Michael Rhein, ich habe gelesen, dass Sie Interviews nicht besonders mögen. Stimmt das?
Rhein: Nein, wo stand denn das? Es ist natürlich so, dass ich als Sänger häufig angefragt werde, und das ist manchmal anstrengend – aber in der Regel machen mir Interviews immer viel Spaß.
Sie haben aber doch sicherlich nicht nur gute Erfahrungen bei Interviews gesammelt. Können Sie sich noch an das schlimmste Interview ihrer Karriere erinnern?
Rhein: Mein heftigstes Interview fand zur Veröffentlichung von „Sünder ohne Zügel“ in Frankfurt statt. Da kam ein junges Mädel an und hat mich mit zitternder Hand vor laufender Kamera gefragt, was In Extremo mit dem Dritten Reich zu tun hätte – schließlich hätten die damals ja auch viel mit Feuer gemacht. Da ist mir echt kurz die Spucke weggeblieben.
Und wie haben Sie reagiert?
Rhein: Ich habe bloß gesagt „Fick dich, du dummes Huhn!“ und bin gegangen.
Vielleicht sind solche Beschimpfungen der Grund dafür, warum Sie kaum in den sogenannten seriösen Medien stattfindet.
Rhein: Ach, das wird langsam besser. Dadurch, dass unsere letzte Platte sehr erfolgreich war, kommen viele Medien gar nicht mehr darum herum, über uns zu berichten – das ist toll. Aber es war auch ein verdammt langer Weg dorthin.
Speckardt: Plattenverkäufe sind ja immer auch ein Spiegel der Relevanz einer Band. Und unser letztes Album ist immerhin von Null auf Eins gegangen. Da fragt man sich natürlich schon, warum man auf MTV und bestimmten Radiosendern nicht gespielt wird.
Haben Sie das Gefühl, von denen bewusst ignoriert zu werden?
Speckardt: Natürlich. Rein rational ist so eine Nicht-Beachtung schließlich nicht zu erklären.
Rhein: Wir haben schon den Eindruck, dass es bei einigen Medien eine persönliche Abneigungen gegen uns gibt. Früher hat mich so etwas noch aufgeregt und wütend gemacht, aber heute stehe ich da drüber. Wir versuchen jedoch weiterhin, es denen so schwer wie möglich zu machen, indem wir einfach noch erfolgreicher zu werden. Irgendwann können die uns einfach nicht mehr ignorieren (lacht).
Auf dem Song „Hol die Sterne“ haben Sie mit dem Grafen von Unheilig zusammengearbeitet. Sieht man sich die Charts der letzten Monate an, scheint eine gewisse Form von melancholischer Härte mit sehr direkten Texten von Bands wie Ihnen oder Unheilig derzeit sehr gefragt zu sein.
Rhein: Bands wie Unheilig oder wir haben konsequent unseren Stiefel durchgezogen und jahrelang dafür gekämpft. Jetzt fahren wir dafür die Ernte ein.
Umso verwunderlicher erscheint die jahrelang fehlende Unterstützung der Medien. Ist die fehlende Wertschätzung nationaler Künstler ein deutsches Phänomen?
Rhein: Ich denke schon. Sieh dir doch mal eine große deutsche Band wie Rammstein an: Die haben mehr Platten verkauft als die Scorpions, sind größer als die Red Hot Chili Peppers – der Exportschlager schlechthin. Die Medienberichterstattung über Rammstein ist hierzulande aber vergleichsweise gering.
Speckardt: In meinen Augen ist das ein typisch deutsches Problem. Wenn man in Amerika erfolgreich ist, klopfen einem die Leute auf die Schulter. Wenn man in Deutschland erfolgreich ist, hat man sofort Neider.
Am Erfolg ändert das aber letztlich nichts.
Speckardt: Man braucht eben Durchhaltevermögen, muss seine musikalischen Ideen weiterverfolgen und darf sich nicht verbiegen lassen. Der richtige Weg ist immer der, sich selbst treu zu bleiben.
Rhein: Ein anderes Problem ist aber die Szene. Eine Band wie Unheilig hat jahrelang in verrauchten Clubs vor 75 Leuten gespielt, dann kam auf einmal der Erfolg und jetzt wendet sich die Szene ab und schreit „Ausverkauf“ und „Verrat“. Die sollen sich doch freuen, dass es mal eine Band geschafft hat und dass deren Musik nun auch im Radio gespielt wird.
Würden Sie sagen, dass Bands wie Sie oder Unheilig die deutsche Erfolgsgeneration von Gruppen wie Silbermond und Wir sind Helden abgelöst haben?
Rhein: Das kann man nicht miteinander vergleichen. Außerdem sind diese Bands ja nicht weniger erfolgreich. Ich habe außerdem allergrößten Respekt vor einer Band wie Silbermond. Als ich die das erste Mal live gesehen habe, ist mir echt die Kinnlade runtergefallen. Wenn ich in deren Alter musikalisch nur annähernd so weit gewesen wäre wie die, wäre ich froh gewesen.
Kommen wir zu etwas anderem. Sie beide haben sehr einprägsame Spitznamen: Specki und Das letzte Einhorn. Zumindest von Ihnen, Michael, weiß ich, dass Sie nicht mehr sonderlich glücklich damit sind und es Ihnen peinlich ist, auf der Straße mit „Hallo, letztes Einhorn!“ angesprochen zu werden.
Rhein: Ach, was heißt peinlich. Natürlich ist es ein bisschen merkwürdig, wenn dich Leute so begrüßen. Aber irgendwie ist das doch auch witzig.
Woher kommt der Name denn eigentlich?
Rhein: Der ist mir damals auf dem Mittelaltermarkt gegeben worden. Wir haben dort seinerzeit selbst gemachte T-Shirts mit dem Konterfei von Klaus Kinski verkauft, auf denen stand „Das letzte Einhorn“. Irgendwann hat mich dann mal jemand mit „Ey, Einhorn“ angequatscht, weil er nicht wusste, wie ich heiße. Schon hatte ich meinen Namen weg.
Florian, Ihr Name ist eine logische Abkürzung Ihres Nachnamens Speckardt. Sonderlich schmeichelhaft klingt der Name beim ersten Hören trotzdem nicht.
Speckardt: Das macht mir aber nichts aus. Im Gegenteil: Der Name bleibt auf jeden Fall hängen. Ich habe es zumindest noch nie erlebt, dass jemand sich nicht mehr an meinen Namen erinnert hat, wenn ich mich einmal vorgestellt habe. Das wäre sicherlich anders, wenn ich sagen würde, ich heiße Florian. Und darum geht es doch schließlich: Dass man einen Namen hat, den man nicht sofort wieder vergisst.
Michael, Sie haben in einem Interview mal erklärt, dass Ihnen Stillstand zuwider ist. Wie schafft man es denn als Band, ständig in Bewegung zu bleiben – gerade hinsichtlich des Kreativprozesses?
Rhein: Darüber denken wir gar nicht nach. Das passiert ganz von selbst, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht. Wir sind vielseitig interessiert, und das spiegelt sich natürlich auch in unserer Musik wider.
Wir haben schon den Eindruck, dass es bei einigen Medien eine persönliche Abneigungen gegen uns gibt.
In Ihren Anfängen haben Sie auf den Mittelaltermärkten auch schon mal „We will rock you“ von Queen mit Dudelsäcken nachspielten. Das kam allerdings nicht bei allen gut an.
Rhein: Den Leuten vor der Bühne hat das damals gefallen, aber den Veranstaltern nicht. Denen fiel echt die Kappe runter, denn zeitgenössische Songs auf dem Mittelaltermarkt zu spielen war eine Todsünde. Trotzdem standen bei uns 500 Leute vor der Bühne und haben das gefeiert.
Hatte das Konsequenzen?
Rhein: Die Veranstalter haben uns dann eine Zeit lang nicht mehr gebucht. Weil die anderen Bands aber bloß das Palästinenserlied rauf- und runtergespielt haben, wurden wir irgendwann doch wieder angerufen.
Es gibt demnach durchaus einige verbissene Gralshüter, die darauf achten, dass es nicht zu modern wird?
Rhein: Natürlich – wie in jedem anderen Genre auch. Es gibt überall verbohrte Fanatiker, die total verbrettert durch die Welt gehen. Mir tun solche Leute aber eigentlich nur Leid, weil sie sich selbst eine Mauer bauen, die ihnen den Weg zu Neuem versperrt.
Wird es denn schwieriger, musikalisch aufgeschlossen zu bleiben, wenn die letzte Platte ein solcher Erfolg war wie bei Ihnen? Sie könnten schließlich auch einfach so weitermachen.
Rhein: Klar, das könnten wir tun. Einige Leute würden auch gerne noch mal eine Platte wie „Weck die Toten“ von uns hören – unser allererstes Album. Ich versteh bloß nicht wieso. Das wäre doch albern, denn die Platte gibt es schließlich schon. Unsere interne Vorgabe sieht daher genau andersherum aus: Jede neue Platte soll anders klingen als die letzte.
Speckardt: Das Tolle ist ja: Wenn man so eine Musik macht wie wir, dann ist ganz viel erlaubt. Denn wir mixen ja ohnehin bereits Elemente miteinander, die nach vorherrschender Auffassung nicht zusammengehören. Wir haben es jedoch gewagt, dieses einengende Gedankenkonstrukt aufzubrechen – und das verschafft uns wahnsinnig viele Freiheiten.
Rhein: Allein unser riesengroßes Sammelsurium an unterschiedlichen Instrumenten wie Drehleier, Schalmei, Marktsackpfeife oder Cister lassen jede Platte anders klingen als die vorherige. Und trotzdem zieht sich im Sound ein roter Faden durch unsere Alben, sodass man bei jeder Platte sofort heraushört: Das ist In Extremo.
Ist diese musikalische Offenheit so etwas wie ein Leitmotiv bei In Extremo?
Rhein: Absolut. Man sollte sich nie aus Prinzip vor Neuem verschließen – weder als Künstler noch als Mensch. In Extremo gibt es immerhin bereits 16 Jahre. Das wäre ja furchtbar, wenn wir immer bloß dasselbe machen würden.
Speckardt: Ein deutscher Koch würzt schließlich auch nicht bloß mit Pfeffer und Salz, sondern benutzt auch mal Curry oder Kardamom. Man will ja auch nicht jeden Tag bloß Bratkartoffeln essen. Als Musiker ist das ähnlich. Erlaubt ist, was gefällt. Man will schließlich vorankommen und neue Sachen entstehen lassen. Der Stillstand lässt sich aber bereits dadurch aufhalten, indem man mit offenen Ohren durch die Welt geht.
Ihr Bassist Kay Lutter hat in einem Interview mal gesagt, dass Musik das Leben widerspiegeln sollte. Ist das ein weiterer Grundsatz von In Extremo?
Rhein: Natürlich. In unseren Songs geht es immer um Geschichten, die wir irgendwann mal erlebt haben oder mit denen man sich als Zuhörer identifizieren kann. Jeder einzelne von uns gibt durch die Musik etwas von sich preis. Manchmal versteckt, manchmal nicht. Das ist für uns als Band auch ungemein wichtig, denn ansonsten könnten wir auch „Rauf auf den Berg“ im Bierzelt singen.
Sie machen Mittelalter-Rock. Wie schwierig ist es, durch das Benutzen altertümlicher Stilmittel das Leben von heute widerzuspiegeln?
Rhein: Das ist gar nicht schwer. Zumal sich im Kern seit dieser Zeit nicht viel verändert hat. So ein Spielmann von früher, der immer von Dorf zu Dorf gezogen ist, war letztlich nichts anderes als ein Nachrichtenüberbringer – und so sehen wir uns auch.
Was fasziniert Sie denn eigentlich konkret am Mittelalter – auch über die musikalischen Elemente hinaus?
Speckardt: Met (lacht)! Ansonsten ist ja nicht mehr viel übrig geblieben. Spannend finde ich dieses Mystische, dieser Dreck und die verruchten Krankheiten. Das war eine sehr harte Zeit damals.
Rhein: Um es aber direkt mal vorweg zu nehmen: Wir schlafen nicht auf einem Fell und kochen auch nicht über einer Feuerstelle. Fragen danach sind uns nämlich auch schon mal gestellt worden.
Und wo hat diese Faszination ihren Ursprung?
Speckardt: Ich war als Kind häufig bei den Kaltenberger Ritterturnieren, die nahe meines Geburtsortes stattgefunden haben. Dort habe ich mit Holzschwertern immer mit meinen Kumpels gekämpft. Ritter waren eben noch richtige Männer – und als kleiner Steppke wollte man natürlich auch einer sein.
Rhein: Ich habe nach der Wende die ganzen Mittelaltertypen kennengelernt und stand dann irgendwann mit denen mal auf so einem Mittelaltermarkt. Das war wie ein Auffanglager für Leute, die ein bisschen anders waren. Wir sind ständig von Stadt zu Stadt gezogen, und das hat mich total fasziniert. Daraus sind viele Freundschaften entstanden.
Wie lassen Sie sich inspirieren, wenn Sie an einer neuen Platte arbeiten?
Speckardt: Inspiration liefert vor allem das Leben selbst. Wir sind allesamt reflektierende Leute, die sich anschauen, was auf der Welt passiert. Ich bin auch vorher auch noch nie mit einer Band im Studio gewesen, die während der Aufnahmen permanent Nachrichten geschaut hat. Bei anderen Bands laufen meist Action- oder Pornofilme, aber bei In Extremo läuft nonstop der Nachrichtenkanal.
Rhein: Das ist auch auf Tour so. Wenn man mit mehr als einem Dutzend Leute im Nightliner unterwegs ist, kommt man sich manchmal vor wie in einer Zuchtbullenanstalt oder auf dem Weg ins Kinderferienlager. Da braucht man dann ein bisschen Wirklichkeit um sich herum.
Im letzten Jahr haben Sie 15-jähriges Band-Bestehen gefeiert. In so einer langen Zeit gibt es natürlich vorhandene Strukturen, man kennt sich in und auswendig, versteht sich blind. Florian, Sie sind erst letztes Jahr zur Band gestoßen. Wie war es für Sie, als Neuer in solche Strukturen hineinzukommen?
Speckardt: Ich bin sehr warmherzig aufgenommen worden. Da gab es keine Probleme. Trotzdem habe ich mich natürlich gefragt, warum die Band sich von ihrem alten Schlagzeuger getrennt hat.
Rhein: Das ist in beidseitigem Einvernehmen geschehen. Unsere Aufgabe war es dann, jemanden zu finden, mit dem es auch menschlich passt. Wir wollen schließlich niemanden knechten, der sich seinen Status noch erspielen muss. Wenn ein Neuer in die Band kommt, hat der von Anfang an sämtliche Rechte – genau wie die Alteingesessenen auch.
Speckardt: Es war den Jungs daher von Anfang an wichtig, dass ich meine Meinung sage und eigenen Input mitbringe. Trotzdem durfte das natürlich nicht so weit gehen, dass ich die Band verbiege – das ist ein sehr schmaler Grad. Schließlich hätte eine Band wie In Extremo nicht ihren jetzigen Status, wenn sie bisher alles falsch gemacht hätte. Ich musste also lernen, warum die Band so erfolgreich ist und wie ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass das so bleibt – oder noch besser wird.
Michael, Sie haben mal gesagt, dass Sie sich in den 16 Jahren Ihres Bestehens kein bisschen verändert hätten – also doch Stillstand.
Rhein: Nein, kein Stillstand – auch wenn wir uns nicht verändert haben. Der ein oder andere hat bloß ein…
Speckardt: …gewaltiges Rad ab.
Rhein: Ja, das auch. Immer schon (lacht). Im Titelstück der neuen Platte heißt es: „Sieben Sterne, sieben Funken, sieben Macken“ – und das passt wie Arsch auf Eimer. Wir haben ein paar Falten dazubekommen, verlebtere Fressen und vielleicht ein paar Kilos mehr auf den Rippen. Ansonsten sind wir aber noch dieselben dämlichen Idioten geblieben. Im positiven Sinne.
Das mag man gar nicht glauben, weil in dieser Zeit so unglaublich viel innerhalb der Band passiert ist. Michael, Sie haben sich beispielsweise mal bei einer Feuerspuckeinlage vor vielen Jahren schwere Verbrennungen zugezogen.
Rhein: Ja, stimmt. Das ist Berufsrisiko. Ein Tischler muss schließlich auch damit rechnen, dass er sich mal einen Finger absäbelt.
Aber wenn man sich Ihre Biografie ansieht, war das nicht der einzige Schicksalsschlag. Ihr ehemaliges Band-Mitglied Thomas Mund hat sich im Jahr 2000 wegen schweren Depressionen in eine Klinik einweisen lassen. Ihr Bassist Kay Lutter bekam ein Jahr später Darmkrebs diagnostiziert. Wie sind Sie damals damit umgegangen? Das hat doch sicherlich einen Einfluss auf die Band gehabt.
Rhein: Natürlich. Wir sind wie eine Familie, und das trifft einen natürlich. Als ich das von Kay damals gehört habe, stand ich regelrecht unter Schock. Aber umso stärker hält man in solchen Zeiten auch zusammen. Er hat später auch gesagt, dass ihn die Band letzten Endes am Leben gehalten hätte.
Im Jahr 2003 standen Sie sogar mal kurz vor der Auflösung als herauskam, dass Sie von Ihrem damalige Management um eine halbe Millionen Euro betrogen wurden. Wie lange hat es damals gedauert, diesen Rückschlag und den Vertrauensmissbrauch zu verarbeiten?
Rhein: Sehr lange. Wir hatten gerade „Sünder ohne Zügel“ veröffentlicht, unsere Plattenfirma hat Insolvenz angemeldet und einen riesigen finanziellen Schaden bei uns hinterlassen. Die anschließende Tour haben wir mit 450.000 Euro Schulden beginnen müssen. Glücklicherweise ist die Platte gut eingeschlagen und wir haben vor ausverkauften Häusern gespielt. Unsere Fans haben uns dadurch wortwörtlich den Arsch gerettet.
Hat dieser Vorfall Einfluss auf Ihr Menschenbild genommen? Fällt es Ihnen seitdem schwerer, Menschen zu vertrauen?
Rhein: Natürlich war das ein einschneidendes Erlebnis. Wir wurden von Leuten beklaut, die bei mir zuhause ein- und ausgegangen sind. Das war für mich unbegreiflich. Du ziehst doch nicht jahrelang mit einem Kumpel durch die Kneipen und klaust ihm dann die Kohle aus der Brieftasche. Wenn es den Begriff „Fotze“ nicht schon gäbe, hätte ich ihn für diese Leute erfinden müssen.