Frau Kloepfer, Franz Müntefering sagte im Oktober 2006, das Wort „Unterschicht“ sei ein Begriff von lebensfremden Soziologen und habe mit Politik nichts zu tun. Es gäbe in Deutschland keine Ober- und keine Unterschicht. Was haben Sie damals gedacht, als Sie diese Äußerung hörten?
Kloepfer: Ich dachte, dass Herr Müntefering lange nicht in den einschlägigen Vierteln gewesen sein muss, in denen die Existenz einer benachteiligten Schicht überdeutlich wird. Oder dass er aus politischem Kalkül heraus den Begriff „Unterschicht“ ablehnen muss, auch wenn es nicht der Wirklichkeit entspricht.
War Münteferings Äußerung der Anlass für Sie, das Buch „Aufstand der Unterschicht“ zu schreiben? Wollten Sie seine Aussage widerlegen?
Kloepfer: Nein, ich hatte das Konzept des Buches schon im Mai 2006 meinem Verlag angeboten, also ein halbes Jahr bevor die Veröffentlichung der von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ eine öffentliche Debatte über die „neue Unterschicht“ auslöste.
Wie würden Sie persönlich den Begriff „Unterschicht“ definieren?
Kloepfer: Die Unterschicht lässt sich durch drei Merkmale definieren: das erste ist eine prekäre materielle Situation, den Leuten geht es also nicht gut. Das zweite ist eine gewisse Bildungsferne: die Menschen wissen zu wenig, um in unserer hochgezüchteten und auf Produktivitätssteigerung ausgerichteten Bildungsgesellschaft Fuß fassen zu können. Der dritte Punkt ist schließlich, dass die Mitglieder der Unterschicht ein Verhalten an den Tag legen, das in ihrem Sozialisationsprozess begründet ist und das dazu führt, dass sich ihr Status noch weiter verfestigt. Sie bleiben dadurch also in der Unterschicht und haben wenig Chancen, ihrem Milieu zu entwachsen.
Sie zeichnen im Prolog des Buches ein düsteres Zukunftsszenario. An einem Sommerabend des Jahres 2020 versammeln sich Mitglieder der Unterschicht in der Münchner Innenstadt zu einem Aufstand. Müssen wir uns in Deutschland auf französische Verhältnisse einstellen?
Kloepfer: Ja, das glaube ich. Auch die Soziologen und Wissenschaftlicher, mit denen ich im Zuge meiner Recherchen gesprochen habe, halten es für gar nicht unwahrscheinlich, dass wir hier in Deutschland französische Verhältnisse bekommen – allerdings nicht in den Vorstädten, weil wir die in dieser Form nicht haben. Aber man muss nur einmal an die Krawalle 2006 im Berliner Wrangelkiez in Kreuzberg zurückdenken, um sich vorstellen zu können, was hierzulande möglicherweise noch auf uns zukommt. So unwahrscheinlich ist es nicht, dass irgendwann eine Aufstandswelle durch unser Land schwappt. Der Aufstand wird allerdings nicht in Form einer Art „Sturm auf die Bastille“ ablaufen, sondern wahrscheinlich eher unorganisiert. Wer meint, die Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind und werden, seien vollkommen lethargisch, mag vielleicht in Bezug auf die Menschen im mittleren Lebensalter Recht behalten, aber nicht in Bezug auf die jüngeren.
Sie schildern im Buch das Schicksal des neunzehnjährigen Jascha, über den Sie sagen, dass seine Biographie voller Ungerechtigkeiten steckt. Was ist bei ihm schiefgelaufen?
Kloepfer: Bei ihm ist im Grunde von Beginn seines Lebens an alles schiefgelaufen. Er wurde in eine Familie hineingeboren, die durch ihre soziale Benachteiligung gar nicht in der Lage war, ihre Kinder richtig zu erziehen. Er hat in Stadtvierteln gelebt, in denen sich solche Menschen dann zusammenfinden, weil die Wohnungen dort billig sind. Er ist schließlich auf die falschen Schulen gegangen und wurde somit auch dort gewissermaßen aussortiert und benachteiligt. Und so ging das sein ganzes junges Leben lang bis heute weiter. Das Traurige ist, dass er nie die Möglichkeit hatte, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Wie haben Sie Jascha kennengelernt?
Kloepfer: In Berlin ist es – wie übrigens auch in jeder anderen Großstadt – nicht schwierig, solche Jugendlichen zu finden. Man kann zum Beispiel junge Menschen ansprechen, die an den S-Bahnhöfen stehen und alte Fahrscheine weiterverkaufen. Das ist übrigens ein Phänomen, das man nicht nur in Neukölln oder Kreuzberg, sondern auch im besten Charlottenburg beobachten kann. Wenn man diese jungen Menschen anspricht und sie mal auf einen Kaffee einlädt, dann sind die meisten gewillt, zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Mit Jascha habe ich mich über mehrere Monate getroffen, insgesamt wohl zehn Mal.
Kennt Jascha den Inhalt des Buches? Weiß er, was Sie über ihn geschrieben haben?
Kloepfer: Nein, das weiß er nicht und er weiß auch nicht, dass es ein Buch über ihn gibt. Er wusste nur, dass ich die Recherchen für eine größere Arbeit mache. Um seine Persönlichkeitsrechte zu schützen, habe ich im Buch seinen Namen und einige Konstellationen geändert. Auch, weil ich sehr harte Urteile über seine Zukunftschancen fälle. Denn im Buch ist er der Prototyp des Teils einer Generation, die von Geburt an zum Scheitern verurteilt ist. Gleichwohl ist seine Geschichte authentisch, vor allem seine Reflexion darüber.
An einer Stelle des Buches sagt Jascha über einen Freund: „Er hat sich unser Vertrauen erworben.“ Ist das Jaschas Sprache? Sind seine Aussagen im Buch Original-Zitate?
Kloepfer: Ja, und ich war manchmal wirklich erstaunt, wie gewählt er sich ausdrücken konnte, fast gestanzt. Er hat mir zum Beispiel gleich zu Beginn erzählt, wo er aufgewachsen ist und hat dann gemeint: „Wir waren dort eine beträchtlich lange Zeit.“ Das Interessante daran ist – und deshalb glaube ich auch, dass er intelligent ist -, dass er sich meinem Sprachniveau in gewisser Weise angepasst hat. Ich habe mit ihm so geredet wie ich immer rede, und Jascha hat bisweilen ganz verblüffende Ausdrucksformen verwendet. Er ist nicht dumm – er kann zwar nicht rechnen, konnte mir aber beispielsweise alle polnischen Teilungen durchdeklinieren, weil ihn Geschichte immer sehr interessiert hat. Und insofern sah ich dann auch keinen Grund dafür, seine Ausdrucksweise im Buch zu ändern.
Haben Sie noch Kontakt zu Jascha?
Kloepfer: Nein, der Kontakt ist abgebrochen. Irgendwann wollte er sich nicht mehr mit mir treffen, was natürlich verständlich ist, weil er sich in den Gesprächen mit mir ständig mit seinem eigenen Scheitern auseinandersetzen musste.
Waren die Begegnungen mit Jascha und die Arbeit am Buch belastend für Sie?
Kloepfer: Die Arbeit war insofern belastend, als dass man, wenn man selbst Kinder hat, aufpassen muss, angesichts der Chancenlosigkeit von Kindern wie Jascha nicht wütend zu werden. Man fragt sich, warum sich niemand um ihn gekümmert hat. Wenn man dann auch noch andere junge Menschen trifft, die Jaschas Schicksal teilen, kann man das eigentlich gar nicht glauben. Es wäre so einfach, ihnen zu helfen. Es müsste nur jemanden geben, der sich für sie interessiert. Dieser Umstand ist zugegebenermaßen schon schwer erträglich.
So unwahrscheinlich ist es nicht, dass irgendwann eine Aufstandswelle durch unser Land schwappt.
Was hätte aus Jascha werden können, hätte man ihn früher unterstützt?
Kloepfer: Wenn er besser im Kindergarten gefördert worden wäre, wenn er eine gute Ganztagesschule besucht und jemand in der Oberschule sein Talent für Geschichte gefördert hatte, dann hätte er sicherlich das Abitur machen können. Davon bin ich überzeugt.
Ist es nicht unbefriedigend für Sie, dass sich an den Verhältnissen wohl nichts ändern wird? Oder meinen Sie, dass Ihr Buch etwas an den Umständen ändern kann?
Kloepfer: Es würde mich freuen, wenn jemand das Buch liest und sich danach entschließt, sich zu engagieren – beispielsweise als Hausaufgaben-Pate oder indem er einen Verein gründet. Im Grunde brauchen wir viele solcher Bücher, damit auch die Politik unter Druck gesetzt wird, denn dort befinden sich schließlich die eigentlichen Stellschrauben für das Problem. Die großen Systemfehler müssen ausgebügelt werden.
Sie schreiben: „Wissen, Konsens und Geld – wir verfügen über alles, was notwendig ist, um das Ruder herumzureißen. Der Skandal ist, dass trotz alledem nichts passiert.“ Haben Sie eine Erklärung dafür, warum nichts passiert?
Kloepfer: Schlicht und einfach, weil die Investition in Bildung eine Investition ist, deren Früchte sich erst nach vielen Jahren zeigen werden. Für Politiker ist das einfach zu langfristig, sie haben einen viel kurzfristigeren Horizont und deshalb ist es für sie überhaupt nicht opportun, sich auf diesem Feld besonders zu engagieren. Ich kann hier zur Verdeutlichung zwei Dinge anführen: zum einen die kürzlich beschlossene Rentenerhöhung, jenseits der gesetzlich festgelegten Rentenformel, die Deutschland in den nächsten Jahren 12 Millionen Euro kosten wird – das ging überraschend und im Handumdrehen. Dagegen fand vor kurzem der sogenannte „Bildungsgipfel“ statt, der drei Stunden dauerte und bei dem neben Fototermin und gemeinsamem Mittagessen der Politiker kaum Zeit für Gespräche blieb. Es ist dabei überhaupt nichts rausgekommen – kein Cent mehr für die Bildung, lediglich vage Zusagen. Daran sehen Sie, was opportun ist: bei den Rentnern, die zur Wahl gehen, kommt die Rentenerhöhung sofort an; das andere wären Investitionen in die Zukunft, die sich lohnen würden, die allerdings in das kurzfristige Optimierungskalkül der Politiker nicht passen.
Kritiker warfen Ihnen Sozialromantik vor, es habe schon immer Gewinner und Verlierer gegeben. Was entgegnen Sie diesen Kritikern?
Kloepfer: Ich plädiere für einen Leistungswettbewerb auf Basis einer gewissen Chancengleichheit und ich glaube, das Buch lässt keinen Zweifel daran, wie schwierig es ist, dies zu erreichen. 20 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben diese Chancengerechtigkeit schließlich nicht. 6 bis 8 Prozent wären für eine Gesellschaft normal, aber 20 Prozent sind einfach zu viel.
Was müssen wir für mehr Chancengleichheit tun? Wo müssen wir konkret ansetzen?
Kloepfer: Zunächst einmal muss man versuchen, jene Familien in deklassierten Milieus zu unterstützen, die Kinder bekommen. Da gibt es in Amerika bereits sehr erfolgreiche Versuche, bei denen Sozialarbeiter insbesondere die Mütter über Jahre hinweg dazu motiviert haben, viel mit ihren Kindern zu sprechen. Nach etwa sieben Jahren dieses Einsatzes wiesen die Kinder aus den benachteiligten Schichten in ihrer Entwicklung kaum Nachteile gegenüber Mittelschichtkindern auf. Man muss also schlicht und einfach die Kinder in benachteiligten Milieus besser fördern, Kindertagesstätten ausbauen, Kindererzieher besser ausbilden, Netzwerke in den Problemvierteln aufbauen, die Familien besuchen. Man müsste viel professioneller an die Sache herangehen, was leider nicht getan wird.
Sie schreiben im Buch, die Mittel- und Oberschicht hätte immer davon profitiert, dass wir auch Systemverlierer produzierten. Wie meinen Sie das?
Kloepfer: Die Mittel- und Oberschicht profitiert insofern, als dass die Unterschicht eben nicht am Leistungswettbewerb teilnehmen kann. Es tritt eine kleinere Grundgesamtheit an, weil Kinder aus der Unterschicht, auch leistungsstarke, im Grunde von Vornherein an den Hürden und Übergängen des Schulsystems aussortiert werden. Schwache Gymnasiasten verfügen zum Beispiel nicht über mehr Kompetenzen als der Mittelwert der Hauptschüler. Da fragt man sich natürlich schon, warum bestimmte Kinder auf den Hauptschulen sind und dort überhaupt keine Chance mehr haben, in einen Wettbewerb zu treten. Ein Kind aus einer besser gestellten Schicht, das vielleicht gar nicht so fit ist, kommt eher aufs Gymnasium, wird dort durchgezogen und hat dann gegenüber einem eigentlich gleichstarken Kind in einer niedrigeren Schulform bessere Chancen, obwohl das eigentlich gar nicht so sein müsste.
Was sagen Sie zu den gerade veröffentlichten Ergebnissen der aktuellen Pisa-Studie, bei denen insbesondere die neuen Bundesländer verhältnismäßig gut abgeschnitten haben?
Kloepfer: Zunächst einmal sind die Daten ja nicht neu, sondern stammen aus dem Jahr 2006. Und der Grundtenor ist leider noch der gleiche wie vor drei Jahren: etwa jedes fünfte Kind in Deutschland kann zu wenig, wird also für den Arbeitsmarkt nicht brauchbar sein. Die Ländervergleiche sind natürlich interessant, weil sie dank der großen Sprünge, die zum Beispiel Sachsen gemacht hat, die Schulstrukturdebatte meiner Meinung nach in die richtige Richtung lenken können. Aber natürlich ist es auch schwierig, ein Land wie Sachsen mit einer schrumpfenden Kinderzahl und einem guten Verteilerschlüssel von Lehrern und Schülern mit einem Land wie Bremen zu vergleichen. Denn den Bremer Kindern in den Schlagzeilen das vermeintliche Versagen der Bremer Schulen entgegen zu schleudern ist natürlich hochproblematisch. Grundsätzlich gilt, dass Deutschland durch die Pisa-Studien schon enorme Bildungsanstrengen aufnimmt. Aber es reicht noch nicht. Und es wäre noch mehr gewonnen, würde man diese Anstrengungen noch weiter nach unten in den frühkindlichen Bereich verschieben.
Wie lange dauerten die Recherchearbeiten für „Aufstand der Unterschicht“ und wie lange haben Sie dann am Buch geschrieben?
Kloepfer: Das Buch habe ich in zwei bis drei Monaten geschrieben. Wenn ich meine Gespräche mit Jascha und die Recherchen noch einbeziehe, dann hat die Arbeit insgesamt etwas mehr als ein Jahr gedauert. Das ganze Material heranzuziehen und zu lesen, war auch gar nicht so aufwändig, wie man vielleicht meinen könnte. Studien erschließen sich einem meistens sehr schnell und die Wissenschaftler, die ich getroffen habe, waren unheimlich offen, haben mir sofort Termine gegeben und haben mich mit großer Selbstverständlichkeit unterstützt. Dafür bin ich ihnen natürlich dankbar. Viele von ihnen haben das wohl vor allem deshalb getan, weil sie mit ihren exzellenten Studien breite Bürgerschichten eher nicht erreichen. Auch bei den Jugendämtern habe ich große Unterstützung erfahren – denen brennt das Thema natürlich auch auf den Nägeln und sie sind froh, wenn sich jemand dafür interessiert.
Sie selbst haben zunächst Sinologie und Japanologie studiert und sich erst verhältnismäßig spät für ein zusätzliches VWL-Studium entschieden. Warum?
Kloepfer: Zunächst wollte ich einfach einmal eine schwere Sprache lernen und habe mich dann für Chinesisch entschieden, weil ich ein Jahr lang in England auf einem Internat gewesen bin. Dort gab es immer sehr viele Asiaten und ich fand es unheimlich spannend, wie diese kommunizierten, mich haben vor allem auch die Schriftzeichen interessiert. Dann war ich während des Studiums ein Jahr in China und als ich von dort zurückkam, wollte ich einfach noch etwas Neues machen. Ich konnte fließend Chinesisch sprechen und Zeitung lesen und habe mich dann für Volkswirtschaft entschieden. Alles, was mit Geld zusammenhängt, hat mich schon immer interessiert. Ich war anschließend auch fünf Jahre Finanzredakteurin bei der F.A.Z. und habe dort über die Aktienmärkte und die Großbanken geschrieben.
Sie haben vor einigen Jahren ein Buch über Peter Hartz geschrieben, dessen Name für die größte Sozialsystemreform der Nachkriegsgeschichte steht und der durch Lustreisen und Bestechungen während seiner Zeit als VW-Manager in die Schlagzeilen geriet. Wie Jascha haben Sie auch ihn stundenlang befragt. Macht es für Sie einen Unterschied, mit wem Sie sprechen?
Kloepfer: Vom Inhaltlichen her natürlich schon, aber ich hatte das Glück, dass alle Leute, mit denen ich bislang gesprochen habe, unheimlich offen waren und sehr ehrlich erzählt haben. Und ich denke, alle meine Gesprächspartner wollten etwas loswerden und waren froh, dass sie in mir jemanden gefunden hatten, der ihnen zuhört – und das eben nicht nur für eine halbe Stunde, sondern über einen längeren Zeitraum.
Für Ihre Biographie über die Verlegerwitwe Friede Springer wurden Sie als „Wirtschaftsjournalistin des Jahres“ ausgezeichnet. Als Sie 2001 bei Springer für ein Portrait anfragten, erhielten sie zunächst eine Absage, drei Tage später dann aber doch noch eine positive Antwort. Haben Sie erfahren, warum?
Kloepfer: Ich habe Friede Springer nie danach gefragt. Deshalb könnte ich nur mutmaßen. Im Grunde signalisiere ich meinen Gesprächspartnern immer mein Verständnis dafür, wenn sie nicht reden wollen. Jeder hat das Recht, Dinge für sich zu behalten. Ich denke, meine Gesprächspartner sind gut bei mir aufgehoben, weil ich gar nicht auf die Idee kommen würde, Wissen vorab oder in einem anderen Rahmen zu verwenden, als ich es vorher angekündigt habe. Sie wissen also ziemlich genau, worauf sie sich einlassen.