ich habe nie irgendetwas Traumatisches gesehen. Nur einmal, bei „The Shining“ da habe ich mich so gegruselt, dass ich eine Woche nicht schlafen konnte – das ist bis heute mein Lieblings-Horrorfilm, ein genialer Film.
Also, wenn ich ein Kind hätte, würde ich mit ihm sprechen und schauen wie weit er mental ist. Und wenn ich den Eindruck habe, dass er „Hardcore“ ertragen kann, dann würde ich sagen: OK, aber halt dir bei der und der Szene die Augen zu.
So eine Altersbeschränkung ist ja auch… Also, angenommen du bist 17, dann darfst du in 365 Tagen den Film sehen, sprich eines Tages wachst du auf und es heißt: Du bist jetzt mental dazu bereit. Das ist doch Quatsch! Ich verstehe, dass es gesetzlich sein muss, aber es gibt eben Kinder die mit 13 oder 14 schon viel schlauer sind als manche Erwachsene.
Wäre es denn möglich gewesen, diesen Film etwas weniger gewalttätig zu machen?
Naishuller: Alles ist möglich. Ich wollte nur den Film machen, den ich machen wollte. Er heißt „Hardcore“, er sollte hardcore sein, a crazy fucking movie. Ich habe nichts gegen PG-13-Filme, man braucht kein Blut um einen großartigen Film zu machen, aber wenn du eine verrücktes Filmerlebnis erschaffen willst, dann muss es auch sehr verrückt sein.
Wie groß schätzen Sie das Potential von POV für anderen Genres ein?
Naishuller: Es gibt ja zum Beispiel die „Peep Show“ im englischen Fernsehen, über 50 Folgen Comedy aus der Ich-Perspektive.
Als Timur Bekmambetov mir diesen Film anbot, da war meine erste Antwort Nein, weil ich nicht dachte, dass es funktioniert. Jetzt könnte es genauso sein, dass jemand sagt: Kommt, wir drehen eine Liebeskomödie in POV. Auch da wird man zögern, bis einer kommt und sagt: Ja, ich habe eine Idee. Es ist wichtig, sich hinzusetzen, Ideen zusammenzutragen und darüber nachzudenken. Ich denke in der Kunst sind viel mehr Dinge möglich, als wir für möglich halten. Es kommt drauf an, wer du bist, wie du dich fühlst, es kommt auf deinen Geschmack an, auf deine Intuition.
Was wäre zum Beispiel mit einem Biopic in POV?
Naishuller: Gute Frage, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich bin mir sicher, dass man jemandes Geschichte aus seiner persönlichen Perspektive sehr gut erzählen kann. Es wäre anders, das wäre das Interessante – aber auch da: Man muss erstmal genau überlegen, wie man das umsetzt.
Aus wessen Perspektive würden Sie gerne einmal einen Tag lang die Welt sehen?
Naishuller: Ui, da gibt es zu viele… Es sollte jemand sein, der nicht zu sehr in der Öffentlichkeit steht, denn das fände ich nicht besonders interessant.
Auch wenn ich selbst so eine Erfahrung nicht erleben will, würde ich mich für jemanden entscheiden, der sich in einer Kampfsituation im Krieg befindet. Auch wenn es sicherlich eine entsetzliche Erfahrung ist und ich so etwas das selbst auch nicht fühlen will.
Interessant wäre natürlich auch, wenn man in der Zeit zurückspringen könnte, wenn man bestimmte historische Ereignisse aus den Augen eines Beteiligten erleben könnte, das wäre verrückt. Also, wenn wir schon mal dabei sind, und angenommen er hat existiert, dann wäre es sicher interessant Jesus aus der POV-Perspektive zu erleben.
Sie sind auch Fan des Films „Strange Days“ aus den 90ern. Darin können die Menschen mit einer Art Headset, das elektromagnetische Signale ans Gehirn sendet, Erlebnisse von anderen Menschen noch einmal ’nacherleben‘. Glauben Sie…
Naishuller: Diese Technik wird kommen, keine Frage. Das wusste ich damals schon, als ich den Film gesehen habe. Es ist nur eine Frage der Zeit. Und es wird großartig sein, für jeden, der das erleben kann.
Davon sind Sie überzeugt?
Naishuller: Ja! Die Tatsache, dass es Facebook gibt, Youtube… Natürlich sehen wir dort auch viel Mist, aber es sind immer wieder auch Goldstücke dabei, die den ganzen Rest aufwiegen, Dinge, die du sonst selbst nie sehen kannst. Ich habe viele Freunde auf Facebook und sehe dadurch viele Dinge von überall auf der Welt. Ich finde das superspannend!
Und das nächste Level wäre dann: Du drückst auf den Knopf und bist der Typ, in Echtzeit oder zeitversetzt. Das wird die Dinge sehr verändern. Ein Beispiel: Man stellt sich ein Treffen des Ku-Klux-Klan vor, wo sie ihren dummen Rassisten-Scheiß praktizieren… und dann einen Afroamerikaner, der sozusagen ihr Feind ist, der mit diesem Gerät sein Leben aufnimmt. Wenn das anschließend jemand vom KKK sieht und fühlt, was dieser Afroamerikaner erlebt… – du kannst dann die andere Seite der Geschichte sehen. Ich bin mir sicher, dass diese Technik kommt und das wird vieles sehr stark verändern.
Ihr Film ist eine russisch-amerikanische Koproduktion, zu einer Zeit, wo sich das Klima zwischen den beiden Ländern deutlich abgekühlt hat. Geht dieses Problem an den Filmemachern vorbei?
Naishuller: Es ist natürlich scheiße, dass unsere Länder so ein schlechtes Verhältnis haben. Aber letztlich haben ja nicht die Leute ein schlechtes Verhältnis zueinander. Von den 650 bis 700 Leuten, die an diesem Film gearbeitet haben, waren die Hälfte Leute von CG-Agenturen (Agenturen für Computeranimation), die in den USA angesiedelt sind und die andere Hälfte waren Russen in der Produktion etc. Niemand denkt von der anderen Seite irgendetwas Schlechtes. Natürlich haben mich die Amerikaner gefragt: Was passiert in Russland, was passiert in der Ukraine? Aber es gab nie dieses „die bösen Russen“ oder „die bösen Amerikaner“. Die Leute denken so nicht, sie sehen sich als Menschen. Ich finde es großartig, dass wir in einer Zeit, wo es diesen Konflikt gibt, etwas machen, was im Gegensatz zum Konflikt steht. Hey, wir machen auch verdammt nochmal Kunst.
Ich habe Ihren Produzenten Timur Bekmambetov 2007 gefragt, ob man in Russland mit einem Film politisch Protest ausüben kann. Er antwortete damals: „Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Weil all die Verleiher Angst haben.“ Wie sehen Sie die Situation heute?
Naishuller: Also, unser Film musste in Russland durch die Zensur und es wurde eine Szene gelöscht. Das einzige Land, wo wir aus „Hardcore“ eine Szene herausschneiden mussten, ist Russland. Und zwar die Szene mit den Polizisten… (Henry erschießt im Film zwei russische Polizisten, die kurz davor sind, eine Frau zu vergewaltigen, Anm. d. Red.) Das ist beschissen.
Und diese Zensur hatte einen politischen Grund?
Naishuller: Ja, absolut. Du kannst (in Russland) im Film Polizisten nicht umbringen, du kannst Regierende oder Angehörige der Regierung nicht umbringen. Was ich für falsch halte, denn dies ist ein Film. Aber so ist es leider, in der russischen Version fehlen 40 Sekunden. Auf der DVD werden die aber drauf sein.
Also, dieses Problem hatten wir, die sind da sehr strikt. Und mein Problem damit ist Folgendes: Wir sollen im Film keinen Polizisten erschießen, der eine Vergewaltigung begehen will, aber in der Realität haben wir in Russland Polizisten, die vergewaltigen. Diese Realität ist das Problem – und nicht eine filmische Darstellung.
Wäre es im Moment in Russland eigentlich möglich, einen Film mit einer homosexuellen Figur zu drehen?
Naishuller: Wahrscheinlich schon. Aber wahrscheinlich wird man auch ein paar Probleme damit bekommen. Das kommt drauf an, wie weit man geht, was in dem Film passiert. Das ganze Gesetz (gegen homosexuelle Propaganda) finde ich absolut lächerlich. Aber so ist das nun mal. Es gab ein paar Filme, die sich dem Thema gewidmet haben. Es hängt dann von verschiedenen Dingen ab, von der Finanzierung, vom Zielpublikum, ist es ein Art House-Film oder Pop? – Also, vielleicht geht es. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass es viele Leute gibt, die es versuchen wollen.
Das Lustige ist: Die Figur des Jimmy in „Hardcore“, er ist für mich ist ein bisschen bisexuell, das sind so kleine Nuancen hier und da bei all den Figuren, in denen Jimmy auftaucht. Und ich habe mir… Russland ist ja ein homophobes Land. Das ist traurig, aber es ist so. Und da fand ich es gut, wenn eine Figur im Film ein bisschen schwul ist. Ich habe das Sharlto Copley (der Jimmy spielt) so nie gesagt, aber es gab Zeilen… Zum Beispiel in der Auto-Szene, wo Jimmy zu Henry sagt, er soll sein Shirt ausziehen, da sagte er ursprünglich, dass er Henrys „sweet delicious titties“ sehen will.
Aber das ist nun nicht mehr im Film.
Naishuller: Richtig, weil wir den Film schneller machen mussten. Diese Zeilen waren lustig, haben funktioniert, Sharlto war großartig, aber dann mussten wir den Film schneller schneiden. Für einen guten Schnitt muss man nun mal viele seiner Lieblinge opfern. Und unser erster Rohschnitt war noch 2 Stunden und 30 Minuten lang.
Sie sprechen bei Jimmys Figur von Nuancen. Heißt das, wenn man etwas über Homosexualität in einem russischen Film macht, dass dies dann eher subtil stattfinden muss?
Naishuller: Du musst einfach… Also, ich denke einfach, dass das kaum jemand machen will. Ich antworte jetzt aber auch für Leute, die ich nicht kenne. Ich mutmaße nur. Sie wollen vielleicht nicht in Konflikt geraten… Ich denke, wenn jemand daraus ein Thema machen will, dann werden viele andere sagen: Lass uns nicht in die Richtung gehen, lass uns lieber etwas anderes drehen. Denn es ist ja auch ärgerlich, wenn du einen Film machst, ihn am Ende aber nicht rausbringen kannst.
Sie sind nun viel mit Ihrem Film unterwegs, werden Sie auch wieder mit Ihrer Band „Biting Elbows“ auf die Bühne gehen?
Naishuller: Ja, wenn ich mit der Film-Promotion fertig bin werden wir das nächste Album aufnehmen und wir werden mehrere Musikvideos drehen. Ich will die Welt auch mit der Gitarre bereisen. An dem Film habe ich drei Jahre gearbeitet und in der Zeit nur zwei Songs für den Film aufgenommen. Ich vermisse das Spielen und die unmittelbare Energie, die bei Konzerten zurückkommt. Meine Bandkollegen haben die ganze Zeit geduldig darauf gewartet.