Iris Radisch

Wir brauchen bessere Väter.

Iris Radisch über Familienmodelle, Hausfrauen-Ehen, ihre Forderung nach einer „Familienzeit“ und warum es zu wenig gute Väter gibt

Iris Radisch

© Klaus Kallabis

Frau Radisch, was hat Sie dazu bewogen sich in der aktuellen Debatte um Frauenbilder, neue Männer und Familienplanung zu Wort zu melden?
Radisch: Zwei Dinge waren das: zum einen meine zehnjährige persönliche Erfahrung. Ich bin sozusagen durch das Leben auf das Familienthema gekommen, da ich selbst drei Kinder habe und voll berufstätig bin und dies auch während Kleinkindphase war. Ich habe also eine Menge Erfahrung und bin vor allem durch die Doppelbelastung an meine Grenzen gekommen.
Dazu kam das Gefühl, dass in diesen Vereinbarkeitsdebatten, die im Augenblick geführt werden, sehr viele Märchen erzählt werden. Da wollte ich manches gerade rücken und einen Appell für eine Öffnung dieser Debatte starten. Die zweite Motivation war diese ‚Gebärkampagne’, die im Anschluss an die Demographiedebatte in den Medien stattgefunden hat.

Inwiefern?
Radisch: Mich hat einfach geärgert, wie junge Frauen vor allen Dingen von Männern – von männlichen Journalisten – unter Druck gesetzt werden, weil sie angeblich zu wenig Kinder produzieren, ohne dass im Anschluss gefragt wird, wie denn das in den modernen Lebensbedingungen überhaupt möglich sein soll; wenn man nicht wieder auf die alten tradierten Familienmodelle zurückgeht, was wir Frauen ja in den seltensten Fällen wirklich wollen.

Sie halten offenbar nicht viel von der traditionellen Familie…
Radisch: Ich halte den Rückschritt in die tradierte Familie für unmöglich – für mich ist das einfach nicht zukunftsfähig. Ich kenne viele junge Frauen, die viel Spaß haben zu arbeiten, die toll ausgebildet sind, die gebraucht werden in der Arbeitswelt, die neue spannende Dinge anstoßen, dass es einfach ein Jammer wäre, diese jungen Frauen rauszudrängen. Diese Form des Rückschritts kommt für mich überhaupt nicht in Frage und die Debatte darum halte ich für völlig scheinheilig.

Wobei sich doch auch manche Frauen die traditionelle Familie wünschen.
Radisch: Ich sage ja nicht, dass ich der einen oder anderen Mutter, die sich ausschließlich für das Muttersein entscheidet, nicht alles Gute wünsche. Aber wir müssen uns überlegen, welches ein favorisiertes Modell für die gesamte Gesellschaft sein kann. Und da denke ich, als Frau zu Hause zu bleiben wird für junge Frauen keine Zukunft haben. Diese Hausfrauenehen in millionenfacher Ausführung – das kann nicht unsere Zukunft sein.
Dann haben wir in der Diskussion die andere Front, die sagt: Frauen sind voll berufstätig, wir helfen ihnen und kümmern uns um bessere Kinderbetreuung… – das begrüße ich natürlich. Aber auch da sehe ich eine Menge Mythen und Verharmlosungen, weil ich weiß, was es heißt, vollzeit zu arbeiten und eine Familie zu stemmen: Familie, das ist dann eine Sache von 30 Minuten. Das ist nämlich die Zeit, die übrig bleibt, wenn man sich dem Arbeitsprozess rückhaltlos zur Verfügung stellt. Das funktioniert nicht. Wir haben also die Unmöglichkeit auf der einen und die Perspektivlosigkeit auf der anderen Seite.

Wie würden Sie das ändern wollen?
Radisch: Aus der Sachlage resultiert meine Forderung nach Familienzeit. Bisher sind wir in diesem Punkt starr und phantasielos. Wir können ja so viel, wir können die tollsten Apparate herstellen, alle paar Monate ein neues Automodell, wir können ins All fliegen. Was wir aber offenbar nicht schaffen: die Arbeitszeit am Nachmittag für Eltern zu flexibilisieren. Und das kann nicht wahr sein! Ich halte es für vollkommen absurd, dass das so starr sein muss. Man will es aber nicht ändern, weil kein wirtschaftliches Interesse dahinter steht, sondern ‚nur’ das Interesse der Familien – doch gerade die müsste man stärken. Im Grunde ist das also eine Wertediskussion…

…die in Deutschland noch zu wenig geführt wird?
Radisch: Wir brauchen in diesem Bereich einen Mentalitätswandel. Aber der Anstoß muss zunächst mal aus den Familien selbst kommen. Wir Familien müssen das fordern! Damit nicht alles auf den Schultern der Frauen lastet, die dann massenhaft wieder nur Teilzeit arbeiten, halbe Stellen haben, wo sie ihr Leben lang darauf sitzen bleiben, auch wenn die Kinder groß sind – das ist ja die Standardlösung im Augenblick. Aber das ist nicht richtig. Die Frauen müssen immer weiter integriert werden in die Arbeitswelt und gleichzeitig muss man Männern und Frauen erleichtern ein paar Stunden am Nachmittag vertreten zu werden.

Wie soll das in der Praxis aussehen?
Radisch: Wenn zum Beispiel Mutter und Vater – das wäre mein Ideal – zwei Nachmittage bekämen, an denen sie um 15 Uhr nach Hause gehen können und ab 16 Uhr mit ihren Kindern zusammen sind, wäre das eine enorme Entlastung und würde überhaupt erst einmal so etwas wie Familienleben ermöglichen. Dass selbst Topmanager nicht an zwei Nachmittagen vertreten werden können, kann ich nicht glauben. Wir müssen nicht immer alle bis 19, 20, 21 Uhr in unseren Büros sitzen, wenn wir kleine Kinder haben. Das kann nicht sein und ich finde auch, wir müssen uns das nicht weiter bieten lassen.
Das ist der Anstoß, den ich in meinem Buch geben will. Ich möchte diese ganzen Mythen dekonstruieren und einfach sagen: Schaut euch unsere Lebenswirklichkeit an!

Nun schreiben Sie in Ihrem Buch ja auch über das Zusammenleben in einer Partnerschaft…
Radisch: Ja, ich habe mich gefragt, warum die Familien heute so porös sind, warum sie von innen heraus auseinanderbrechen. Familien haben es von außen schon so schwer, aber von innen zerbrechen sie auch: diese vielen alleinerziehenden Frauen, diese vielen Kinder, die ohne Väter groß werden. Es war mir ein großes Anliegen, darüber zu schreiben, weil ich finde, dass man das Leid dieser Kinder verharmlost. Deswegen heißt ein großes Kapitel in meinem Buch: „Die Liebeskatastrophe“.
Eltern übertragen das ökonomische Verhalten, das ihr Leben auf dem kapitalistischen Warenmarkt bestimmt, sehr schnell auch auf die Liebesverhältnisse…

… an diesem Punkt scheint es, als würden Sie tradierte, moralische Werte vertreten.
Radisch: Ja, das tue ich auch ganz offensiv. Ich will zwar nicht die traditionelle Familie zurückhaben, aber ich will die Familie trotzdem schützen und sie nicht preisgeben.
Und es sind ja nicht nur die Konservativen, die die Familie schützen wollen. Das dürfen wir denen auch nicht alleine überlassen. Familie ist etwas, was jeder Mensch braucht, vielleicht ist Familie sogar eine der letzten revolutionären Zellen, in welcher die Mechanismen des Marktes zumindest partiell ausgeklammert sind, in der man sich nach anderen Prinzipien richtet, nämlich Solidarität und Fürsorge. Das sind Prinzipien, die in ökonomischen Abläufen nicht vorkommen können. In der Familie ist das aber alles da und deswegen müssen wir sie schützen. Da bin ich auch moralisch. Ich finde, dass Verantwortung für Kinder, Moral in der Elternschaft wichtige Werte sind. Man muss sich nur überlegen, wie sie in modernen Lebensverhältnissen realisiert werden können. Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Wenn wir unsere Liebesverhältnisse alle paar Jahre wieder auf den Gebrauchtwahrenmarkt schmeißen und uns die nächste Ware holen, wie ein neues Auto, kann das für die Familie nicht gut sein – und vor allen Dingen für die Kinder nicht.

Aber eine komplette Abkehr vom Lustprinzip ist auch nicht das, was Sie wollen?
Radisch: Lust ist nicht mein Stichwort. Mein Stichwort ist eher Glück. Ich schreibe in meinem Buch von einer Kritik des Glücks. Man muss sich überlegen, was Glück eigentlich ist, ob es wirklich in der ständigen Optimierung von Wünschen, also auch von Partnerwünschen liegt. Was Glück wirklich ist, das muss natürlich jeder für sich selbst bestimmen. Ich stelle nur in Frage, ob das Labile und Schnelllebige, was wir im Augenblick haben, gut für uns ist. Meiner Ansicht nach sieht man immer über die Kinder hinweg und tut so, als ob sie das alles aushalten müssten. Das tun sie aber nicht. Jedes dritte Kind in den alten Bundesländern, lebt ohne Vater. Ich finde das ein Drama. Das ist eine neue vaterlose Generation, die da heranwächst. Damit kann man sich nicht zufrieden geben .

Was wünschen Sie denn Ihren Kindern?
Radisch: Erstens, ganz dringend bessere Väter, als wir sie im Augenblick im Durchschnitt haben. Natürlich gibt es tolle Väter, klar, aber das sind einfach zu wenige. Bessere Väter, verantwortungsvolle Väter, Väter die Elternschaft als Aufgabe und Verantwortung mit der Mutter teilen. Das ist ganz wichtig, diese Gleichberechtigung in der Partnerschaft – in der Liebe sowieso – aber eben auch Gleichberechtigung in der Verantwortung für die Kinder. Männer geben das zu schnell ab oder resignieren zu schnell, sagen, sie schaffen es halt nicht und überlassen es dann wieder den Frauen. Also, ich wünsche meinen Töchtern ganz tolle Männer und das sind sie für mich nur, wenn sie auch tolle Väter sind. Schon allein in ihrem Paarungsverhalten wünsche ich mir, dass sie sich immer die Frage stellen: Könnten das auch tolle Väter sein? Ein cooler Typ – das ist einfach zu wenig.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch über Ihre „Zombiezeit“ – vermissen Sie diese Zeit manchmal?
Radisch: Die war teilweise wunderbar. Wir sind ja ganz entfernt von Familie und überhaupt von Kinderfragen groß geworden. Das war natürlich auch eine sehr freie Zeit, dass muss ich ehrlich sagen. Ich habe ja ganz spät Kinder bekommen und wie viele in der gebildeten Mittelschicht eine sehr lange Ausbildung gehabt. Ich finde das auch gut. Wenn die älteren Frauen heute in der Zeitung schreiben: Mädels, kriegt mit 21 Eure Kinder und danach könnt ihr euch vorbehaltlos der Wirtschaft zur Verfügung stellen… (lacht) und macht eure Ausbildung mal eben so neben der Kindererbetreuung – ich finde das alles sehr problematisch.

Was raten Sie jungen Frauen?
Radisch: Ich finde es wichtig, dass man während der Ausbildung auch kreative Freiräume hat, dass man Platz zur Erprobung hat. Wenn das alles nicht mehr gegeben ist, sondern auch da das Effizienzprinzip von A bis Z abgearbeitet wird, ist das sehr schade.
Ich empfand die Freiheiten, die ich in meiner Zeit hatte, als sehr wichtig und angenehm.

Wie haben Sie sich als Zwanzigjährige Ihre Zukunft ausgemalt?
Radisch: Ich war sehr sorglos, vielleicht viel zu sorglos. Obwohl es auch damals hieß: Wir brauchen euch nicht. Vielleicht noch viel schlimmer als heute, weil wir ja so viele waren. Ich kam aus einem dieser geburtenstarken Jahrgänge. Aber ich war merkwürdigerweise sehr sorglos und habe mich sehr meinen Interessen hingegeben. Ich habe studiert, was mich interessiert hat, ohne mir dabei zu überlegen, ob ich damit irgendwelchen Sicherheiten entgegenstrebe. Das war vielleicht ein bisschen leichtsinnig. In meinem Fall ist es ja – Gott sei dank – gut ausgegangen.

Die Probleme, die Sie heute als Mutter und beruflich erfolgreiche Frau in einem Buch besprechen, haben Sie damals noch nicht gesehen?
Radisch: Nein, offengestanden ist mein Buch auch eher für junge Leute geschrieben. In dem Buch stehen meine Erfahrungen, auf die ich zurückblicke und die ich gern weitergeben würde. Das sind Einsichten und Lebenserfahrungen, die ich mit 20 oder mit 25 auch noch nicht hatte.

Stichwort Lebenserfahrung: Sie schreiben, dass einer immer der Verlierer ist, dass eine Seite immer den Preis zahlen muss, „entsagen“ muss. An welcher Stelle mussten Sie entsagen?
Radisch: Das ist eher eine Beschreibung des Ist-Zustands. Im Augenblick zahlen die Mütter, aber auch die Kinder einen hohen Preis. Wenn die Mütter zurückstecken für die Kinder, dann zahlen die Mütter den Preis und wenn sie es nicht tun – was auch ich gemacht habe – haben meine Kinder einen relativ hohen Preis bezahlt; ich aber auch, weil die Erschöpfung natürlich bleibt. Die Frage, wie und wann Familienleben bei Vollberufstätigkeit überhaupt noch stattfinden soll, ist auch noch ungeklärt. Dafür hat bisher niemand eine Lösung. Was ich schlimm finde, ist, dass das Problem nicht wirklich auf dem Tisch ist. Es wird immer nur von den Konservativen vorgebracht, die sagen, alles sei so schädlich für die Kinder …

… und die vor allem einen Sündenbock für diesen Zustand benennen möchten…
Radisch: … ja, es wird den Schulen zugeschoben, die müssten das Problem lösen. Aber es ist auch Familiensache. Das ist mir so wichtig: Berufstätigkeit ja, aber nicht um den Preis, dass Familienleben auf 30 Minuten reduziert wird. Man darf das Familienthema nicht nur der Restauration überlassen, oder den Wirtschaftsliberalen, denen das vollkommen unwichtig ist. Man muss ganz aus der Familie heraus argumentieren, ohne die Augen davor zu verschließen, dass wir in einer modernen Welt leben.

Glauben Sie, dass sich etwas verändern kann, verändern wird?
Radisch: Ganz sicher. Man kriegt die jungen Frauen doch nicht wieder zurück nach Hause in die Kinderzimmer. Das ist Augenwischerei. Damit macht man im Augenblick noch Auflage, aber das wird nicht die Zukunft sein. Wenn ich mir die jungen Frauen so anschaue – für keine von ihnen ist das ein attraktives Modell. Die haben so viel Spaß an ihrem Leben und es ist ja auch langweilig, wenn man sich nicht entfalten kann, ganz egal wo. Frauen haben in allen möglichen Berufen Spaß an der Arbeit. Arbeit ist nun mal Teil des menschlichen Lebens. Deswegen darf man das nicht denen überlassen die sagen: Geht wieder nach Hause.

Die Autorin Iris Radisch ist sehr aktiv und erfolgreich? Wie geht es der Leserin Iris Radisch. Haben Sie noch Freude am Lesen?
Radisch: Sehr, sehr viel. Ich lese ganz viel – und nicht nur weil ich muss. Für mich ist Lesen Lebensbestandteil. Ich habe keinen Fernseher, weil ich einfach die Zeit dafür nicht habe. Aber die Zeit, die der Fernseher mir erspart, die investiere ich voll ins Lesen.

Was denken Sie, welche Funktion Literatur heute – in einer medialisierten, schnelllebigen Zeit – noch haben kann ?
Radisch: Die Aufgabe ist natürlich die Entschleunigung, die Verlangsamung und vor allen Dingen die Intensivierung. Wenn es stimmt, dass der durchschnittliche Fernsehzuschauer an einer Sendung durchschnittlich vier Minuten teilnimmt, alle vier Minuten in ein neues Programm einsteigt, dann ist das Buch natürlich das ganze Gegenteil. Das Buch geht immer in die Tiefe, eröffnet immer ganz andere Zeiträume, andere Phantasieräume. Das Buch ist substanziell, auch als Gegenmittel gegen diesen Häppchenwahnsinn, den wir uns antun, der offengestanden uns ja auch krank macht – die Kinder sowieso, aber genauso uns Erwachsene. Es gibt viele Gegenmittel und das Lesen ist eins davon, das Familienleben ein anderes und es gibt sicher noch weitere: die Kunst und Freunde und vieles mehr.

Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Radisch: Als allerletztes habe ich „Die alltägliche Physik des Unglücks“ von Marisha Pessl, einer amerikanischen Autorin gelesen. Ein ziemlich geniales Buch, obwohl es auch ganz schnell und modern geschrieben ist – verrückt und so ein bisschen wie Nabokov, ein bisschen snobistisch fast. Das hat mir wahnsinnig gut gefallen. Es scheint mir auch so eine ganz neue Generation in der Literatur anzukündigen.

Was sagen Sie eigentlich zum diesjährigen Preisträger der Leipziger Buchmesse Ingo Schultze, den Sie auch in Ihrem Buchclub besprachen?
Radisch: Klasse! Ich habe „Handy“ im Buchclub sehr verteidigt, obwohl leider ein paar anderer Ansicht waren, was ich überhaupt nicht verstehe. Diese Kunst des Einfachen und Beiläufigen, die verstehen manche miss und sagen, dass ist so dahin geschrieben. Aber ich glaube, dass das eine hohe Kunst ist und dass er schafft, was so Wenige schaffen: Alltag, das Material unseres Lebens, kunstvoll aufzunehmen und nicht einfach abzuschildern. Seinen großen Wenderoman „Neue Leben“ mochte ich nicht so, der war mir zu verplappert. Aber diese Erzählungen finde ich großartig.

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